Gegen den Tag - Version 2.0 (April 2008)
Thomas Pynchons real-imaginäre Spiegelwelt Revisited
"In Wirklichkeit ist sie (die Mathematik) aber eine Wissenschaft, die die größte Phantasie verlangt." (Sofja Kowalewskaja, Briefwechsel)
Literatur ist seit James Joyce ein Kosmos geheim verbundener Orte, schräger Typen, alltäglicher Epiphanien, vor allem aber seltsam kontrafaktischer Beziehungen, die schon der Vater der Surrealisten, der Comte de Lautréamont, für das Wesen der Literatur schlechthin hielt. Das Paradigma des späten Romans ist der numinose Beziehungsrausch, der in seinen lichten Momenten das Wissen der Welt über sich selbst so aufscheinen lässt, wie es idealistische Identitätsphilosophien im göttlichen Weltreflexionsprogramm schon immer erkennen wollten. Thomas Pynchon, der große Unbekannte der amerikanischen Literatur, der Mann mit der medialen Maske, betreibt dieses Spiel so exzessiv wie kaum einer zuvor. Gegenüber den mimetischen Sprachspielen des „Dubliners“ ist Pynchons Magie der weiter reichende Versuch, in einem nicht beiläufigen Sinne harte Naturwissenschaften und Mathematik literarisch produktiv werden zu lassen, bis sich die Mikroverhältnisse der Quantenmechanik in die Makrowelt der Literatur transformieren – oder eben gerade umgekehrt.
Pynchons ins Deutsche übersetzte Mega-Opus “Gegen den Tag“ provoziert wie immer die (nun netztechnisch aufgerüsteten) Spekulationen und sich überstürzenden Adhoc-Exegesen, um was es denn diesmal eigentlich geht. Wie soll Pynchons Viele-Welten-Literatur nichttrivial beschrieben werden, wenn ihrem enzyklopädischen Konstruktionsprinzip nach kaum anzugeben ist, wovon es nicht handelt? Lesen wir eine Lichterzählung manichäischer Antipoden, die indes metaphyisch und physikalisch gewitzter ist, als sie das offizielle amerikanische Kreuzzugsmodell seit 2001 als realpolitische Fabel konstruiert? Eine der unzähligen Figuren dieses Romans bringt es dann auf den Punkt: „Eure ganze Geschichte in Amerika ist ein einziger langer Religionskrieg: geheime, unter falschem Namen daherkommende Kreuzzüge.“[1]
So erläutert der Autor den Antisemitismus nicht als ideologisches Phänomen, sondern energiepolitisch: Es handelt sich nicht lediglich um irrationale Vorurteile, mentale Verirrungen, sondern um eine gewaltige dunkle, aber konkrete Kraft, die den Motor politischer Einflussnahmen und Karrieren betreibt.[2] Oder geht es in Pynchons Gegenwelt um höhere Mathematik wie Physik in der Weise, dass ihre unanschauliche, nicht greifbare Wahrheit zum Formprinzip des seit je über den Gattungen schwebenden Romans entfesselt wird? Wenn Pynchon erzählt, präsentiert er textuelle Schaltungen, deren Schaltbilder elektrischen mehr als epischen gleichen, was ihm vermutlich auch die aufmerksame Lektüre Friedrich Kittlers einbrachte. Oder verbinden sich Zeitreisen, parallele Universen und Pulp-Fiction zur literarischen Wirklichkeit der dunklen, längst nicht ausgeloteten Materie unserer allseits sedierten Smartworld, die auf ihre wahre Entdeckung noch wartet? Für Pynchon ist klar, dass die Entdeckung der Welt längst nicht abgeschlossen ist und nun die Kolonisierung der Zeit bevorsteht. Den Titel “Gegen den Tag“ wählte bereits Michael Cronin, der 1998 eine alternative bzw. virtuelle Geschichte des Zweiten Weltkriegs veröffentlichte und damit einem Leitmotiv folgte, das auch für Pynchons imaginäre Spiegelkonstruktion verbindlich ist. “Counterfactuals”, jene Abweichungen von der uns geläufigen Welt und Geschichte, sind auch das auf vielen Erzählebenen entfaltete Thema von „Gegen den Tag“: "Glaube ja nicht….du seist mit deiner Aufnahme an Bord der Inconvenience in ein Reich des Kontrafaktischen entkommen."[3] Nein, es bleibt an Bord des fiktiven Luftschiffes „Inconvenience“ der fünf schicksalswilligen Aeronauten, der „chums of chance“, „Freunde der Fährnis“ unbequem, weil hier keine leichten Passagen in das frei schwebend Phantastische und schon gar nicht zurück auf den Boden archimedisch gesicherter Tatsachen zu erwarten sind. Wir stoßen in real-imaginäre Wirklichkeiten vor, die uns die Rekonstruktion dieser ideologisch angeschlagenen Welt, die unsere sein soll und doch wieder nicht, ihr aber durch geheime Spiegel verbunden ist, keineswegs erleichtern. Pynchon behandelt das „Imaginäre“, das so real entsteht, spöttisch bis ironisch. Für ihn gibt es eine Logik der Verwandlung der psychisch ungelösten Probleme in äußere Gegenstände. Der Leser Pynchons hat viel zu tun, die diversen Bedeutungsebenen auf ihren Wirklichkeitsstatus hin zuzuordnen, bis er vielleicht erkennt – und das ist nicht die geringste Frucht dieser Lektüre – wie fragil die Ausgangsbedingungen dieser, also auch seiner eigenen Wirklichkeit sind.
In einer Verwöhngesellschaft, deren kategorischem Imperativ zufolge alles, auch das Wissen, konvenieren soll und Suchmaschinen das Wissen portionieren, verlässt sich Pynchon also auf literarische Zumutungen, die ihm selbst lesewillige Chefkritiker nicht so leicht verzeihen. "Now single up all lines!" lautet das (nicht plausibel ins Deutsche übersetzbare) Eingangskommando des literanautischen Aufbruchs, das zugleich ein literarisches Signal für Leser und Autor selbst ist, alle Motivstränge im einem groß angelegten Versuch nun neu durchzuspielen, um unsere Welt in ihren Gegenwelten und imaginären Varianten zu spiegeln. Der Roman funktioniert selbst wie eine Art „Anamorphoskop“ oder „Paramorphoskop“, „weil es Welten offenbart, die neben derjenigen liegen, die wir bis jetzt für die einzige uns gegebene Welt gehalten haben.“[4]
Um welche Welt geht es genau? Den freiwilligen Angaben des Autors zufolge ist es die nichteuklidische Welt von Bernard Riemann[5], David Hilbert und Hermann Minkowski. Wir betreten den imaginären Raum Riemanns[6], auf dessen realen Spuren sich Thomas Pynchon angeblich sogar eigens in Göttingen zur Recherche bewegte. „Riemannien“ wurde phänomenologisch als ein Land beschrieben, dessen Topografie zwei jeweils verschiedene Ansichten eröffnet.[7] Die vierdimensionalen Landschaften werden mathematisch als Graphen der Riemannschen Zeta-Funktion behandelt. Darstellungstechnisch wird die Landschaft in einen "Realteil" und einen "Imaginärteil" geschieden. Berge und Täler dieser komplexen Landschaft verkehren sich, je nachdem, ob eine reale oder imaginäre Sicht der Dinge gewählt wird. Anders formuliert: Nach der Zeta-Funktion besitzen alle nichttrivialen Nullstellen der Funktion den Realteil ½. Mathematisch sind die „Nullstellen“, die etwas über die Primzahlenverteilungen aussagen, die aufregendste Orte, weil sie sowohl im Real- wie im Imaginärteil auf Höhe „Normalnull“ liegen. Damit wurde 1859 eines der bedeutendsten Probleme der neuen Mathematik formuliert, das Anfang des 20. Jahrhundes der deutsche Mathematiker David Hilbert in seine berühmte Liste der 23 (!) bis dahin ungelösten Probleme der Mathematik aufnahm. Seitdem reißen die Versuche, die Vermutung Riemanns zu lösen, nicht ab und vielleicht ist „Gegen den Tag“ der weitere Lösungsversuch eines „Zetamaniacs“, in diesem Land auch literarisch erfolgreiche Expeditionen zu wagen. Hoffnung, das Problem zu lösen, verbindet sich heute mit der Theorie des "Quantenchaos", also der Verknüpfung von Quantenmechanik und Chaostheorie, die für Pynchon verklammernde Leitmotive seines gesamten Werkes sind. Das unfassbar Reale und das idealisch Imaginäre spielen seit der Psychoanalyse in der Fassung Jacques Lacans eine eminent wichtige Rolle. Und ist denn der Phänomenologe des Weltgeistes wie der –seele, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, je etwas anderes gewesen als ein real-imaginärer Spieler mit der erstaunlich konvertierbaren Wortmünze „ist“? Also das treibt uns an, ohne hier auf festen Boden zu rechnen: Wo liegt das „Rückgrat von Wirklichkeit“?[8]. „Wirklichkeit oder Imagination“ ist eine kaum auszulotende Frage, so lange man interner Beobachter und nicht Gott ist. In Pynchons verrückenden Vektorrechnungen beginnen wir in einer realen Welt, die sich in einer imaginären Referenzwelt fortsetzt, um schließlich in der sogenannten Wirklichkeit als neue Person aufzutauchen. Zwischen realen und imaginären Ereignissen herrscht in den Nachtzügen von „Gegen den Tag“ so reger Verkehr, dass das imaginäre Objekt bzw. seine Beobachter nicht leicht zu lokalisieren sind. Wir brauchen auch hier eine Sphärologie[9], die uns die Bi- und Dislokationen, den Verlust der Bodenhaftung und real-imaginäre Raum-Zeit-Achsen erklärt und pragmatische Neubesinnungen eröffnet, wenn sich Zeit und Raum in einer vierdimensionalen Physik neu verfugen. Hier geht es indes nicht lediglich um eine technisch orientierte Metaphysik, sondern zugleich um sehr konkrete Veränderungen unseres „In-der-Welt-Seins“. „Webb Traverse” heißt der zu rächende Anarchist, der die Travestie einer virtuellen Öffentlichkeit signiert, die nun in einer privatistisch-öffentlichen, mithin konstitutiv schizoiden Netzsphäre eng in ihrem kommunikativen Autismus zusammenrücken soll. Professor Renfrew in Cambridge spiegelt sich – rückwärts buchstabiert - in Professor Werfner in Göttingen, der als Protagonist eines Spaltexperiments ein und doch nicht derselbe, mit sich selbst verfeindete Teil einer Riemannschen Sphäre ist.[10] So wird es der größte Wunsch von Lindsay Noseworth, nicht eins, sondern zwei zu sein, was den Begriff der multiplen Persönlichkeit, die doch für homogen konstruierte Gesellschaften eine unmögliche, also psychopathische Figur ist, positiv besetzt.
Thomas Pynchon verbindet in „Gegen den Tag“ zahllose Figuren (mit immer - bis zum Kalauer bereiten – sich selbst auslegenden Namen), Orte und Ereignisse zu einem verspiegelten System, das von geheimen Gesetzen zusammengehalten wird, die den paranoid geschulten Leser provozieren, sich in den ubiquitären Beziehungswahn zu stürzen. Ist Ostende deshalb als Turnierort für Schach beliebt, weil Belgien in internationalen Konflikten das erste Bauernopfer, wenn auch kein echtes Gambit ist? Solche grotesk luziden Erkenntnisse des Weltkonstruktionsuntergrunds verwandeln literarisch die „Riemannsche Mannigfaltigkeit“ bzw. den „Riemannschen Raum“, der eine gekrümmte Fläche bezeichnet, die unseren physikalischen Alltagsregeln nicht länger folgt, in spekulative Welten, die nicht regellos sind, aber ihre Gesetze nur hermeneutisch und hermenautisch gewitzten Mitreisenden verraten. In dieser Welt muss die kürzeste Strecke zwischen zwei Punkten keine Gerade sein, so wenig die Winkelsumme im Dreieck 180° beträgt. Literaturmathematisch kann also der von Krafft-Ebing beschriebene Hut-Fetischismus, der Mayonaise-Kult und Richelieus Import der spanischen Fliege nach Frankreich eine explosive Erkenntnis darüber bergen, welchen vektoriellen Regeln politische Konflikte folgen.[11] Oswald Spengler wurde Opfer satirischer Angriffe, weil seine kulturmorphologische Verknüpfungsmetaphysik einigen Zeitgenossen so kontingent bis tendenziell pathologisch erschien und er das als Wissenschaft praktizierte, was Thomas Pynchon zum literarischen Spiel der Anspielungen, zum Bedeutungssystem der Deutungen macht. Aber welche Rolle spielt dieser Textsortenunterschied schon bei Universalpoeten respektive Universalhistorikern? „Es gibt zitronengelbe Falter, es gibt zitronengelbe Chinesen; in gewissem Sinn kann man also sagen: Falter ist der mitteleuropäische geflügelte Zwergchinese. Falter wie Chinese sind bekannt als Sinnbilder der Wollust. Zum erstenmal wird hier der Gedanke gefasst an die noch nie beachtete Übereinstimmung des großen Alters der Lepidopterenfauna und der chinesischen Kultur. Dass der Falter Flügel hat und der Chinese keine, ist nur ein Oberflächenphänomen. Hätte ein Zoologe je auch nur das Geringste von den letzten und tiefsten Gedanken der Technik verstanden, müsste nicht erst Ich die Bedeutung der Tatsache erschließen, dass die Falter nicht das Schießpulver erfunden haben; eben weil das schon die Chinesen taten. Die selbstmörderische Vorliebe gewisser Nachtfalterarten für brennendes Licht ist ein dem Tatverstand schwer zugänglich zu machendes Relikt dieses morphologischen Zusammenhangs mit dem Chinesentum.“[12]. „Schanghaier Scharaden“[13], „chinesische Verwicklung“[14] bzw. „Eine Art chinesischer Situation, nicht wahr?“[15] kommentiert Pynchon dieses eigene Urdilemma verknüpfungswütiger Textschaltungen, die auf sich selbst angewandt, die Gattungsgrenzen sprengen und nur durch Komik erträglich bleiben: „Ach was, also ob Grenzlinien noch irgendeine Rolle spielten…“[16]
"But it's everything that matters," erläutert Chick Counterfly, einer der fünf Schicksalsgenossen, diesen aeronautisch durchmessenen Bedeutungsrahmen, der kein Weltmoment unschuldig unverbunden entkommen lässt. Es geht um alle Welterschließungsweisen, auch wenn sie aus kruden Quellen sprudeln, wie jene Heftchen-Stories der „Freunde der Fährnis“ mit ihren sprechenden Hund und Zen-Provokateur „Pugnax“, deren Abenteuer zu ironischen Referenzen einer Fiktion in der Fiktion werden. Auch der Geschichtenraum von Pynchonesien ist ähnlich offen wie weiland die Filmräume Michelangelo Antonionis, dessen widerstrebende Kamera sich längst nicht narrativ vom „plot“ terrorisieren ließ. Auf für uns imaginären Achsen erleben die „Freunde der Fährnis“, diese Serapionsbrüder einer verspäteten Moderne respektive frühvirtuellen Zeit, andere Geschichten, die nicht weniger real als die erzählten sind. Das Personal der Pynchon-Stories ist unabsehbar, fast jedes Mem reklamiert einen Sprecher für sich. In der metaphorisch konstruierten „Töpler Influence Machine” werden vermeintlich disparate Materialien kombiniert, um eine literarische Elektrizität zu spenden, die dann Pynchons unwahrscheinliche Gesellschaften auflädt: Geheimzirkel, dämonische Horden, skurrile Einzelne, die jenseits von Staat und Gesellschaft anarchisch autistische Existenzen führen. Diesmal lümmeln sich auch Zeitreisende aus diesem oder jenem (Parallel)Universum durch die Texte, die mehr oder weniger irritiert reagieren, wenn plötzlich Großereignisse wie Weltkriege „irgendwie“ fehlen. Viele Figuren Pynchons sind kognitive Stunt-Kommentatoren, die offensichtlich - auch oder gerade als Existenzen im Reich der schwarzen Materie – viel Fernsehen gucken, nachhaltig im Internet surfen und wie „idiots savants“ alles notieren – weil alles wichtig werden kann. Jede Marginalie hat einen Marshallstab im Tornister, um schon bald zu großer Bedeutung aufzuschließen. Oft wurde bei den Pynchon-Exegesen das Naheliegendste übersehen: Pynchon ist als Schriftsteller ein Sensualist durch und durch, er schildert unzählige Details, ergeht sich in Wahrnehmungssensationen, ohne darin zu kollabieren. Allerdings muss auch er damit rechnen, dass ihm das widerfährt, was Thomas Mann nicht mehr erlebte, aber Teile seines Werks in das Schattenreich der Antiquiertheit verschob: Seine großzügigen Exkursionen in die Reiche der Naturwissenschaften, denn literarische Früchte abgezweckt werden, haben ein Verfallsdatum, mitunter schon vielleicht bei Aufnahme der Reise. Literatur, die sich auf die „harten“ Wissenschaften mehr als nur metaphorisch einlässt, riskiert ihren „Daseinsgrund“.
So global, gewaltig, komplex und wissend Pynchons verschlungene Welt auch konstruiert ist, die Abwesenheit von Gesellschaft macht sie zu einer so nomadischen wie monadischen Sphäre, die den biografischen Erfahrungen dieses nichtexistenten Autors eignen mag. „Gegen den Tag“ entfaltet keine empathiefähigen Protagonisten, keine psychologisch ausdifferenzierten Persönlichkeiten, sondern ungewisse Entitäten, Triebschicksale, skizzenhaft geschilderte Stichwortgeber, von der Toilettenwand herunter gesprungene Graffiti-Männchen, die nun in allen Zungen Babylons reden wollen. Die multilinguale „Ars combinatoria“ wird auch diesmal wieder exzessiv in der Pornografie inszeniert - einer bizarren Hardcore-Mechanik, die Figuren mitunter ähnlich zusammenführt, wie es der Marquis de Sade vorführte, der sich zeitlebens redlich abmühte, den vergleichsweise einfachen Geschlechtsakt zur Architektur der Lust und grotesken Verschaltung der Leiber zu transformieren, um die Schöpfung durch den Verrat an sich selbst zu provozieren.
Jenseits der christlichen Schöpfung
„Was für Götter, was für Geschlechter, was für Welten standen im Begriff, geboren zu werden?“[17]
Die Schöpfung, die wir bei Thomas Pynchon erleben, ist eine so kontingente wie notwendige Welt, die zuletzt reklamieren will, die beste aller möglichen Welten zu sein, wenngleich Hoffnung - „der Gnade entgegen“[18] - besteht. Die christliche Zeit ist linear konstruiert, das „dicke Ende“ kommt bestimmt, alles läuft auf das Omega hinaus, was historische Wahrnehmungen wenig bedeutend erscheinen lässt. Ist demgegenüber die schamanische Wirklichkeit einer auf viele Dimensionen, die in einem „einzigen, zeitlosen Augenblick existieren“, verteilten Zeit nicht vorzugswürdig?[19] Fundamentalistische Sprüche des erzbösen Kapitalisten Scarsdale Vibe, die das Paradox der christlichen Feindes- wie Nächstenliebe aufwerfen, dass man die Bösen töten soll, wenn die Kinder des Herrn gefährdet sind, lesen sich vor unseren alltäglichen TV-Hintergrund als Kommentare zu den neokonservativen Ausritten in den nicht demokratiebereiten Orient oder zu den zündelnden Zornigen im Banlieue. „A Modern Christian´s Guide in Moral Perplexities“ macht uns im Angedenken von 9/11 klar, dass Religion in ihren Antinomien gewalttätig ist, wie es der anarchistische „Reverend Moss Gatlin“ schon mit seinem Namen belegt – nach dem ersten von Richard Jordan Gatling entwickelten Maschinengewehr[20]. Zuvor hatte Pynchon in „Gravity`s Rainbow“ nicht ausgeschlossen, dass die Vereinigten Staaten von Amerika zu den „kosmischen Formen von grobem Unfug“ gehören könnten.[21] „Der Nationalgedanke ist auf den Krieg angewiesen.“[22] Der Reverend fragt diesmal im Stil unserer rotbalkigen Boulevard-Aufklärung nach dem Schrecken, der endlich wieder eine leicht nachvollziehbare Freund-Feind-Kennung im Stile Carl Schmitts bereit hält: ",,..wie kann jemand eine Bombe zünden, die unschuldige Menschenleben fordern wird?" Pynchon erinnert sich an den Witz in Stanley Kubricks “Full Metal Jacket”: „Längere Zündschnur“[23]. Ist das Böse nur eine Funktion von therapierbaren Psycho- oder Soziopathien, wie wir es uns zur Beruhigung und Hoffnung erzählen? Oder gibt es das pure Böse, wie es Terry Giliam in „Time Bandits“ als satanischen Kohleklumpen durch die Küche rollen lässt? Muss man das Böse so ernst nehmen, wie es auch der Papst tut? Die Hölle wäre mehr als eine projektive Verlängerung unserer Schwierigkeit, das Böse zu erklären, sondern ein „irrtümliches Plasma aus Hass und Strafe“[24], das dann in vielerlei Gestalt den Menschen heimsucht. Überhaupt ist es das Anliegen dieses Dichters, die rein metaphorischen Reiche zu verlassen, um jene Zone zu erreichen, in denen die Dinge aus ihrer Schattenexistenz heraustreten, um so real zu werden wie die Anlässe, aus denen heraus Dichter schreiben. Mehr als auf Subjektivität und „mentale Transportation“, zielt Pynchons Reise auf „laterale(r) Auferstehung“ [25].
Gewaltbereite Anarcho-Individualisten, explosive Stirnerianer vor der Auffahrt in den „Anarchistenhimmel“ und mit und ohne Drogen angetörnte Freaks diverser Bauart sind die wilden Kerle eines Autors, der wie Friedrich Nietzsche virtuelle Souffleure für seine selbst gewählte Einsamkeit des literarischen Selbstgesprächs erfindet. Vielleicht gefällt sich Pynchon in narzisstischer Abwesenheit vor dem Spiegel der Medien, weil es, ob man nun Honoré de Balzac, Roland Barthes oder den Aborigines folgt, dabei bleibt, dass die fotografische Abbildung der Tod vor der Zeit ist – was zu jener grotesken Selbstverhüllungs-Geschichte führte, dass der Autor CNN ein kurzes Interview gewährte, um im Gegenzug zu erreichen, dass heimlich geschossene Fotos des Meisters nicht veröffentlicht werden. Thomas Pynchon ist also ein weiteres Gespenst der Geschichte, das von Marx und Engels über die Marx-Brothers bis hin zu Jacques Derrida und Peter Sloterdijk selbst postmesmeristischen Gesellschaften nicht auszutreiben ist. Ist der Schrecken der Gespenster ihre Botschaft aus der Zukunft, dass wir tot sein werden, fragt Pynchon. Sind sie mithin unsere vektoriellen Schattenexistenzen, mit denen wir uns selbst verfolgen? „Unsere eigenen Gestalten hafteten darinnen wie schwarze, hohle Gespenster, die keine Tiefe haben“, kommentierte Adalbert Stifter tief ergriffen die „Sonnenfinsterniß am 8. July 1842“, die vom „Tod des Lichtes“ (Hans Sedlmayr) handelt. Licht, Schatten und Dunkelheit sind auch die intrikat entfalteten Themen in „Gegen den Tag“. Wir reisen „clairvoyant“ von „Der Finsterzwerg“ über zwielichtige Erleuchtungen bis hin zur hysterischen Blindheit derer, die die „Inconvenience“ nicht mehr sehen können, die zum Ende des Romans hin groß wie ein kleine Stadt wird. Wenn man den „Kampf ums Dasein“ (Pynchon verwendet den deutschen Ausdruck) verliert, phantasiert man bloß noch, um zu existieren und wird damit zum Gespenst der Geschichte. Bei Pynchon werden solche Phänomene über ihren metaphorischen Charakter hinaus als genuine Wirklichkeit behandelt, wenn er etwa en passant den Physiologen Charles Bonnet (1720-1793) erwähnt, der das nach ihm benanntes CBS-Syndrom so beschrieb: Sehbehinderte sehen lebendige und komplexe Bilder, die ihnen als durch und durch real erscheinen. CBS tritt nicht als psychopathologisches Phänomen auf, sondern als eine organische funktionelle Behinderung, deren Phänomenologie darin besteht, dass der Kranke bizarre Bildwelten mit Geistern, Elfen, Cartoonfiguren, magischen Landschaften etc. wahrnimmt. Pynchons Gastauftritte in drei Episoden der Simpsons (Diatribe of a Mad Housewife, All's Fair in Oven War, Moe'N'a Lisa) machen ihn selbst zu einem cartoonesken CBS-Symptom und gewähren Mikro-Einblicke in ein selbst entworfenes Gespensterleben, das vielleicht den Fantasien des Romans zur „wirklichen“ Queen Victoria strukturell folgt. „Vic“ altert dort nicht wie ihr „ghostly stand in“ der Realgeschichte, sie wird gefangen gehalten von einem Herrscher der Unterwelt, immun gegen die Zeit und in ewiger Jugend. Einigen wie den venezianischen Malern ist es gegeben, Phantome zu sehen, die gegenwärtige nicht mehr sehen können – Phantome wie Pynchon, der in seinem alten Navy-Foto fixiert bleibt, das ihn als ewiges Gespenst der Literatur zeigt.
Für Leser und andere Tatzelwürmer
Mit „Gegen den Tag“ kehrt Thomas Pynchon zur komplexen Erzählarchitektur von „V“ und „Gravity´s Rainbow“ zurück und hat „Vineland“ bzw. die gemäßigte Mason-Dixon-Linie wieder verlassen. Es bleibt eine editorische Zumutung für den Leser, dass diverse Begrifflichkeiten nicht übersetzt werden, denn Pynchons kabbalistischer Hell-Dunkel-Diskurs gestaltet sich so polyglott, dass reine Übersetzungen ohnehin zu kurz greifen. Ohne ein ausführliches Glossar fehlt es aber auch der deutschen Übersetzung an ausreichenden Bordmitteln, um die Fahrt auf der „Inconvenience“ von einigen Irrungen und Wirrungen zu befreien. Die alte Frage, ob Kryptologie das genuine Medium der Hermeneutik ist, ließe sich zumindest im Horizont des editorisch gut betreuten Lesers entschärfen. Oh Herr, gib´ uns unseren täglichen Hyperlink heute![26] Nicht erst seit dem „Bargfelder Boten“, der sich ausschließlich der Entschlüsselung von Arno Schmidts späten Romanen widmete, weiß man um die Fährnisse unbewaffneter Lektüre. Während im alteuropäischen Murano[27] die Geheimnisse der Spiegel- und Glasmacher fanatisch gehütet wurden und Arbeiter wie Gefangene gehalten werden, gelingt es Niccolò dei Zombini nach Amerika, in das Land der Praktiker und Pragmatiker, zu fliehen. Doch Pynchon tritt die Rückreise an, weil das alte Spiel von Kodierung und Dekodierung, das etwa bei E.A.Poe zur Obsession wurde, der Königsweg der Welterschließung bleibt. Es ist keine auktoriale Marotte, die Welt bleibt ein Vexierspiel und immer neue Lichtschübe werden uns nicht darüber täuschen: „It´s always night, or we wouldn´t need light“[28]. Wie können wir dann wissen? Die Inschrift auf dem Grab von David Hilbert lautet: „Wir müssen wissen, und wir werden wissen.“ Vor einem Studium höherer Mathematik könnte es allerdings relativ sinnlos sein, dieses intrikate Wissen Hilberts oder die vierdimensionale Minkowski-Welt in Thomas Pynchons neuem Roman in allen Facetten aufzuspüren, wie es eine größere Anzahl von Rezensionen erweist, die sich bereits an der Komplexität des Werks zuschanden gelesen haben. „Zu viele Töne“ oder „zu viele Wörter“ bleibt die Sprache der schlecht kaschierten Ignoranz kulturbeflissener Feuilletons. Solche Lektüren verkennen, dass Pynchon nie weniger verhandelt als die ganze Welt und vielleicht sogar noch mehr…
Für die im Roman kurz aufscheinende Mathematikerin Sofja Kowalewskaja (1850-1891), die in Göttingen mit einer Arbeit über partielle Differentialgleichungen promovierte und die erste Mathematikprofessorin im Europa des 19.Jahrhunderts wurde wurde, schien es unmöglich, "Mathematiker zu sein, ohne die Seele eines Dichters zu haben". Nach dem Tod ihrer Schwester schrieb sie: „Alles im Leben erscheint mir so verblasst und uninteressant. In solchen Augenblicken taugt die Mathematik besser; man freut sich, dass eine Welt so ganz außerhalb unser selbst existiert.“ Pynchon folgt sogar der Theorie vieler Welten bzw. Universen, die dicht beieinander liegen und doch so diskret getrennt sind, wie er es am Beispiel eines Hotelbetriebs skizziert, der an Friedrich Wilhelm Murnaus Film „Der Letzte Mann“ von 1924 erinnert: Wir sind alle „chums of chance“, „Freunde der Fährnis“, die vom Schicksal von oben nach unten und zurück gewürfelt werden. „Gegen den Tag“ wird dabei zur Schnittstelle zwischen „God´s unseen world“ und der wirklichen Wirklichkeit, die nur mit einer Physik zu begreifen ist, in der die Zeit real und der Raum imaginär ist. Ohnehin ist das die wichtigste Idee im Roman, der nicht ein weiteres Experimentalfeld für Scifi-Zeitreisen sein will, sondern den bereiten Leser irritiert, dass der Raum – eingedenk der Definition des Augustinus[29] - mindestens so unfassbar wie die Zeit ist. Wenn wir uns nicht mehr als selbstverständlichste Wahrnehmungserfahrung intuitiv auf Raum und Gegenstände verlassen können, könnte die Zeit zu unserer Verbündeten werden, ein angemesseneres Wirklichkeitsverhältnis zu finden. In einer sehr schönen Idee fragt Pynchon, ob es denn, wenn es doch den neutralen Boden als politischen Begriff gibt, auch eine neutrale Zeit geben könnte, etwa eine Stunde, in der man ewig unangefochten verharren kann.
Elfriede Jelinek, Pynchon-Übersetzerin: „Es ist ein Witz, dass er den Nobelpreis nicht hat, und ich habe ihn. Ich halte Pynchon für einen der bedeutendsten lebenden Schriftsteller, weit vor Philip Roth übrigens. Ich kann doch den Nobelpreis nicht kriegen, wenn Pynchon ihn nicht hat! Das ist gegen die Naturgesetze...“ Pynchons Held „Traverse“ bekommt irgendwann den Rat, diese farcenhafte Existenz aufzugeben und sich wieder der wirklichen Welt zuzuwenden. Vielleicht hält sich ja der Autor selbst daran und taucht rechtzeitig zur Verleihung des Literatur-Nobelpreises auf. Ob in der realen oder imaginären Welt, das ist nur eine Frage der Beobachtung oder eben der Riemannschen Mannigfaltigkeit und die ist nun in diesem Roman so mächtig entwickelt, dass kein Weg mehr zurückführt. Allein das macht diesen Großentwurf wichtiger als die vielen lesbaren Bücher, die so durchschaubar um die Gunst der Leser buhlen und deshalb so durchschaubar geschrieben werden. Schon hat man Pynchon aus diesem Ressentiment heraus vorgeworfen, sich selbst zu parodieren, also ob es bei diesem oder irgendeinem anderen bedeutenden Autor je einen signifikanten Unterschied zwischen der Wahrheit und ihrer Parodie gegeben hätte? Pynchons größte Provokation bleibt, dass die trivialen Tatsachen und die tiefen, tiefen Geheimnisse des Universums nicht signifikant zu trennen sind oder sogar sich von dem einem zum anderen Bedeutungspol hin – und herbewegen, wie es nur jenen unheimlich erscheint, denen Dynamik als Teufelswerk erscheint und feste Hierarchien für ihre kleinen Begriffswelten benötigen. Möge der Leser also von einer „Kosmischen Offenbarung heimgesucht“ werden, die „wie Taubenscheiße vom Himmel“ herabfällt.[30] Mit anderen Worten: Pynchon is back! Auch für den deutschen Leser, wenngleich die relative Unbekanntheit dieses Autors in Deutschland der Beleg für eine Leseschwäche ist, die schon vor der Pisa-Generation grassierte.
Goedart Palm
[1] Gegen den Tag, Reinbek bei Hamburg 2008, (abgekürzt: GdT9, S. 1148.
[2] GdT, S. 1190.
[3] GdT, S. 21.
[4] GdT, S. 374.
[5] http://www.emis.de/classics/Riemann/
[6] GdT, S. 738 ff.
[7] http://www.math-it.org/Mathematik/Riemann/Riemannia_de.html
[8] GdT, S. 898, im Original deutsch, ATD 604
[9] Vgl. Peter Sloterdijk, Sphären Bde.1-3. Eine Trilogie.
[10] Die im Internet angelaufene Pynchon-Interpretationsmaschine verwies darauf, dass in Cambridge das Eisenbahnsystem 1845 gebaut wurde, das von Göttingen im Jahre 1854.
[11] GdT, S. 810 ff.
[12] Robert Musil, Essay: Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind
[13] GdT, S. 510.
[14] GdT, S. 1125.
[15] GdT, S. 773.
[16] GdT, S. 1125
[17] GdT, S. 213.
[18] GdT, S. 1596
[19] GdT, S. 216.
[20] Der Prediger Billy Graham veranstaltete "crusades" und hatte den nom de guerre „Maschinengewehr Gottes“. Vgl. auch „Billy Graham's Bible Blaster“ in der Simpsons-Folge „Ned Flanders: Wieder allein“.
[21] Thomas Pynchon, Die Enden der Parabel, Reinbek 1989, S. 1038.
[22] GdT, S. 1381.
[23] GdT, S. 133.
[24] GdT, S. 973.
[25] GdT, S. 645.
[26] Deshalb http://pynchonwiki.com/
[27] Vgl. GdT, S. 531 mit der Beschreibung perfekter Spiegel: „Der vollkommene Spiegel muss alles zurückwerfen…“.
[28] Zitat von Thelonious Monk als Motto des Werks.
[29] „Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es, will ich es aber einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.“
[30] GdT, S. 1248.
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