Irrgänge durch Mark Z. Danielewskis wuchernden Roman
Hätte die Moderne ein Wesen, was sie immer heftig geleugnet hat, läge es wohl darin, dass die Innenräume des Selbst wachsen und wuchern, bis das Selbst sich schließlich selbst unheimlich wird. Weltfremdheit und Selbstbewusstsein passen gut zusammen: „Ist nicht das Selbstbewusstsein das Rätsel der Rätsel? Haben nicht schon die alten Mystiker, Scholastiker und Kirchenväter die Unfasslichkeit und Undarstellbarkeit des göttlichen Wesens mit der Unfasslichkeit und Undarstellbarkeit des menschlichen Geistes erläutert, verglichen?“ (Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums). War zuvor die äußere Welt eine terra incognita, die mit Göttern und Teufeln, unheimlichen Kräften und verwandten Seelen bevölkert wurde, betrachtet sich nun das Selbst im Spiegel des Bewusstseins mit immer größerer Aufmerksamkeit, bis diese inneren Räume nicht weniger unendlich erscheinen als das zuvor beseelte Universum selbst. Innenwelten präsentieren sich mit höchst unterschiedlicher Ausstattung und es wird nicht die geringste Anstrengung der literarischen Sachwalter des „Esprit“, ihre inneren Salons so auszustatten, dass sie den äußeren an Weitläufigkeit und Raffinesse nicht nachstehen. Man wird sich in diesen wuchernden Innenwelten verlieren wie zuvor im tödlichen Labyrinth des Minotaurus und benötigt immer differenzierte Methoden der Selbst-Erfahrung, die nicht weniger Navigationskunst voraussetzen als jene, die die christliche Seefahrt für die Entdeckung der vorläufigen irdischen Unendlichkeit benötigt.
Eine solche weit verzweigte, unheimliche, geradezu terroristische Innenarchitektur präsentiert auch "Das Haus - House of Leaves" von Mark Z. Danielewski, das im Jahr 2000 in Amerika erschien und die nicht unüblichen Rezeptionen zwischen Verkultung und Unverständnis provozierte und nun in Deutschland in einer aufwändig typografisch gestalteten Übersetzung vorgelegt wird. So wie sich in diesem Haus archimedische Sicherheiten verlieren, so wird der Leser durch bizarr inszenierte Textsorten um seinen narrativen und orthogonalen Gleichgewichtssinn gebracht. Auf dem Kopf stehende Textteile, durchgestrichene Wörter, leere Textblöcke und komplementäre Schwärzungen, verkehrt laufende Lettern, die uns in das Schattenreich der Druckerschwärze entführen und die der Autor in einem Binnenkommentar so kommentiert: „Vielleicht handelt es sich hier ja bloß um einen durch den Verlag verschuldeten Druckfehler.“ Der Leser wird nicht nur in das Labyrinth einer kapriziösen Innenwelt entführt. Danielewski erzählt vielmehr aus der Perspektive von vier Erzählern, die mit höchst unterschiedlichen, nur bedingt erkennbaren Motiven und Interessen den Leser in die Geheimnisse des „Hauses“ eindringen lassen.
Der Protagonist „Will Navidson“ konstatiert mit großem Befremden, dass die Räume in seinem Haus eigenen Gesetzen folgen. Navidson, der fotografische Dokumentarist, wird mit einem physikalischen Fantasma konfrontiert, das ihn zugleich mit der Sinnfrage seiner bisherigen Weltsicherheiten konfrontiert. Das Haus vergrößert und verschachtelt sich innen wider jede Raumlogik. Innen- und Außenräume scheinen nicht mehr den gleichen Gesetzen zu gehorchen. Boris Vian hatte dieses, im eigentlichen Sinne ver-rückte Konstruktionsprinzip in umgekehrter Weise in seinen Räumen inszeniert, die nach und nach immer armseliger werden und den ökonomischen wie personalen Verfall des Besitzers dokumentieren. Diese Bauweise des „Haunted House“, das auch H.P.Lovecraft souverän beherrscht, erfasst bei Danielewski in dekonstruktiver Weise die Erzähler-Figuren. Zampanò berichtet über Navidson und in einem Satz verändert sich die Beobachtung der narrativen Kamera vom Objekt des Erzählens zum Subjekt. Die narrativen Strukturen selbst stehen also zur Disposition, im Herzen der Erzählung sitzen verschiedene Beobachter, die sämtliche Register des Erzählens und Kommentierens bis hin zu Johnny Truants pornografischen Exkursen ziehen. Und längst ziehen die Charaktere des Romans in das reale Leben ein wie eben dieser Johnny Truant, der nun als britische Metalcore-Band (In The Library Of Horrific Events) multipel weiterlebt.
Kein Beobachter kann in dem Text der Kon-Texte erfolgreich prätendieren, den Hauptstrang der Erzählung zu repräsentieren, weil sich alles in Subtexte fraktalisiert, die nicht nur für einen wie immer “bedenklichen” Pluralismus von Wahrheiten stehen. Das Geheimnis dieser Literatur ist die Verschachtelung von Bezugsrahmen, die für die kybernetischen Theorien zweiter und vielfacher Ordnung so wichtig wurden, weil kein Beobachter mehr reklamieren kann, einen göttlichen Standpunkt einnehmen zu können. Jede Lektüre ist wiederum ein neuer Rahmen oder – in der nicht mehr ganz frischen, aber raumorientierten Terminlogie der Antiödipalisten gesprochen - ein Rhizom mit wuchernden Strukturen, dessen vorzüglichste Eigenschaft es ist, beliebig anschlussfähig zu sein. Zeitgenossen sind dafür aufgeschlossener, seitdem das virtuelle Leben und Lesen auf seinen Hyperlink-Reisen zur größten Herausforderung jeder erzählenden Literatur wurde und die längst aus Überzeugung disparat mutierte Textsorte “Roman” an dem grassierenden Vernetzungswahn zu messen ist, um schließlich wie in dem “Haus” Danielewskis festzustellen, dass die normalen Raumverhältnisse längst nicht mehr unseren natürlichen Bewegungen zugrunde zu legen sind. Doch so wenig die Kameras, die in diesem “Haus” postiert sind, die unheimlichen Veränderung fixieren, so wenig gibt es kognitive und wenigstens narrative Standpunkte, die uns die alten zentralperspektivisch universalistischen Sicherheiten zurückgeben.
Friedrich Nietzsche hatte neue Philosophen und mit ihnen neue Räume angekündigt: „Mit der Kraft seines geistigen Blicks und Einblicks wächst die Ferne und gleichsam der Raum um den Menschen: seine Welt wird tiefer, immer neue Sterne, immer neue Rätsel und Bilder kommen ihm in Sicht.“ (Jenseits von Gut und Böse). Edgar Allan Poe war stolz, ein Meister der Dechiffrierkunst zu sein, der nicht satt wurde, Codes zu knacken. Arno Schmidt bastelte Etyme, die als polymorph perverse Un-Geheuer(chen) in Textmeeren auftauchten und zahllose Meisterexegeten zu immer neuen, sich überbietenden Auslegungen trieben. James Joyce, der Urvater der literarischen Chiffrierkunst, vergrub sich so sehr im Text, bis er in „Finnegans Wake“ zu einer kaum durchdringbaren Textur wurde: Die Literatur wird ab jetzt wie ein Flüstern vieler sich überlagernder Stimmen sein oder sie wird nicht sein. Das dunkle Rätsel, das auch das „Haus“ ausfüllt, setzt sich an die Stelle kanonisierter, aber leer gewordener Metaphysik, die – wenn wir dem Wort trauen – nichts anderes ist als eine unsere Raumwahrheiten transzendierende Wirklichkeit. Denn die vordergründig schockierende Nachricht, dass Gott tot ist, war augenscheinlich nur das fröhliche Intro zu einer literarischen Veranstaltung, Ersatz im Text zu finden. Voreilig wurde unsere Gegenwart als Informationszeitalter charakterisiert, als ob wir die Welt nur noch luzide durchdringen müssten, um zu uns selbst zu gelangen. Es ist eher die Zeit einer reflektierteren Raumphilosophie, die den Oberflächen nicht mehr zu traut und weiß, dass die Dinge den verspotten, der Maß an ihnen nehmen will. „Enigma“, die deutsche Chiffriermaschine, versus britische „Turing-Bombe“ belegen im Wort das eigentliche geopolitische Zwiegespräch der Moderne als ein tödliches Rätselspiel, das für aristotelische Proportionen keinen Sinn mehr hat. Tot oder lebendig, alles andere ist Quantenmechanik.
Wie geht man mit diesen unheimlichen Büchern um, die sich in einer imaginären, von Borges verwalteten Bibliothek versammeln? „In dem einen Bibelbuche ist alles enthalten und wird uns darinnen alles gelehret, jedoch dergestalt, dass es nur von den Erleuchteten kann verstanden werden; den andern sind es Parabeln und Rätsel und mit vielen Siegeln verschlossen.“(Agrippa von Nettesheim, Ungewißheit und Eitelkeit aller Künste und Wissenschaften). Das Werk von Mark Z. Danielewski ist eine weitere dieser apokryphen Bibeln, die nur dem Erleuchteten verständlich werden, so sicher auch wir Nichterleuchteten Nutzen daraus ziehen können. Was die Neophyten bei Thomas Pynchon lernen konnten, können sie nun bei Danielewski ein ums andere Mal demonstrieren, die hohe Kunst der endoskopischen Textrecherche, die hier zum virtuell aufregenden Gang durch eine multiperspektivische Erzähl-Architektur wird. Hatte nicht M.C. Escher die Logik ihrer Alogik, respektive die nichteuklidische Wahrheit dieser Räume unter Beweis gestellt, was vor allem deswegen so genial war, weil paradoxe Konstruktionen in bildlichen Erscheinungen schnell vom Alltagsverstand auf den Leisten des Normalen zurückgebunden werden. Doch so wie Eschers hinterhältig konstruierte Bilder diesen Versuchen, sie zurecht zu rücken und begehbar zu machen, aus wahrnehmungspsychologischen Gründen widerstehen, und das halten, was der Merz-Bau von Kurt Schwitters versprach, so gelingt es Mark Z. Danielewski seine Räume enigmatisch gegen jede Art von manifester Auslegung zu behaupten: „Dieselbe Technik, die uns lehrt, dem Bild mit Misstrauen zu begegnen, erzeugt paradoxerweise zugleich die Mittel, mit denen seine Glaubhaftigkeit bestätigt werden kann.“ Wer sich hier verirrt, kann sicher sein, zumindest keinen Fehler bei der Wahl seiner Lektüre gemacht zu haben. Ob er allerdings lebend aus diesem „Haus“ wieder herauskommt, das ist eine ganz andere Geschichte und letztlich nur eine Frage der Perspektive.
Goedart Palm
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