5/30/2008

"Der Fall Telekom erschüttert die Republik"

"Der Fall Telekom erschüttert die Republik", erklärt der SPIEGEL ONLINE am 30.05.2008 der Nation. Jeder möge sich prüfen, ob er denn erschüttert ist. Passiert nicht das, was wir ohnehin und nicht nur im Fall der Telekom jederzeit vermuten? Wir leben in einer Informationsgesellschaft, die obsessiv mit Daten umgeht. "Beobachtung" ist, wenn wir etwa der Soziologie folgen, das Paradigma der Gesellschaft bzw. der richtigen Erkenntnismethode schlechthin. Wir beoachten, Ihr beobachtet uns, wir beobachten, wie ihr uns beobachtet habt, ad infinitum. Das erschüttert niemanden, von der moralisch inszenierten Zwangsentrüstung einmal abgesehen. Dieser Antagonismus von informationeller Selbstbestimmung und Datenfetischismus ist längst aus dem Lot, ohne dass diese Tendenzen mit dem traditionellen Vokabular noch zu fassen wären. Niemand ist entrüstet, wäre es anders, gäbe es "YouTube" et. alii nicht.

5/29/2008

Harald Schmidt & Oliver Pocher

Zugegeben, Harald Schmidt hat mich nie sonderlich interessiert, der Humor erschien mir zumeist zu kalkuliert und wer zudem noch Gagschreiber beschäftigt, könnte selbst ja erheblich weniger komisch sein als seine oder wessen Witzchen. Doch Schmidt besitzt Rhetorik. Er formuliert Sätze und glaubt an das Apriori, dass er komisch, pointiert oder zumindest präsent sein wird. Dieses Apriori verleiht ihm Kraft, oder auch umgekehrt. Pocher ist unsicher, von der ersten Minute an. Konserven gelingen ihm, doch in der Show selbst kommt er vom Image des eher unbeholfenen Lehrlings nicht weg. Seine Witze haben die mitlaufende Frage: "Findet ihr das komisch?" Und Pochers ehedem präpotente und heute wenig prägnante Rhetorik lässt diese Frage nicht rhetorisch zur Pointe aufschließen. Er weiß offensichtlich nicht mehr, was er von sich selbst halten soll. Viel hält er wohl nicht von sich, zumindest nicht neben Schmidt, der doch durch einen jugendlichen Provokateur gelockt werden könnte. Hier jedoch findet keine Begegnung statt, es erscheint nicht einmal einstudiert, sondern hier sind zwei, die ein Programm absolvieren und die Unsicherheit des einen beschädigt die relative Souveränität des anderen. Erstaunlich, dass dieses Duo seine eigene Daseinsberechtigung nicht längst selbst bezweifelt und Konsequenzen zieht.

5/27/2008

Transzendentalphilosophie

Screamin' Jay Hawkins: „Ladies and gentlemen, most people record songs about love, heartbreak, loneliness, being broke... Nobody's actually went out and recorded a song about real pain. The band and I have just returned from the General Hospital where we caught a man in the right position…” Dieses Lied handelt vom konkreten Leiden. Wie buchstabiert man Leiden? Eine Geschichte des Denkens könnte von der Transzendenz handeln. Metaphysik heißt schmerzloser Zustand, was jenen sinnenfernen Denkern nie recht auffiel. Wer transzendentale Bedingungen festlegt, will schmerzfrei werden, über den Verhältnissen schweben. Sollte Philosophie unter sinnlichen Bedingungen zustande gekommen sind, die wir als Leser zu schnell ausblenden? Nietzsche schrieb praktisch immer unter Schmerzen. So hat er selbst die Farben danach ausgewählt, ob sie beruhigen oder weh tun. Zarathustra wählt grün, weil rot oder gelb den Kopfschmerz wahrscheinlicher macht. Schmerzen als Denkanlass. Schmerzvermeidung als Motiv. Also soll man nicht nur unter Schmerzen gebären, sondern auch denken. Wer wüsste, dass er immer schmerzfrei wäre, könnte nicht denken – freilich ist es ein Paradox, denn wer weiß, was Schmerzen sind, muss selbst welche gehabt haben (Vgl. Wittgenstein). Unser Fazit: die großen idealistischen Systeme sind Schmerzvermeidungssysteme. Die Idee kennt keine Schmerzen, sodass Menschen sich in ihr vom realen Leiden erholen. Mit einem Wort: Transzen Dental Philosophie.

Zu diversen Denkern siehe die Virtuelle Textbaustelle >>

5/26/2008

Das Tao des Warren Buffet

Das Tao des Warren Buffet? Früher gab es schon Taoisten an der Wall Street, aber der obige Titel ist schon wieder einsatzfähig, weil das Gedächtnis der Mediengesellschaft, so lange es von Menschen dominiert wird, extrem schlecht ist. Witze werden wieder bartlos. Also auch dieses Tao, was nur die eitle Nobilitierungssucht einer Kaufmannsgesellschaft belegt, die Weisheit da verankert, wo ihre Weisheit eben liegt - oder auch nicht. Wer Geld macht, ist weise. Das Tao des Geldes, so banal wie ein Ying-Yang-Symbol für einen Geldspielautomaten. Der Prozess des Abfalls von vormals als geistig gehandelten Werten ist viel weiter gediehen, als man sich das eingestehen wollte. Das wäre gut zu verschmerzen, wenn nicht die Wiederkehr dieser Werte auf der Schwundstufe ihrer Bedeutung drohte. Reicht es nicht, Warren Buffet zu bescheinigen, dass er eine Intuition für kapitalistische Gewinne hat? Warum muss das ohnedies schon trivialisierte Tao nun auch noch an diese Front der Mammonitis? Wir leben noch tief in Talmi-Welten. Möge uns der Titel erspart bleiben: Mit dem Tao gegen semantische Armut.

5/25/2008

Phantasialand - wirklicher als die Wirklichkeit?

Für Jean Baudrillard ist Disneyland das reale Amerika. Zu sagen, das Phantasialand bei Brühl sei die Realität,wäre eine blasse postmoderne Geste. Doch etwas ist in Baudrillards Diktum auch hier zu retten: Denn der in den sechziger Jahren gegründete Märchenpark existiert nicht mehr, hier geht es zuvörderst um Dynamik, Geschwindigkeitserlebnisse, die alles in den Schatten stellen sollen, was sonst verfügbar ist: "Als Schatzsuchende von Talocans Sonnenstein erfährt man dessen
Macht und Stärke in einem wahren Wirbel durch die Atmosphäre." (Werbetext Phantasialand). Es geht nicht um die abstrakte Differenz "Wirklichkeit/Unwirklichkeit" oder "echt/simuliert", sondern um Bewegung als Beweis für Wirklichkeit. Wenn Deine Sinne in einen Bewegungs- und Wahrnehmungsrausch geraten, muss diese Welt existieren. Das ist der neue dynamische Existenzialismus, gleichermaßen frei und identitätslos. Es wäre psychologisch müde, hier nach latenten Todessehnsüchten zu fahnden, als ob jeder Rausch durch sein Ende zu bestimmen wäre. Ob der Rausch Ewigkeit will, ist nicht zu entscheiden. Es geht hier um postmetaphysische Zustände, Transzendenz im wahrsten Sinne des Wortes, Schweben über den Dingen. Mehr vermag Phantasie nicht und deshalb trägt dieser Ort seinen Namen zu Recht und jede altbackene Kulturkritik kommt hier um Längen, wenn nicht Lichtjahre zu spät.

5/24/2008

Zum Paradox ästhetischer Bewertung

Nachdem die ästhetische Bewertung als normative Kategorie abgeschafft worden war,schien diese Frage zum "arcanum" der Ästhetik zu werden. Warum einer wusste, dass es diese und nicht jene Kunst war, die zu achten, zu beachten sei, war Teil einer Auguren- bzw. Geheimwissenschaft. "Kunst" als System muss diese Frage nicht mehr stellen. Es ist völlig gleich-gültig, welche Objekte Kunststatus genießen, so lange gewährleistet ist, dass es solche Objekte gibt, sie zirkulieren, also interpretiert und verkauft etc. werden können. Wenn dieses System stabil ist, können sich die Teilnehmer wieder ästhetische Kriterien, die zuvor keinen Geltungsanspruch gehabt hätten, leisten. Das ist das Paradox: Die Kunst verliert verbindliche Werturteile, zirkuliert nur noch um sich und nun können die vormals obsoleten Kriterien wieder eine neue alte Bedeutung gewinnen. Die demontierte Ästhetik erlaubt wieder privatistische Anwendungen, simple Geschmacksurteile: "Ich mag dieses oder jenes." In dieser Wandlung besteht selbst die Möglichkeit, dass Ästhetisierungen im Sinne eines verfeinerten Geschmackurteils wieder zulässig werden. In der Selbstreproduktion der Kunst, die letztlich nur darin besteht, Kunst von Nichtkunst kriterienlos zu bestimmmen, dürfen auch ästhetische Werte, ohne sich exponieren zu müssen, wieder eine Geltung reklamieren.

5/23/2008

Eurovision Song Contest - Ein bisschen einschlafen, ein bisschen ausschalten

Die Vision liegt auf der Hand (Ohren zu!): Wenn dieser Contest selbst nicht mehr die Chance hätte, als Marginalie beachtet zu werden, könnten wir von avancierter Medienkompetenz sprechen. Ein Musikwettbewerb, der nicht trennscharf von einer Sportveranstaltung zu unterscheiden ist und Musik als Inszenierungsspektakel verramscht, hat keinen Anspruch, der zu rechtfertigen wäre. Spricht etwas dagegen, diese Veranstaltung in den Diskussionszusammenhang "Gewalt und Medien" einzubeziehen?

5/22/2008

Germany's next Topmodel - by (wie übersetzt man das?) Heidi Klum

Germany's next Topmodel. Nicht der anglophone Klang stört uns, sondern der Umstand, dass nichts, aber auch gar nichts mitzuteilen ist. Das Drama will nicht gelingen, weil es im Prinzip so aufregend wie die Frage ist, wer das nächste Schuljahr wiederholt. Das Fatum wird als beherrschbar geschildert, wenn nur die Leistung stimmt. Das ist die älteste Mär dieser Gesellschaft, wie unzählige Katastrophen lehren, fundamental unrichtig. So also sollst du Schönheit als Leistung internalisieren, was wiederum wunderbar paradox ist. Schönheit, das ungerechte Geschenk, wird über das Leistungsprinzip mit der Gerechtigkeit kurzgeschlossen. So stimmen die Werte wieder überein, innere wie äußere werden synchronisiert. Selbstverständlich ist das die Ideologie schöner Menschen, die anders Selbstverständnisprobleme hätten, weil ihre Leistung keine wäre. So aber steht Heidi Klum für ein Prinzip, das weiland Fabrikherren oder arrivierte Tellerwäscher vertreten haben. Es geht, mit einem Wort, um einen Verlust: Den Verlust der begründungslosen, nicht rationalisierbaren Schönheit und der Ungerechtigkeit einer Welt, die einige schön und andere nicht sein lässt. Heidi Klum will das vergessen machen, was das Format so bedürftig werden lässt, dass dessen Zukunft auch ohne prophetische Gabe erahnt werden kann.

YouTube - Stimmen der Vergangenheit

YouTube - das Stelldichein historischer Figuren. Ist es nicht großartig, Namen wie Adorno, Heidegger, Marcuse, Luhmann einzugeben und schon stehen sie wieder auf?

Das wahre Wunder der Religion

Eine Religion, die durch ihre Repräsentanten verkünden lässt, sie wäre dialogfähig, muss als das wahre Wunder beschrieben werden. Denn seit wann reden Götter miteinander?

Interkulturelle Website-Forschung

"Interkulturelle Website-Forschung" ist ein Thema an deutschen Universitäten. Dass sich Wissenschaftsbetriebe selbst unterhalten, soll nicht als Standardeinwand gelten. Signifikanter erscheint uns hier der Begriff der Forschung, dessen Fragilität mit der Flüchtigkeit seines Untersuchungsgegenstandes wächst. Bereits der Begriff der "Interkultur" ist schwer fassbar, eingedenk des Umstands, dass Niklas Luhmann seinen Begriffsversuch "Interpenetration" nach der (voreiligen?) Schöpfung nicht mehr prominent einsetzte. Dem Begriff der "Kultur" ist trotz des Eigensinns kultureller Manifestationen das "Inter" eingeschrieben. Mit einem Wort: Kultur ist promisk. Promiskuität der Kultur kombiniert mit dem Tempo der Globalkultur lässt Interkultur als Marginalie erscheinen. Ist die Kultur bis zur nicht Nichterkennbarkeit beschleunigt, gilt das mehr noch für Websites, die vielen Trends folgen. Doch schlimmer: Sind Websites, die heute wie ein virtuelles Gegenstück der "Immobilie" erscheinen, zukünftig noch zentrale Orte virtueller Begegnung? Wie immer die Antwort ausfällt, kaum kann man sich vorstellen, dass dann die interkulturelle Website-Forschung kognitiv flankierend auftritt, wenn sich Verhältnisse verändern, die kaum als solche beschrieben werden können, weil sie sich nie dauerhaft "verhalten" hätten.

5/21/2008

Politik und Notwendigkeit

"Warum Deutschland Gesine Schwan braucht", textet Spiegel Online am 21.04.2008. Wer hat da noch Lust weiterzulesen? Im Blick auf Verfassung, Staat und Gesellschaft wäre es bereits lohnenswert, über die Funktionen des Bundespräsidenten nachzudenken. Politische Bedeutung in einem konkreten, angebbaren Sinne will man keinem attestieren, was freilich gegen den allgemeinen Sinn des Amts wenig sagt. Nur, ist bereits die Bedeutung des Amts fragil und will man keinen Bundespräsidenten vor anderen loben, wird die Begrifflichkeit der politischen Notwendigkeit schal. Demokratie heißt im besten Sinne, dass Politiker ersetzbar sind. Ob nun Herr Köhler oder Frau Schwan, das kann uns politisch nicht allzu sehr berühren.

Dazu mein "Klassiker" >> Journalismus und Mediendämmerung >>

Ferner auch: Die Banalität der Guten
Goedart Palm 20.09.2009

Politik in den Zeiten von Pest und Cholera

Jeder dritte Deutsche mit seiner beruflichen Tätigkeit unzufrieden

Diese jüngst veröffentlichte Statistik, so sie denn richtig sein sollte, verwundert doch. So hätte ich angenommen, dass 90 % Prozent der arbeitenden Bevölkerung unzufrieden sind. Denn die Traumjobs sind es meistens nur für kurze Zeit und die Arbeit für andere mag nicht schänden, aber es bedarf keiner Fantasie, sich Schöneres vorzustellen. Wahrscheinlich kommt es hier, wie immer bei Umfragen, auf die Fragetechnik an. Denn wer hätte für sich nicht mehr in "petto" als das, was diese Welt für ihn bereit hält. Vielleicht also muss die Frage lauten: "Könnten Sie sich eine andere, einflussreichere (wahlweise: höher dotierte, höher angesehenere etc.) Position vorstellen? Da wären wir doch ein einig Volk von Brüdern und Schwestern. Wer wäre nicht bereit, wenigstens als Frühstücksdirektor seine Mitmenschen glücklich oder unglücklich (Bentham zählt das Übelwollen bekanntlich auch zu den Glücksmöglichkeiten)zu machen.

5/20/2008

Zahnschmerzen und Theodizee

Auch kleine, aber körpernahe Katastrophen können Theodizee-Fragen in eben der Hartnäckigkeit aufwerfen, mit der Schmerzen quälen. Es ist erstaunlich, dass die beste aller möglichen Schöpfungen Zahnschmerzen kennt. Man rationalisiere das nicht, Schmerzen sind gegenüber Rationalisierungen absolut unempfindlich. Ein Rationalist erfindet jedenfalls keine Schmerzen. Quod erat demonstrandum.

Kultur als Selbstinszenierung

Kultur trägt man wie einen Orden. Man oder Frau werden Kulturträger. Das setzt etwas Bildung voraus, aber nicht zuviel. Fakten sind wichtig und einige ästhetisch leicht nachvollziehbare Kategorien helfen weiter. Kultur dieser Art schafft Verbindlichkeiten und angenehme Gespräche. Der Causeur als Wille und Vorstellung. Diese Kultur ist sozialer Kitt, daher nicht einfach zu verwerfen. Kultur als Krisis, Kultur als Kampfbegriff findet sich in diesem, immer noch hoch verbreiteten Kulturbegriff nicht. Ein Irrtum wäre es, diese Art von Kultur, ich kenne Goethe, du kennst Goethe, mit Identität zu verwechseln. Dekor ist längst keine Identität. Und wahrscheinlich sind Kultur und Identität antiquierte Begriffe, die funktional reformuliert werden müssten.

5/17/2008

Radio Moral Pandora

BAP ist seit je Betroffenheitslyrik. Wer leidet so authentisch? Nun hört man, die Helden von "Radio Pandora" wären ganz anders als die Unterhaltungsartisten, die uns weich gespülte Musik in die Ohren träufeln. Wenn es schon unangenehme Themen sein sollen, dann fragt man sich vergeblich, warum die Musik von BAP nicht unangenehmer klingt? Es ist just dieselbe Radiomusik, die man verachtet. Anders sehen das auch die Redaktionen nicht, die von kritischer Musik sprechen und die von BAP inszenierte Differenz mehr oder weniger augenzwinkernd mitmachen. Wolfgang Niedecken ist einsatzgenau betroffen. Das sollte uns betroffen machen, weil doch Authentizität nicht dem Taktstock folgt. Stellt euch vor, Radio Bremen übeträgt und einer, vielleicht Niedecken, würde sagen, ich bin gerade nicht betroffen. Warum der Musikcode mit dem Moralcode verbunden wird, mag gute Gründe haben, nicht zuletzt ist es der Grund, zunächst problemlos den Gutmenschen zugerechnet zu werden. Es ist moralisch, moralisch zu sein. Das erspart ethische Reflexionen und beim Singen kommt es doch ohnehin zuvörderst auf das "Gefühl" an. Warum aber Moral, wenn es doch Gefühl ist? Letzte Hypothese: Radio Pandora et alii sind totale Gleichschaltungen von Moral, Musik und Gefühl. Und das das soll wahrhaftig sein?

5/16/2008

Nachrichten, verstreut

Wäre gegenüber der Presse zu moralisieren, lautet der Hauptvorwurf, dass die Welt auch da gleich gemacht wird, wo sie es nicht ist und nie sein dürfte. Doch hier regiert das alte Dilemma des Gleichheitsgrundsatzes. Sind politische Nachrichten wirklich wichtiger als Sportnachrichten? Wo finden wir einen übergeordneten Wert oder eine unhintergehbare Funktion, die hier Prioritäten gebietet? Vielleicht bilden allein Medien die Wahrheit des Gleich-Gültigen ab und alle Kritik bestätigt nur dieses Prinzip. Prioritäten sind gerade im Nachrichtengeschäft ein seltsamer Fetisch, als ob diese Nachricht wichtiger als jene wäre. Prioritäten mag der Leser bilden...

Blografie am Ende der Galaxis

Die Entdeckung einer Textlandschaft, die noch nicht vermarktet, verlegt und vermessen ist. An der Peripherie eine unendliche Architektur, für die noch kein Name existiert. Die meisten Blogs sind Kioske mit durchschnittlicher Handelsware.

5/15/2008

Pictures Lost II

Webdiarium von Goedart Palm

Von der Propaganda zur Wirklichkeit und wieder zurück

"Sowohl Chinas KP als auch Exil-Tibeter füttern die Diskussion mit ihren Argumenten - SPIEGEL ONLINE zeigt, was Propaganda und was Wirklichkeit ist", schreibt eben dieser. Wie immer haben wir keine Probleme mit dem Paradox, denn wenn man die Propaganda doch entlarvt, ist sie vielleicht keine mehr. Und wer weiß, was Wirklichkeit ist, das ist ohnehin ein Gott. Conclusio: Dieser Anspruch bestreitet sich selbst, weil er den Umgang mit dem Paradox ausschließt und somit selbst zu der Propaganda gehören könnte, die er austreiben wollte. Redlicher wäre es zu sagen: Wir wissen nicht, was wahr ist, aber wir haben eine starke Vermutung in diese oder jene Richtung. Daraus allerdings schlägt man keine Schlagzeilen.

Klaus Kinski Revisited

Man kann Klaus Kinski individualpsychologisch betrachten, irgendwo auf der Grenze vom Choleriker zum Maniac. "So sind Künstler eben." Nimmt man ihn als den personifizierten Widerwillen gegen die eingerichtete und gehegte Kultur wahr, wird er zu einem Typus, den wir alle von uns kennen. Villon und die Surrealisten sind dann keine zufälligen Assoziationen mehr, zum wenigsten Breton, der diesen unbändigen Hass gut kannte. Kinski ist ein antisozialer Gestus, der weiterhin seine Daseinsberechtigung besitzt, so töricht die Details sind, mit denen er diskursive Zuhörer schnell langweilen kann.

5/12/2008

Der Untergang

Marzipan ist mein Untergang (Helmut Kohl) - Zur Differenz von Untergangstypen autoritärer und liberaler Staatsformen

5/08/2008

Verbreiterhaftung

Darüber hat die virtuelle Mediengesellschaft noch einige Zeit zu grübeln: Hält man intransigent an einem Wirklichkeits- und Wahrheitsbegriff fest, der zu verteidigen ist, zum höheren Gedeihen gesellschaftlichen Friedens? Oder geht es hier um den Hasen und den Igel? Also kann jeder Unfug, den ich verbreite, gegen mich gekehrt werden? Hier fehlen längst noch, auch und gerade in der Rechtsprechung, notwendige Unterscheidungen. Indirekte Diffamierungen, im Schutz der Presse- und Meinungsfreiheit segelnd, sollte man ausschließen können. Journalisten sind aber keine mit allen Mitteln ausgestattete Wahrheitsagenturen. Nicht jede Aussage, die vermittelt wird, kann auf ihren Aussagegehalt überprüft werden. Die beste Lösung bestünde darin, Grenzen nach unten zu setzen. Weitreichende Aussagen, die geeignet sind, die Integrität eines Dritten nachhaltig zu schädigen, sollten vor der Publikation geprüft werden. Das beantwortet aber längst nicht die Frage nach Art und Umfang der Haftung. Wenn Journalisten im Milieu der Strafandrohung arbeiten müssen, dürfte der Berufsstand demnächst aussterben.

Artificial Intelligence

"Buffett" - Vorschlag der Rechtschreibprüfung von "word": Bussfett. Jetzt weiß ich, dass KI keine Chimäre ist

Ein Superlativ, den wir nicht mehr zu hören wünschen

Manfred Lütz "Gott - Eine kleine Geschichte des Größten". Wenn ich Zeit hätte, würde ich ausführen, warum mir diese Art insinuierender Apologetik unerträglich ist. Von größter Klarheit dagegen: "Der Gotteswahn" von Richard Dawkins, basta.

5/07/2008

Zum Code "Monster/Mensch"

"Der dünne Lack der Zivilisation" textet der Spiegel zu der Horror-Story des Josef Fritzl. Diese Metapher verfehlt die Geschichte des kleinbürgerlichen Verließ-Herrn. Letztlich geht es um ein Herrschaftsmodell, das die Familienbande so wörtlich nimmt, wie es die Semantik verheißt. Diese Kellerfantasie gibt es in zahlreichen harmloseren Varianten der Abschottung der Kleinwelt gegen die große Welt da draußen. Kleinbürgerlichkeit heißt, die Welt auszuschließen, um wenigstens die Herrschaft über die Familie zu sichern. "In vain", wie es nicht nur die unselige Geschichte des Joself Fritzl demonstriert. Das Zivilisationsargument muss umgekehrt werden: Zivilisation heißt Herrschaft auszuüben, Inhumanität respektive Grausamkeit sind ihre "natürlichsten" Ingredienzen. Also kein Lack, sondern die Zivilisation selbst.

5/04/2008

Die Antiquiertheit der Anne Will

Und sie diskutierten und sie diskutierten und sie diskutierten. Auch über die Zukunft der Talkshow von Anne Will. Diese Talks (so to speak) sind ziemlich langweilig aus zwei Gründen: 1. Die Themen sind schlecht ausgewählt, das ließe sich brisanter und selektiver behandeln. 2. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Politik im Konzept dieser Sendung nicht reflektiert wird. So entsteht ein dröger Ernst, der das Politik-Spiel so inszeniert, wie es im seriösen Selbstbild erscheinen will. Das interessiert aber keinen und dieses Wissen um das Desinteresse des Publikums sollte sich in den Redaktionen verbreitet haben. Politikinformation muss mindestens untergründig davon künden, dass es hier um Parodien geht. Wenn das nicht kommuniziert wird, hat man keine Zukunft.

Goedart Palm, der sicher nicht mehr einschaltet.

Dazu mein "Klassiker" >> Journalismus und Mediendämmerung >>

Ferner auch: Die Banalität der Guten
Goedart Palm 20.09.2009

Politik in den Zeiten von Pest und Cholera

5/03/2008

Zettelkasten

Bald verschwinden die Festplatten und Zettelkästen: Das Netz ist eine globale Festplatte. Meister dieses Systems werden die Verweisungskünstler sein, die kleinen menschlichen Servoeinheiten, die die Zwischenräume bespielen. Das Prinzip der freien Assoziation wird zu einem fatalen Beziehungsgeflecht, dem kein Teilnehmer mehr entrinnen kann.

5/02/2008

Früher begann der Tag mit einer Fehlermeldung...

Zitat: "Windows konnte vorübergehend nicht vom Festplattenlaufwerk lesen. Bei diesem Problem handelt es sich um einen häufig auftretenden Fehler, daher ist es nicht möglich, den genauen Grund für das Problem aus dem Fehlerbericht zu ermitteln. In den meisten Fällen handelt es sich hierbei um ein vorübergehendes Problem, das ignoriert werden kann."

Die erstaunlichste Wendung im Umgang mit neuen, neuesten Medien ist doch die: Wir ignorieren "vorübergehende" Probleme, da wir wissen, dass wir zu wenig wissen, um jedes Problem zu erkennen. Hätte früher ein Automechaniker gesagt "Das Auto hat einen Fehler. Aber solange es nur selten ausfällt, würde ich den Fehler ignorieren", hätten wir diese Aussage für ein Zeichen seiner Inkompetenz angesehen. Heute leben wir in einem Meer von Fehlern, die wir wie "moderaten" Hautausschlag ignorieren. Diese Medienwelt ist also imperfekt, was Leibniz zum Überdenken seiner seit je kühnen bis unhaltbaren These veranlassen sollte. Es ist die fragilste aller möglichen Welten. Goedart Palm

5/01/2008

Thomas Pynchons real-imaginäre Spiegelwelt Revisited

Gegen den Tag - Version 2.0 (April 2008)

Thomas Pynchons real-imaginäre Spiegelwelt Revisited

"In Wirklichkeit ist sie (die Mathematik) aber eine Wissenschaft, die die größte Phantasie verlangt." (Sofja Kowalewskaja, Briefwechsel)

Literatur ist seit James Joyce ein Kosmos geheim verbundener Orte, schräger Typen, alltäglicher Epiphanien, vor allem aber seltsam kontrafaktischer Beziehungen, die schon der Vater der Surrealisten, der Comte de Lautréamont, für das Wesen der Literatur schlechthin hielt. Das Paradigma des späten Romans ist der numinose Beziehungsrausch, der in seinen lichten Momenten das Wissen der Welt über sich selbst so aufscheinen lässt, wie es idealistische Identitätsphilosophien im göttlichen Weltreflexionsprogramm schon immer erkennen wollten. Thomas Pynchon, der große Unbekannte der amerikanischen Literatur, der Mann mit der medialen Maske, betreibt dieses Spiel so exzessiv wie kaum einer zuvor. Gegenüber den mimetischen Sprachspielen des „Dubliners“ ist Pynchons Magie der weiter reichende Versuch, in einem nicht beiläufigen Sinne harte Naturwissenschaften und Mathematik literarisch produktiv werden zu lassen, bis sich die Mikroverhältnisse der Quantenmechanik in die Makrowelt der Literatur transformieren – oder eben gerade umgekehrt.

Pynchons ins Deutsche übersetzte Mega-Opus “Gegen den Tag“ provoziert wie immer die (nun netztechnisch aufgerüsteten) Spekulationen und sich überstürzenden Adhoc-Exegesen, um was es denn diesmal eigentlich geht. Wie soll Pynchons Viele-Welten-Literatur nichttrivial beschrieben werden, wenn ihrem enzyklopädischen Konstruktionsprinzip nach kaum anzugeben ist, wovon es nicht handelt? Lesen wir eine Lichterzählung manichäischer Antipoden, die indes metaphyisch und physikalisch gewitzter ist, als sie das offizielle amerikanische Kreuzzugsmodell seit 2001 als realpolitische Fabel konstruiert? Eine der unzähligen Figuren dieses Romans bringt es dann auf den Punkt: „Eure ganze Geschichte in Amerika ist ein einziger langer Religionskrieg: geheime, unter falschem Namen daherkommende Kreuzzüge.“[1]

So erläutert der Autor den Antisemitismus nicht als ideologisches Phänomen, sondern energiepolitisch: Es handelt sich nicht lediglich um irrationale Vorurteile, mentale Verirrungen, sondern um eine gewaltige dunkle, aber konkrete Kraft, die den Motor politischer Einflussnahmen und Karrieren betreibt.[2] Oder geht es in Pynchons Gegenwelt um höhere Mathematik wie Physik in der Weise, dass ihre unanschauliche, nicht greifbare Wahrheit zum Formprinzip des seit je über den Gattungen schwebenden Romans entfesselt wird? Wenn Pynchon erzählt, präsentiert er textuelle Schaltungen, deren Schaltbilder elektrischen mehr als epischen gleichen, was ihm vermutlich auch die aufmerksame Lektüre Friedrich Kittlers einbrachte. Oder verbinden sich Zeitreisen, parallele Universen und Pulp-Fiction zur literarischen Wirklichkeit der dunklen, längst nicht ausgeloteten Materie unserer allseits sedierten Smartworld, die auf ihre wahre Entdeckung noch wartet? Für Pynchon ist klar, dass die Entdeckung der Welt längst nicht abgeschlossen ist und nun die Kolonisierung der Zeit bevorsteht. Den Titel “Gegen den Tag“ wählte bereits Michael Cronin, der 1998 eine alternative bzw. virtuelle Geschichte des Zweiten Weltkriegs veröffentlichte und damit einem Leitmotiv folgte, das auch für Pynchons imaginäre Spiegelkonstruktion verbindlich ist. “Counterfactuals”, jene Abweichungen von der uns geläufigen Welt und Geschichte, sind auch das auf vielen Erzählebenen entfaltete Thema von „Gegen den Tag“: "Glaube ja nicht….du seist mit deiner Aufnahme an Bord der Inconvenience in ein Reich des Kontrafaktischen entkommen."[3] Nein, es bleibt an Bord des fiktiven Luftschiffes „Inconvenience“ der fünf schicksalswilligen Aeronauten, der „chums of chance“, „Freunde der Fährnis“ unbequem, weil hier keine leichten Passagen in das frei schwebend Phantastische und schon gar nicht zurück auf den Boden archimedisch gesicherter Tatsachen zu erwarten sind. Wir stoßen in real-imaginäre Wirklichkeiten vor, die uns die Rekonstruktion dieser ideologisch angeschlagenen Welt, die unsere sein soll und doch wieder nicht, ihr aber durch geheime Spiegel verbunden ist, keineswegs erleichtern. Pynchon behandelt das „Imaginäre“, das so real entsteht, spöttisch bis ironisch. Für ihn gibt es eine Logik der Verwandlung der psychisch ungelösten Probleme in äußere Gegenstände. Der Leser Pynchons hat viel zu tun, die diversen Bedeutungsebenen auf ihren Wirklichkeitsstatus hin zuzuordnen, bis er vielleicht erkennt – und das ist nicht die geringste Frucht dieser Lektüre – wie fragil die Ausgangsbedingungen dieser, also auch seiner eigenen Wirklichkeit sind.

In einer Verwöhngesellschaft, deren kategorischem Imperativ zufolge alles, auch das Wissen, konvenieren soll und Suchmaschinen das Wissen portionieren, verlässt sich Pynchon also auf literarische Zumutungen, die ihm selbst lesewillige Chefkritiker nicht so leicht verzeihen. "Now single up all lines!" lautet das (nicht plausibel ins Deutsche übersetzbare) Eingangskommando des literanautischen Aufbruchs, das zugleich ein literarisches Signal für Leser und Autor selbst ist, alle Motivstränge im einem groß angelegten Versuch nun neu durchzuspielen, um unsere Welt in ihren Gegenwelten und imaginären Varianten zu spiegeln. Der Roman funktioniert selbst wie eine Art „Anamorphoskop“ oder „Paramorphoskop“, „weil es Welten offenbart, die neben derjenigen liegen, die wir bis jetzt für die einzige uns gegebene Welt gehalten haben.“[4]

Um welche Welt geht es genau? Den freiwilligen Angaben des Autors zufolge ist es die nichteuklidische Welt von Bernard Riemann[5], David Hilbert und Hermann Minkowski. Wir betreten den imaginären Raum Riemanns[6], auf dessen realen Spuren sich Thomas Pynchon angeblich sogar eigens in Göttingen zur Recherche bewegte. „Riemannien“ wurde phänomenologisch als ein Land beschrieben, dessen Topografie zwei jeweils verschiedene Ansichten eröffnet.[7] Die vierdimensionalen Landschaften werden mathematisch als Graphen der Riemannschen Zeta-Funktion behandelt. Darstellungstechnisch wird die Landschaft in einen "Realteil" und einen "Imaginärteil" geschieden. Berge und Täler dieser komplexen Landschaft verkehren sich, je nachdem, ob eine reale oder imaginäre Sicht der Dinge gewählt wird. Anders formuliert: Nach der Zeta-Funktion besitzen alle nichttrivialen Nullstellen der Funktion den Realteil ½. Mathematisch sind die „Nullstellen“, die etwas über die Primzahlenverteilungen aussagen, die aufregendste Orte, weil sie sowohl im Real- wie im Imaginärteil auf Höhe „Normalnull“ liegen. Damit wurde 1859 eines der bedeutendsten Probleme der neuen Mathematik formuliert, das Anfang des 20. Jahrhundes der deutsche Mathematiker David Hilbert in seine berühmte Liste der 23 (!) bis dahin ungelösten Probleme der Mathematik aufnahm. Seitdem reißen die Versuche, die Vermutung Riemanns zu lösen, nicht ab und vielleicht ist „Gegen den Tag“ der weitere Lösungsversuch eines „Zetamaniacs“, in diesem Land auch literarisch erfolgreiche Expeditionen zu wagen. Hoffnung, das Problem zu lösen, verbindet sich heute mit der Theorie des "Quantenchaos", also der Verknüpfung von Quantenmechanik und Chaostheorie, die für Pynchon verklammernde Leitmotive seines gesamten Werkes sind. Das unfassbar Reale und das idealisch Imaginäre spielen seit der Psychoanalyse in der Fassung Jacques Lacans eine eminent wichtige Rolle. Und ist denn der Phänomenologe des Weltgeistes wie der –seele, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, je etwas anderes gewesen als ein real-imaginärer Spieler mit der erstaunlich konvertierbaren Wortmünze „ist“? Also das treibt uns an, ohne hier auf festen Boden zu rechnen: Wo liegt das „Rückgrat von Wirklichkeit“?[8]. „Wirklichkeit oder Imagination“ ist eine kaum auszulotende Frage, so lange man interner Beobachter und nicht Gott ist. In Pynchons verrückenden Vektorrechnungen beginnen wir in einer realen Welt, die sich in einer imaginären Referenzwelt fortsetzt, um schließlich in der sogenannten Wirklichkeit als neue Person aufzutauchen. Zwischen realen und imaginären Ereignissen herrscht in den Nachtzügen von „Gegen den Tag“ so reger Verkehr, dass das imaginäre Objekt bzw. seine Beobachter nicht leicht zu lokalisieren sind. Wir brauchen auch hier eine Sphärologie[9], die uns die Bi- und Dislokationen, den Verlust der Bodenhaftung und real-imaginäre Raum-Zeit-Achsen erklärt und pragmatische Neubesinnungen eröffnet, wenn sich Zeit und Raum in einer vierdimensionalen Physik neu verfugen. Hier geht es indes nicht lediglich um eine technisch orientierte Metaphysik, sondern zugleich um sehr konkrete Veränderungen unseres „In-der-Welt-Seins“. „Webb Traverse” heißt der zu rächende Anarchist, der die Travestie einer virtuellen Öffentlichkeit signiert, die nun in einer privatistisch-öffentlichen, mithin konstitutiv schizoiden Netzsphäre eng in ihrem kommunikativen Autismus zusammenrücken soll. Professor Renfrew in Cambridge spiegelt sich – rückwärts buchstabiert - in Professor Werfner in Göttingen, der als Protagonist eines Spaltexperiments ein und doch nicht derselbe, mit sich selbst verfeindete Teil einer Riemannschen Sphäre ist.[10] So wird es der größte Wunsch von Lindsay Noseworth, nicht eins, sondern zwei zu sein, was den Begriff der multiplen Persönlichkeit, die doch für homogen konstruierte Gesellschaften eine unmögliche, also psychopathische Figur ist, positiv besetzt.

Thomas Pynchon verbindet in „Gegen den Tag“ zahllose Figuren (mit immer - bis zum Kalauer bereiten – sich selbst auslegenden Namen), Orte und Ereignisse zu einem verspiegelten System, das von geheimen Gesetzen zusammengehalten wird, die den paranoid geschulten Leser provozieren, sich in den ubiquitären Beziehungswahn zu stürzen. Ist Ostende deshalb als Turnierort für Schach beliebt, weil Belgien in internationalen Konflikten das erste Bauernopfer, wenn auch kein echtes Gambit ist? Solche grotesk luziden Erkenntnisse des Weltkonstruktionsuntergrunds verwandeln literarisch die „Riemannsche Mannigfaltigkeit“ bzw. den „Riemannschen Raum“, der eine gekrümmte Fläche bezeichnet, die unseren physikalischen Alltagsregeln nicht länger folgt, in spekulative Welten, die nicht regellos sind, aber ihre Gesetze nur hermeneutisch und hermenautisch gewitzten Mitreisenden verraten. In dieser Welt muss die kürzeste Strecke zwischen zwei Punkten keine Gerade sein, so wenig die Winkelsumme im Dreieck 180° beträgt. Literaturmathematisch kann also der von Krafft-Ebing beschriebene Hut-Fetischismus, der Mayonaise-Kult und Richelieus Import der spanischen Fliege nach Frankreich eine explosive Erkenntnis darüber bergen, welchen vektoriellen Regeln politische Konflikte folgen.[11] Oswald Spengler wurde Opfer satirischer Angriffe, weil seine kulturmorphologische Verknüpfungsmetaphysik einigen Zeitgenossen so kontingent bis tendenziell pathologisch erschien und er das als Wissenschaft praktizierte, was Thomas Pynchon zum literarischen Spiel der Anspielungen, zum Bedeutungssystem der Deutungen macht. Aber welche Rolle spielt dieser Textsortenunterschied schon bei Universalpoeten respektive Universalhistorikern? „Es gibt zitronengelbe Falter, es gibt zitronengelbe Chinesen; in gewissem Sinn kann man also sagen: Falter ist der mitteleuropäische geflügelte Zwergchinese. Falter wie Chinese sind bekannt als Sinnbilder der Wollust. Zum erstenmal wird hier der Gedanke gefasst an die noch nie beachtete Übereinstimmung des großen Alters der Lepidopterenfauna und der chinesischen Kultur. Dass der Falter Flügel hat und der Chinese keine, ist nur ein Oberflächenphänomen. Hätte ein Zoologe je auch nur das Geringste von den letzten und tiefsten Gedanken der Technik verstanden, müsste nicht erst Ich die Bedeutung der Tatsache erschließen, dass die Falter nicht das Schießpulver erfunden haben; eben weil das schon die Chinesen taten. Die selbstmörderische Vorliebe gewisser Nachtfalterarten für brennendes Licht ist ein dem Tatverstand schwer zugänglich zu machendes Relikt dieses morphologischen Zusammenhangs mit dem Chinesentum.“[12]. „Schanghaier Scharaden“[13], „chinesische Verwicklung“[14] bzw. „Eine Art chinesischer Situation, nicht wahr?“[15] kommentiert Pynchon dieses eigene Urdilemma verknüpfungswütiger Textschaltungen, die auf sich selbst angewandt, die Gattungsgrenzen sprengen und nur durch Komik erträglich bleiben: „Ach was, also ob Grenzlinien noch irgendeine Rolle spielten…“[16]

"But it's everything that matters," erläutert Chick Counterfly, einer der fünf Schicksalsgenossen, diesen aeronautisch durchmessenen Bedeutungsrahmen, der kein Weltmoment unschuldig unverbunden entkommen lässt. Es geht um alle Welterschließungsweisen, auch wenn sie aus kruden Quellen sprudeln, wie jene Heftchen-Stories der „Freunde der Fährnis“ mit ihren sprechenden Hund und Zen-Provokateur „Pugnax“, deren Abenteuer zu ironischen Referenzen einer Fiktion in der Fiktion werden. Auch der Geschichtenraum von Pynchonesien ist ähnlich offen wie weiland die Filmräume Michelangelo Antonionis, dessen widerstrebende Kamera sich längst nicht narrativ vom „plot“ terrorisieren ließ. Auf für uns imaginären Achsen erleben die „Freunde der Fährnis“, diese Serapionsbrüder einer verspäteten Moderne respektive frühvirtuellen Zeit, andere Geschichten, die nicht weniger real als die erzählten sind. Das Personal der Pynchon-Stories ist unabsehbar, fast jedes Mem reklamiert einen Sprecher für sich. In der metaphorisch konstruierten „Töpler Influence Machine” werden vermeintlich disparate Materialien kombiniert, um eine literarische Elektrizität zu spenden, die dann Pynchons unwahrscheinliche Gesellschaften auflädt: Geheimzirkel, dämonische Horden, skurrile Einzelne, die jenseits von Staat und Gesellschaft anarchisch autistische Existenzen führen. Diesmal lümmeln sich auch Zeitreisende aus diesem oder jenem (Parallel)Universum durch die Texte, die mehr oder weniger irritiert reagieren, wenn plötzlich Großereignisse wie Weltkriege „irgendwie“ fehlen. Viele Figuren Pynchons sind kognitive Stunt-Kommentatoren, die offensichtlich - auch oder gerade als Existenzen im Reich der schwarzen Materie – viel Fernsehen gucken, nachhaltig im Internet surfen und wie „idiots savants“ alles notieren – weil alles wichtig werden kann. Jede Marginalie hat einen Marshallstab im Tornister, um schon bald zu großer Bedeutung aufzuschließen. Oft wurde bei den Pynchon-Exegesen das Naheliegendste übersehen: Pynchon ist als Schriftsteller ein Sensualist durch und durch, er schildert unzählige Details, ergeht sich in Wahrnehmungssensationen, ohne darin zu kollabieren. Allerdings muss auch er damit rechnen, dass ihm das widerfährt, was Thomas Mann nicht mehr erlebte, aber Teile seines Werks in das Schattenreich der Antiquiertheit verschob: Seine großzügigen Exkursionen in die Reiche der Naturwissenschaften, denn literarische Früchte abgezweckt werden, haben ein Verfallsdatum, mitunter schon vielleicht bei Aufnahme der Reise. Literatur, die sich auf die „harten“ Wissenschaften mehr als nur metaphorisch einlässt, riskiert ihren „Daseinsgrund“.

So global, gewaltig, komplex und wissend Pynchons verschlungene Welt auch konstruiert ist, die Abwesenheit von Gesellschaft macht sie zu einer so nomadischen wie monadischen Sphäre, die den biografischen Erfahrungen dieses nichtexistenten Autors eignen mag. „Gegen den Tag“ entfaltet keine empathiefähigen Protagonisten, keine psychologisch ausdifferenzierten Persönlichkeiten, sondern ungewisse Entitäten, Triebschicksale, skizzenhaft geschilderte Stichwortgeber, von der Toilettenwand herunter gesprungene Graffiti-Männchen, die nun in allen Zungen Babylons reden wollen. Die multilinguale „Ars combinatoria“ wird auch diesmal wieder exzessiv in der Pornografie inszeniert - einer bizarren Hardcore-Mechanik, die Figuren mitunter ähnlich zusammenführt, wie es der Marquis de Sade vorführte, der sich zeitlebens redlich abmühte, den vergleichsweise einfachen Geschlechtsakt zur Architektur der Lust und grotesken Verschaltung der Leiber zu transformieren, um die Schöpfung durch den Verrat an sich selbst zu provozieren.


Jenseits der christlichen Schöpfung

„Was für Götter, was für Geschlechter, was für Welten standen im Begriff, geboren zu werden?“[17]

Die Schöpfung, die wir bei Thomas Pynchon erleben, ist eine so kontingente wie notwendige Welt, die zuletzt reklamieren will, die beste aller möglichen Welten zu sein, wenngleich Hoffnung - „der Gnade entgegen“[18] - besteht. Die christliche Zeit ist linear konstruiert, das „dicke Ende“ kommt bestimmt, alles läuft auf das Omega hinaus, was historische Wahrnehmungen wenig bedeutend erscheinen lässt. Ist demgegenüber die schamanische Wirklichkeit einer auf viele Dimensionen, die in einem „einzigen, zeitlosen Augenblick existieren“, verteilten Zeit nicht vorzugswürdig?[19] Fundamentalistische Sprüche des erzbösen Kapitalisten Scarsdale Vibe, die das Paradox der christlichen Feindes- wie Nächstenliebe aufwerfen, dass man die Bösen töten soll, wenn die Kinder des Herrn gefährdet sind, lesen sich vor unseren alltäglichen TV-Hintergrund als Kommentare zu den neokonservativen Ausritten in den nicht demokratiebereiten Orient oder zu den zündelnden Zornigen im Banlieue. „A Modern Christian´s Guide in Moral Perplexities“ macht uns im Angedenken von 9/11 klar, dass Religion in ihren Antinomien gewalttätig ist, wie es der anarchistische „Reverend Moss Gatlin“ schon mit seinem Namen belegt – nach dem ersten von Richard Jordan Gatling entwickelten Maschinengewehr[20]. Zuvor hatte Pynchon in „Gravity`s Rainbow“ nicht ausgeschlossen, dass die Vereinigten Staaten von Amerika zu den „kosmischen Formen von grobem Unfug“ gehören könnten.[21] „Der Nationalgedanke ist auf den Krieg angewiesen.“[22] Der Reverend fragt diesmal im Stil unserer rotbalkigen Boulevard-Aufklärung nach dem Schrecken, der endlich wieder eine leicht nachvollziehbare Freund-Feind-Kennung im Stile Carl Schmitts bereit hält: ",,..wie kann jemand eine Bombe zünden, die unschuldige Menschenleben fordern wird?" Pynchon erinnert sich an den Witz in Stanley Kubricks “Full Metal Jacket”: „Längere Zündschnur“[23]. Ist das Böse nur eine Funktion von therapierbaren Psycho- oder Soziopathien, wie wir es uns zur Beruhigung und Hoffnung erzählen? Oder gibt es das pure Böse, wie es Terry Giliam in „Time Bandits“ als satanischen Kohleklumpen durch die Küche rollen lässt? Muss man das Böse so ernst nehmen, wie es auch der Papst tut? Die Hölle wäre mehr als eine projektive Verlängerung unserer Schwierigkeit, das Böse zu erklären, sondern ein „irrtümliches Plasma aus Hass und Strafe“[24], das dann in vielerlei Gestalt den Menschen heimsucht. Überhaupt ist es das Anliegen dieses Dichters, die rein metaphorischen Reiche zu verlassen, um jene Zone zu erreichen, in denen die Dinge aus ihrer Schattenexistenz heraustreten, um so real zu werden wie die Anlässe, aus denen heraus Dichter schreiben. Mehr als auf Subjektivität und „mentale Transportation“, zielt Pynchons Reise auf „laterale(r) Auferstehung“ [25].

Gewaltbereite Anarcho-Individualisten, explosive Stirnerianer vor der Auffahrt in den „Anarchistenhimmel“ und mit und ohne Drogen angetörnte Freaks diverser Bauart sind die wilden Kerle eines Autors, der wie Friedrich Nietzsche virtuelle Souffleure für seine selbst gewählte Einsamkeit des literarischen Selbstgesprächs erfindet. Vielleicht gefällt sich Pynchon in narzisstischer Abwesenheit vor dem Spiegel der Medien, weil es, ob man nun Honoré de Balzac, Roland Barthes oder den Aborigines folgt, dabei bleibt, dass die fotografische Abbildung der Tod vor der Zeit ist – was zu jener grotesken Selbstverhüllungs-Geschichte führte, dass der Autor CNN ein kurzes Interview gewährte, um im Gegenzug zu erreichen, dass heimlich geschossene Fotos des Meisters nicht veröffentlicht werden. Thomas Pynchon ist also ein weiteres Gespenst der Geschichte, das von Marx und Engels über die Marx-Brothers bis hin zu Jacques Derrida und Peter Sloterdijk selbst postmesmeristischen Gesellschaften nicht auszutreiben ist. Ist der Schrecken der Gespenster ihre Botschaft aus der Zukunft, dass wir tot sein werden, fragt Pynchon. Sind sie mithin unsere vektoriellen Schattenexistenzen, mit denen wir uns selbst verfolgen? „Unsere eigenen Gestalten hafteten darinnen wie schwarze, hohle Gespenster, die keine Tiefe haben“, kommentierte Adalbert Stifter tief ergriffen die „Sonnenfinsterniß am 8. July 1842“, die vom „Tod des Lichtes“ (Hans Sedlmayr) handelt. Licht, Schatten und Dunkelheit sind auch die intrikat entfalteten Themen in „Gegen den Tag“. Wir reisen „clairvoyant“ von „Der Finsterzwerg“ über zwielichtige Erleuchtungen bis hin zur hysterischen Blindheit derer, die die „Inconvenience“ nicht mehr sehen können, die zum Ende des Romans hin groß wie ein kleine Stadt wird. Wenn man den „Kampf ums Dasein“ (Pynchon verwendet den deutschen Ausdruck) verliert, phantasiert man bloß noch, um zu existieren und wird damit zum Gespenst der Geschichte. Bei Pynchon werden solche Phänomene über ihren metaphorischen Charakter hinaus als genuine Wirklichkeit behandelt, wenn er etwa en passant den Physiologen Charles Bonnet (1720-1793) erwähnt, der das nach ihm benanntes CBS-Syndrom so beschrieb: Sehbehinderte sehen lebendige und komplexe Bilder, die ihnen als durch und durch real erscheinen. CBS tritt nicht als psychopathologisches Phänomen auf, sondern als eine organische funktionelle Behinderung, deren Phänomenologie darin besteht, dass der Kranke bizarre Bildwelten mit Geistern, Elfen, Cartoonfiguren, magischen Landschaften etc. wahrnimmt. Pynchons Gastauftritte in drei Episoden der Simpsons (Diatribe of a Mad Housewife, All's Fair in Oven War, Moe'N'a Lisa) machen ihn selbst zu einem cartoonesken CBS-Symptom und gewähren Mikro-Einblicke in ein selbst entworfenes Gespensterleben, das vielleicht den Fantasien des Romans zur „wirklichen“ Queen Victoria strukturell folgt. „Vic“ altert dort nicht wie ihr „ghostly stand in“ der Realgeschichte, sie wird gefangen gehalten von einem Herrscher der Unterwelt, immun gegen die Zeit und in ewiger Jugend. Einigen wie den venezianischen Malern ist es gegeben, Phantome zu sehen, die gegenwärtige nicht mehr sehen können – Phantome wie Pynchon, der in seinem alten Navy-Foto fixiert bleibt, das ihn als ewiges Gespenst der Literatur zeigt.


Für Leser und andere Tatzelwürmer

Mit „Gegen den Tag“ kehrt Thomas Pynchon zur komplexen Erzählarchitektur von „V“ und „Gravity´s Rainbow“ zurück und hat „Vineland“ bzw. die gemäßigte Mason-Dixon-Linie wieder verlassen. Es bleibt eine editorische Zumutung für den Leser, dass diverse Begrifflichkeiten nicht übersetzt werden, denn Pynchons kabbalistischer Hell-Dunkel-Diskurs gestaltet sich so polyglott, dass reine Übersetzungen ohnehin zu kurz greifen. Ohne ein ausführliches Glossar fehlt es aber auch der deutschen Übersetzung an ausreichenden Bordmitteln, um die Fahrt auf der „Inconvenience“ von einigen Irrungen und Wirrungen zu befreien. Die alte Frage, ob Kryptologie das genuine Medium der Hermeneutik ist, ließe sich zumindest im Horizont des editorisch gut betreuten Lesers entschärfen. Oh Herr, gib´ uns unseren täglichen Hyperlink heute![26] Nicht erst seit dem „Bargfelder Boten“, der sich ausschließlich der Entschlüsselung von Arno Schmidts späten Romanen widmete, weiß man um die Fährnisse unbewaffneter Lektüre. Während im alteuropäischen Murano[27] die Geheimnisse der Spiegel- und Glasmacher fanatisch gehütet wurden und Arbeiter wie Gefangene gehalten werden, gelingt es Niccolò dei Zombini nach Amerika, in das Land der Praktiker und Pragmatiker, zu fliehen. Doch Pynchon tritt die Rückreise an, weil das alte Spiel von Kodierung und Dekodierung, das etwa bei E.A.Poe zur Obsession wurde, der Königsweg der Welterschließung bleibt. Es ist keine auktoriale Marotte, die Welt bleibt ein Vexierspiel und immer neue Lichtschübe werden uns nicht darüber täuschen: „It´s always night, or we wouldn´t need light“[28]. Wie können wir dann wissen? Die Inschrift auf dem Grab von David Hilbert lautet: „Wir müssen wissen, und wir werden wissen.“ Vor einem Studium höherer Mathematik könnte es allerdings relativ sinnlos sein, dieses intrikate Wissen Hilberts oder die vierdimensionale Minkowski-Welt in Thomas Pynchons neuem Roman in allen Facetten aufzuspüren, wie es eine größere Anzahl von Rezensionen erweist, die sich bereits an der Komplexität des Werks zuschanden gelesen haben. „Zu viele Töne“ oder „zu viele Wörter“ bleibt die Sprache der schlecht kaschierten Ignoranz kulturbeflissener Feuilletons. Solche Lektüren verkennen, dass Pynchon nie weniger verhandelt als die ganze Welt und vielleicht sogar noch mehr…

Für die im Roman kurz aufscheinende Mathematikerin Sofja Kowalewskaja (1850-1891), die in Göttingen mit einer Arbeit über partielle Differentialgleichungen promovierte und die erste Mathematikprofessorin im Europa des 19.Jahrhunderts wurde wurde, schien es unmöglich, "Mathematiker zu sein, ohne die Seele eines Dichters zu haben". Nach dem Tod ihrer Schwester schrieb sie: „Alles im Leben erscheint mir so verblasst und uninteressant. In solchen Augenblicken taugt die Mathematik besser; man freut sich, dass eine Welt so ganz außerhalb unser selbst existiert.“ Pynchon folgt sogar der Theorie vieler Welten bzw. Universen, die dicht beieinander liegen und doch so diskret getrennt sind, wie er es am Beispiel eines Hotelbetriebs skizziert, der an Friedrich Wilhelm Murnaus Film „Der Letzte Mann“ von 1924 erinnert: Wir sind alle „chums of chance“, „Freunde der Fährnis“, die vom Schicksal von oben nach unten und zurück gewürfelt werden. „Gegen den Tag“ wird dabei zur Schnittstelle zwischen „God´s unseen world“ und der wirklichen Wirklichkeit, die nur mit einer Physik zu begreifen ist, in der die Zeit real und der Raum imaginär ist. Ohnehin ist das die wichtigste Idee im Roman, der nicht ein weiteres Experimentalfeld für Scifi-Zeitreisen sein will, sondern den bereiten Leser irritiert, dass der Raum – eingedenk der Definition des Augustinus[29] - mindestens so unfassbar wie die Zeit ist. Wenn wir uns nicht mehr als selbstverständlichste Wahrnehmungserfahrung intuitiv auf Raum und Gegenstände verlassen können, könnte die Zeit zu unserer Verbündeten werden, ein angemesseneres Wirklichkeitsverhältnis zu finden. In einer sehr schönen Idee fragt Pynchon, ob es denn, wenn es doch den neutralen Boden als politischen Begriff gibt, auch eine neutrale Zeit geben könnte, etwa eine Stunde, in der man ewig unangefochten verharren kann.

Elfriede Jelinek, Pynchon-Übersetzerin: „Es ist ein Witz, dass er den Nobelpreis nicht hat, und ich habe ihn. Ich halte Pynchon für einen der bedeutendsten lebenden Schriftsteller, weit vor Philip Roth übrigens. Ich kann doch den Nobelpreis nicht kriegen, wenn Pynchon ihn nicht hat! Das ist gegen die Naturgesetze...“ Pynchons Held „Traverse“ bekommt irgendwann den Rat, diese farcenhafte Existenz aufzugeben und sich wieder der wirklichen Welt zuzuwenden. Vielleicht hält sich ja der Autor selbst daran und taucht rechtzeitig zur Verleihung des Literatur-Nobelpreises auf. Ob in der realen oder imaginären Welt, das ist nur eine Frage der Beobachtung oder eben der Riemannschen Mannigfaltigkeit und die ist nun in diesem Roman so mächtig entwickelt, dass kein Weg mehr zurückführt. Allein das macht diesen Großentwurf wichtiger als die vielen lesbaren Bücher, die so durchschaubar um die Gunst der Leser buhlen und deshalb so durchschaubar geschrieben werden. Schon hat man Pynchon aus diesem Ressentiment heraus vorgeworfen, sich selbst zu parodieren, also ob es bei diesem oder irgendeinem anderen bedeutenden Autor je einen signifikanten Unterschied zwischen der Wahrheit und ihrer Parodie gegeben hätte? Pynchons größte Provokation bleibt, dass die trivialen Tatsachen und die tiefen, tiefen Geheimnisse des Universums nicht signifikant zu trennen sind oder sogar sich von dem einem zum anderen Bedeutungspol hin – und herbewegen, wie es nur jenen unheimlich erscheint, denen Dynamik als Teufelswerk erscheint und feste Hierarchien für ihre kleinen Begriffswelten benötigen. Möge der Leser also von einer „Kosmischen Offenbarung heimgesucht“ werden, die „wie Taubenscheiße vom Himmel“ herabfällt.[30] Mit anderen Worten: Pynchon is back! Auch für den deutschen Leser, wenngleich die relative Unbekanntheit dieses Autors in Deutschland der Beleg für eine Leseschwäche ist, die schon vor der Pisa-Generation grassierte.

Goedart Palm


[1] Gegen den Tag, Reinbek bei Hamburg 2008, (abgekürzt: GdT9, S. 1148.
[2] GdT, S. 1190.
[3] GdT, S. 21.
[4] GdT, S. 374.
[5] http://www.emis.de/classics/Riemann/
[6] GdT, S. 738 ff.
[7] http://www.math-it.org/Mathematik/Riemann/Riemannia_de.html
[8] GdT, S. 898, im Original deutsch, ATD 604
[9] Vgl. Peter Sloterdijk, Sphären Bde.1-3. Eine Trilogie.
[10] Die im Internet angelaufene Pynchon-Interpretationsmaschine verwies darauf, dass in Cambridge das Eisenbahnsystem 1845 gebaut wurde, das von Göttingen im Jahre 1854.
[11] GdT, S. 810 ff.
[12] Robert Musil, Essay: Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind
[13] GdT, S. 510.
[14] GdT, S. 1125.
[15] GdT, S. 773.
[16] GdT, S. 1125
[17] GdT, S. 213.
[18] GdT, S. 1596
[19] GdT, S. 216.
[20] Der Prediger Billy Graham veranstaltete "crusades" und hatte den nom de guerre „Maschinengewehr Gottes“. Vgl. auch „Billy Graham's Bible Blaster“ in der Simpsons-Folge „Ned Flanders: Wieder allein“.
[21] Thomas Pynchon, Die Enden der Parabel, Reinbek 1989, S. 1038.
[22] GdT, S. 1381.
[23] GdT, S. 133.
[24] GdT, S. 973.
[25] GdT, S. 645.
[26] Deshalb http://pynchonwiki.com/
[27] Vgl. GdT, S. 531 mit der Beschreibung perfekter Spiegel: „Der vollkommene Spiegel muss alles zurückwerfen…“.
[28] Zitat von Thelonious Monk als Motto des Werks.
[29] „Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es, will ich es aber einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.“
[30] GdT, S. 1248.

Allerletzte Kerle

Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen zum Vatertag in einem Interview der "Bunten": "Das finde ich schrecklich. Kerle, die ihre Kinder möglichst weit von sich haben wollen, das ist das Allerletzte." Mütter mit Multi-Tasking haben ihre Kinder auch regelmäßig "weit von sich". Wie viel Zeit bleibt einer Familienministerin für ihre Kinder? Ist es vielleicht ehrlicher, auch mal vorsätzlich die Familienbande zu fliehen? Familien funktionieren oft wegen der zwangsharmonischen Zumutungen nicht. In den öffentlichen Fokus von Frau von der Leyen gelangt freilich nicht der Zusammenhang von Sozialität und vermeintlich asozialen Fluchtmechanismen. Harmonie ist wohl auch nur eine Frage der Rhetorik.

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