9/30/2012

Steinbrückiana

Wie arm der deutsche Journalismus ist, manifestiert gerade wieder die nackte Gier, nun die Kandidatenkür Steinbrücks zum großen Thema zu machen. Wenn es zur Wahl geht, sehen die Karten ohnehin völlig anders aus als heute. Wer liest diese überschnell skribierte Makulatur über Chancen und Fährnisse eines Kandidaten? Das ist nicht nur unendlich langweilig, sondern demonstriert auch den wie immer abwesenden Begriff von Politik in zahllosen Medien. Wann beginnt man endlich zu begreifen, dass strukturelle Aussagen zählen und daneben Personalien, die sich als politische Erkenntnisse tarnen, bestenfalls als Marginalien gehandelt werden dürften. Goedart Palm

Bonns schönstes Klärwerk

"Rund 3,5 Millionen Euro gibt die Stadt seit 2011 jährlich aus, um die vier Bonner Klärwerke auf dem neuesten Stand zu halten", teilt uns im August 2012 der General-Anzeiger mit. Sollte die Stadt dabei ihr bestes Klärwerk, KLÄRWERK III, so völlig aus den Augen verloren haben. KLÄRWERK III würde mit einem Zehntel der genannten Summe unglaubliche Meisterwerke schaffen, die ein Alleinstellungsmerkmal für Bonns Kunst und Kultur begründeten, wenn doch Beethoven, dem Eiertanz um das Festspielhaus nach zu urteilen, in Wirklichkeit ein Bonner Emigrant ist. Goedart Palm

Warum ist die BRAVO genial?

Es dürfte keine Zeitschrift gegen, die Texte so aufbereitet, dass mit der Aufklärung zugleich die Satire geliefert wird. Das ist arglos gesprochen, denn ich habe Leser beobachtet, die sich tot lachen, ohne deswegen die Botschaft nicht ernst zu nehmen. Goedart Palm

Journalistische Erkenntnis

Spiegel Online Zitat im Ressort Gesundheit über einen 86jährigen Raucher: "Prognosen sind wie Wettervorhersagen - meistens falsch." Diese Quintessenz wäre vor Jahren im gedruckten Spiegel ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Einem der vielen "Vorleser", jenen Lektoren, die skrupulös nach Fehler suchten, wäre das aufgefallen. Die Basis-Erkenntnis lautet hier: Prognosen sind wie Prognosen - meistens falsch. Abgesehen davon, dass wir uns schon unzählige Male zu Recht auf Wetterprognosen erfolgreich verlassen haben, wäre daraus nur eine Pointe geworden, wenn Prognosetypen substantiell unterschieden worden wären. Eine astrologische Prognose wäre eine Kategorie, die etwa gegen ärztliche oder meterologische Vorhersagen auszuspielen wäre. Aber alles das ist viel zu viel Semantik in Zeiten der Verlautbarungspest wie diesen. Goedart Palm

9/29/2012

Der Reisende in Bonn

Der Reisende, der nach Bonn kommt, weiß schon bald. Drei Dinge gehören zu Bonn, ja machen Bonn aus: Beethoven, Klärwerk III und der Kurfürst. Beethoven und der Kurfürst sind tot, also was bleibt dann? Auch wenn Bonn kein Festspielhaus bekommen sollte, weil es an Mut gebricht, weil es an Visionen fehlt, weil es eine unendliche provinzielle Dösigkeit gibt, weil man in Bonn meistens müde ist, weil Bonn eben eine Bahnschrankenlandschaft ist etc., trotz all dieser Fährnisse und Untiefen, Bonn behält KLÄRWERK III. Dafür zahlt Bonn praktisch nichts, was deutlich macht, wie Kultur in Bonn definiert wird. KLÄRWERK III ist eine Überlebensform, die sich Bonner Verhältnissen angepasst hat: Wer hier hofft, hat schon verloren. Goedart Palm

Zur KINOMAGIE - Celine und Julie - Analyse Canonique

Kino-Leben


"Wie kommt es, dass die Zeit die Heiterkeit (gaieté) verloren hat? Das hat seine Ursache in der außerordentlichen Vermehrung unserer Kenntnisse. Mit der Aufklärungswut fanden wir mehr Leere als Völle - und im Grunde wissen wir, dass unendlich viele Dinge, die unsere Väter für Wahrheiten hielten, keine sind, und wir wissen sehr wenig Wahres, das unsere Väter nicht auch schon wussten. Die Leere in unserer Seele und unsere Fantasie - sie ist die wahre Ursache der blasierten Traurigkeit." (Abbé Galiani)


Von der imaginären Wirklichkeit zur Wirklichkeit der Imagination

Einige Anmerkungen zu „Celine et Julie vont en bateau“

Die Feststellung, dass Traum und Wirklichkeit verschieden sind, ist banal. Doch vielleicht nicht weniger banal ist die Erkenntnis, dass Traum und Wirklichkeit eins sind. Sollte unser Wirklichkeitsverständnis noch höchst unvollkommen sein? Das Kino ist eine Schule des Wirklichkeitsverständnisses nicht weniger als der genuine Ort der Magie, seitdem die klassische Magie in Verruf gekommen ist, eine zweifelhafte, ja vergebliche Kunst zu sein. Dass die Magie aber die Wirklichkeit verändert, ist die Lehre klassischer wie postklassischer (=kinematografischer) Magier. So wird das Kino je nach seinem magischen Programm die Wirklichkeit abbilden, eine eigene Wirklichkeit sein oder die Wirklichkeit fliehen. Die Wirklichkeit, von der wir längst nicht wissen, was wir damit meinen, bleibt der Fokus des Kinos - immer eingedenk des Wissens: „Dichter können gar nicht lügen, weil sie gar nicht vorgeben, Tatsachen mitzuteilen.“ (Béla Balázs, Der Geist des Films, Frankfurt/M. 2001 (Erstausgabe 1930, S. 163). Wenn die Kunst des Lügens (Oscar Wilde) einen so hohen poetischen Wert besitzt, müssen Dichter dann nicht immerzu lügen, um zu ihrer Wahrheit zu kommen. Freilich bereitet das Paradox erhebliche Probleme, wenn die Unterscheidungen nicht mehr auf gesicherte Referenzen der Wirklichkeit zurückzuführen sind. Für Platon und seine zwischen Idee, Schein und Widerschein geschichtete Wirklichkeit war der Dichter der genuine Lügner, verwerflich und nie mit dem Philosophen zu verwechseln, der allein den Königsweg zur Sonne der Wahrheit beschreiten sollte. Das Kino ist die Dunkelkammer, die wohl einige Ähnlichkeit mit Platons Höhle reklamieren kann. Der Projektor steht für die künstliche Sonne, die im Innern der Höhle für die Erleuchtung der dritten Art sorgt. Platons Wirklichkeitsebenen sind längst in Bewegung geraten.

„Celine et Julie vont en bateau“ ist ein Film über Magie und das demonstriert er nicht lediglich über die magischen Inhalte bzw. eine märchenhafte Erzählung, sondern durch die magisch eingesetzten Zeittechniken des Films, die dem Zauber auf der manifesten Inhaltsebene des Films zugeordnet werden.

„Celine et Julie vont en bateau“ von Jacques Rivette galt dem Filmkritiker David Thomson als: “the most innovative film since Citizen Kane…whereas Kane was the first picture to suggest that the world of the imagination was as powerful as reality, Celine and Julie is the first film in which everything is invented.” Doch jeder Film ist immer eine Erfindung gegen die Wirklichkeit, die sich nicht plan in einen Film einbinden lässt. Und eine pure Erfindung ist „Celine und Julie“ schon deshalb nicht, weil Rivette ein originäres Kunstwerk aus den Versatzstücken fremder Imaginationen macht. Imaginationen, die rekapituliert werden, um ihre jeweilige Erfindung auch gegen sich selbst zu richten. Mehr als eine bloße Erfindung ist „Celine et Julie vont en bateau“ aber ein Metadiskurs über die Erzählkunst, die einer der Königswege der Erfindung bleibt.

„Celine et Julie vont en bateau“ von Jacques Rivette ist für Gilles Deleuze „eine der ganz großen französischen Filmkomödien“ (Gilles Deleuze, Das Zeitbild – Kino 2, Frankfurt/M. 1997, S. 23). In einer Zeit, in der vielleicht mehr Komödien denn je produziert werden – jene Komödien, über die man nicht lachen kann, weil sie lächerlich sind – haben echte Komödien vermutlich nur geringe Chancen, wahrgenommen zu werden.

Der Film entstand 1974 ohne Skript bzw. Découpage. Während der Dreharbeiten waren die Schauspieler, maßgeblich die beiden Hauptdarstellerinnen Juliet Berto und Dominique Labourier, an der Entstehung des Films beteiligt. Der Film präsentiert sich im Grobschema auf zwei Handlungsebenen, die schließlich ineinander laufen und miteinander verschmelzen. Die Binnenerzählung wurde nach zwei Henry James-Erzählungen "The Other House" und "A Romance of Certain Old Clothes" konstruiert. Jacques Rivette konstatierte in einer Rezension über einen Renoir-Film: „Die Improvisation ist so nur Mittel für ein Höchstmaß an Realismus“. (Jacques Rivette, Schriften fürs Kino, S. 14). Angeblich schrieben Regisseur und Schauspieler nachts den Teil der Geschichte, die sie dann am nächsten Morgen drehten. Rivette erläuterte: „Das Sujet eines Films wird immer aus der Methode geboren, mit der man dreht.“ Diese Form-Inhalt-Dialektik ist Lichtjahre von den durch und durch komponierten Drehbüchern Hollywoods entfernt, die nichts mehr dem Zufall der Wahrnehmung oder aleatorischen Mehrwerten überlassen wollen.


Die Geschichte

Celine (Juliet Berto) and Julie (Dominique Labourier) befassen sich beide mit Magie. Celine gibt in ihrem Hoteleintrag als Beruf „Magierin“ an und Julie liest in der ersten Szene ein Buch über Magie und zieht mit den Füßen ein magisches Zeichen in den Sand. Julie praktiziert die Kartenlesekunst des Tarot als „Nebentätigkeit“ ihrer Arbeit in einer öffentlichen Bibliothek. Später wird sie mit Celine sogar nachts in diese Bibliothek einbrechen, um ein Lehrbuch der Magie zu stehlen. Die erste Begegnung der Frauen ist sonderbar und wird im Film mit dem Hinweis eingeleitet: „Meistens begann es so…“. Das macht a priori, vor jedem Bild und jeder Handlung klar, dass es eine Geschichte ist, die so oder anders, aber immer wieder stattfindet. Wir bewegen uns in einem Universum der Wiederholungen und Variationen. Julie läuft hinter Celine her und schon hier gibt es Ahnungen, Kommunikationsstörungen und –absonderlichkeiten, die der Zuschauer beim ersten Sehen nicht ergründen kann. Was stiftet eigentlich die Beziehung der Frauen? Ist es der Film, der bereits ablief und den wir extrapolieren müssen? Wieso kommen sie wie selbstverständlich zusammen, obwohl es doch nicht mehr Beziehungen gibt als einen Schal, den Celine verloren hat.

Interpunktiert werden die Szenen von dem lapidaren Hinweis: “Aber am nächsten Morgen…”, was nichts anderes besagt, dass die Erkenntnisse und Erlebnisse eines Tages nur vorüber gehend sind. David Thomson formuliert diese Grunderfahrung des Films so: „Well, this is what you're seeing this time, but realise there were a whole lot of other things going on, and there are already other things you may notice.” Es gibt nicht die Geschichte, sondern mehrere Geschichten, die miteinander in vielfältigen Beziehungen stehen und nur teilweise aufklärbar sind. Die nichterzählten Szenen mögen genauso wichtig sein, wie die präsentierten. Eine Provokation für die abgeklärte und aufgeklärte Filmerzählung, die sich logisch entfaltet und mit einer befriedigenden Auflösung sich wieder zusammenfaltet – und vergessen werden darf. Celine und Julie treffen sich und in ihren Erzählungen taucht ein verwunschenes Haus auf, in dem sich merkwürdige Dinge abspielen bzw. abgespielt haben oder abspielen werden. Die Zeitebenen sind absichtsvoll diffus, sodass nie ganz klar ist, ob die Ereignisse im Haus unter der verräterischen Adresse „7 bis rue du Nadir aux Pommes“ (bis = Wiederholung, da capo; Nadir = Tiefstpunkt, Fußpunkt) gegenwärtig oder vergangen sind. Irgendwann konstatieren die beiden Frauen, dass es immer der gleiche Tag zu sein scheint, der wie ein Fluch oder eine tiefsitzende seelische Störung immer wieder wiederholt werden muss, bis sich vielleicht der Knoten löst oder zumindest das Geheimnis aufgeklärt ist. Dieses Haus ist der Ort der Wiederholung, der Ort eines ständigen da capos. Es hat sich Schreckliches ereignet und während in den Schauergeschichten ein ruheloser Geist auf sich aufmerksam macht bis er erlöst wird, hat sich hier die Geschichte selbst - das – mit Freud gesprochen – Familiendrama - verselbständigt und muss repetiert werden, bis die Seele erlöst ist. Doch selbstverständlich gibt es keine Wiederholung, die völlig identisch mit dem Wiederholten wäre. „Nadir“ ist eine ähnliche Konstruktion wie der Kaninchenbau, in den Alice gleich zu Beginn ihrer wunderlichen Reise in das Wunderland fällt. Man fällt tief, um den Geheimnissen auf den Grund zu gehen und nur in der Wiederholung der Szenen wird es Celine und Julie mit gehöriger Anstrengung gelingen, die komplexen Verhältnisse eines Personen-Verwirrspiels aufzulösen, das bereits die Leser der Henry James-Kurzgeschichten, die teilweise Vorlage waren, mit vertrackten Rätseln konfrontiert hat. Das Geheimnis des Hauses ist die Geschichte eines Mannes, der seiner sterbenden Frau gelobt hat, sich nicht mehr zu liieren. Zwei Frauen, eine davon die Schwester der Verstorbenen, Camille (Bulle Ogier), die ihr sehr ähnelt, versuchen den Mann von diesem „grausamen Gelübde“ abzubringen. Dieser Plan wird vor allem dadurch erschwert, dass die Tochter des Mannes, Madlyn, ihn immerzu an seine verstorbene Frau erinnert. Eine der Frauen, Sophie, (Marie-France Pisier) versucht das Mädchen daher zu vergiften, indem es dem Kind vergiftete Bonbons anbietet, die es immer weiter schwächen. Doch ist Sophie wirklich die Mörderin? Können wir sicher sein, dass Sophie nicht selbst ein Werkzeug der Handlung ist. Die Filmerzählung lässt bereits offen, ob der umworbene Oliver (Barbet Schroeder) nicht heimlich weiß, dass das Kind vergiftet wird und er zum Mittäter durch Unterlassen wird. Bereits in der Kurzgeschichte von Henry James „The other house“ gibt es verschiedene Schuldzuweisungen, die letztlich darauf hinaus laufen, dass es einen Verschuldenszusammenhang gibt, der zwar Täterin und doloses Handeln nicht leugnet, aber die Tat als das Ergebnis emotionaler Verwicklungen schildert, die eine ungesunde Atmosphäre von Liebe, Eifersucht und Frustration entstehen lassen. Aber selbst über dieser psychologischen Erklärung mögen auch metaphysische Umstände eine Rolle spielen. Henry James liebte alte Häuser, weil sie nicht mehr nur Behausungen sind, sondern Datenspeicher, die den narrativen Stoff der Jahrhunderte sammeln. Hier ist das Haus selbst ein Protagonist. Es öffnet –von Geisterhand? - zur vorgesehenen Stunde die Eingangstür, um entweder Celine oder Julie wie in einem Doppelspalt-Experiment hinein zu lassen. Im „roman noir“ spielt das Eigenleben von Häusern, Gemäuern, gespenstischen Orten schon immer eine Rolle, das sich selten vollständig in den Rekonstruktionen oder den jeweiligen Katastrophen auflöst. Was wären viele Geschichten von E.A.Poe oder H.P.Lovecraft ohne die unheimlichen Häuser? Ist das „Unheimliche“ ohne Häuser überhaupt denkbar? Kennen Nomaden das Unheimliche? Nur im „Heim“, dem Ort der Sicherheit, kann das Vertrauen auf den sicheren Umraum enttäuscht werden. Das Unheimliche ist eine zivilisatorische Befindlichkeit. Der Natur gegenüber ist jedes Vertrauen riskant. Es ist ein alter Animismus, der an die Objekte ihre Erzählungen klebt, als wären sie Erinnerungsspeicher des Schreckens. Im Roman „Die Besessenen“ von Witold Gombrowicz ist es das Schloß „Myslocz“, ein mysteriöser Ort, der wie bei „Celine und Julie“ die Geschichte einer Rettung respektive Befreiung schildert. Erst als die Bewohner und Besucher nicht länger im Bann des Unheimlichen stehen, fügen sich die unerklärlichen Vorgänge in ein Muster und schlüssigere Erklärungen als der undurchdringliche Schrecken bieten sich an. So gibt es auch in Rivettes Erzählung einen detektivisch-psychologischen Motivkomplex, der mit allen Mitteln des Suspense-Kinos immer stärker auf die verschlungenen, sich langsam enthüllenden Absichten der Akteure hinweist.

Oliver erklärt Sophie, sie solle dem Mädchen keine Bonbons geben, denn die würden ihr schaden. Redet er von Karies oder von Mord? Sophie wiederum reagiert so, dass sie selbst eines der Bonbons nimmt, was Oliver entsetzt registriert und einen Versuch unternimmt, das zu verhindern. Zumindest seine vordergründig seriöse Erscheinung und das von ihm zur Schau getragene schwere Schicksal werden zudem dadurch konterkariert, dass er den Avancen der rivalisierenden Frauen gegenüber nicht spröde reagiert und schließlich selbst mit dem Kindermädchen anzubandeln versucht. Sophie erklärt Camille, dass sie darüber wachen werde, dass das Gelübde nicht gebrochen wird. Aber wie meint sie das? Denn beide Frauen sind sich darüber im Klaren, dass das Gelübde nur solange gilt, solange das Mädchen lebt. Will Sophie das Kind töten, weil sie selbst die Geliebte des Mannes werden will oder weil sie weiß, dass das Gelübde schließlich doch nicht gehalten wird und sie der Sterbenden gegenüber versprochen hat, alles zu tun, das zu verhindern? Gilt hier die paradoxe Logik, dass sie lieber das Kind tötet, als das Gelübde zu gefährden. Kann man der Toten nur dadurch entsprechen, dass man auch ihr Kind tötet, denn die Toten sollen keine Herrschaft über die Lebenden haben. Insofern sind die Motive der Handelnden ähnlich undurchschaubar wie das Geschehen überhaupt? Es sind Motivfetzen, die wie bildliche Versatzstücke eher Varianten von Geschichten skizzieren, als sich auf eine Geschichte und ihre Lesart einzulassen. Oder sollte die Tote selbst eingegriffen haben? Denn plötzlich heißt es, dass etwas Schreckliches passiert sei und auf dem Mädchen liegt ein Kissen mit einem blutigen Händeabdruck. Dafür könnte auch Camille verantwortlich sein, die sich an einem zersplitternden Glas die Hand verletzt hat. Doch der blutige Händeabdruck trifft auch die beiden Heldinnen, was letztlich paradox ist, da sie das Kind der Toten retten wollen. In der Szene mit dem Kissen könnte das Mädchen tot sein, denn sie liegt unter dem Kissen völlig leblos mit verdrehten Gliedern. Oder ist Angèle, das immer missmutige Kindermädchen, die Täterin? Erzählt sie die Geschichte so wie Geschichten von David Lynch erzählt werden, besonders raffiniert in „Mulholland Drive“, der uns die Perspektive einer Frau erzählt und sich als pure Wirklichkeit einleitet, um schließlich völlig demontiert und umgekehrt zu werden. War die Frau zunächst in ihrer Selbsterzählung stark, so ist sie am Ende schwach und das vormalige Opfer, dem sie geholfen hat, ist die wirklich Starke.

Bei „Celine und Julie“ ist es eine offene Frage ähnlich wie in Kurosawas „Rashomon“, wo selbst der Ermordete keine Auskunft über den Täter geben kann. Niemand kann wirklich über die Tat aufklären, allein die Rettung des Mädchens wäre eine Antwort auf die Frage nach dem Täter. Denn wenn das Mädchen gerettet wird, stellt sich die Frage nicht mehr und vor dieser Paradoxie schreckt der Film nicht zurück.
Die Bonbons, die dem Mädchen verabreicht werden, schwächen, die Bonbons, die Celine und Julie zu sich nehmen, bringen dagegen sukzessive die Erinnerung respektive die Aufklärung über den wahren Plan der Mörderin Sophie. Alles Wissen erschien Platon als Erinnerung. Aber längst wissen wir, wie fragil Erinnerungen sind, wie täuschungsanfällig und –bereit menschliche Gehirne sind. Gerade der Film scheint dagegen das Medium einer unbestechlichen Wirklichkeitssicht. Denn objektiviert er nicht die Abläufe, dokumentiert nicht ein für alle mal, was sich wirklich zugetragen hat. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit heißt in diesem Film aber, sich nicht auf dieses Medium zu verlassen oder nur den Versuch zu unternehmen, die flüchtige Zeit zu rekonstruieren, sondern überhaupt erst herzustellen. Der Film schöpft Wirklichkeit. Erinnerung und Zukunft treffen sich auf einer virtuellen Ebene, auf der es möglich wird, zukünftig in die Vergangenheit einzugreifen. Es gibt keine unbeteiligte Beobachtung, sondern der Beobachter wird zum Handelnden, der den Verlauf der Geschichte maßgeblich beeinflusst, so wie der Beobachter des Quantenkosmos immer auf seine eigene Beobachtung zurückgestoßen wird.
Die Fröhlichkeit der beiden Heldinnen, ihre Disposition zu Spiel und Albernheit wird grundiert von der düsteren Atmosphäre dieses Hauses, das selbst wie ein eingestaubtes Wachsfigurenkabinett erscheint, bevor tatsächlich seine Bewohner mit wächsernen Gesichtern Toten ähnlicher sind als den Lebenden. Bei Henry James heißt das nach der schrecklichen Tat von Rose Armiger (=Sophie): „Rose´s mask was the mask of Medusa.“


Aber längst ist klar, dass es verschiedene Erzählstränge, verschiedene narrative Universen gibt, in denen sich andere, glücklichere Verläufe dieser Geschichte vollziehen könnten. Der Film ist eine Schicksalsbeherrschungskunst. Wie anders wären die unzähligen Happy-Ends zu erklären, die der Zuschauer nicht satt wird zu sehen. Die von Nietzsche gefeierte griechische Tragödie hat keine Chance mehr, weil der „elan vital“ längst nicht mehr so zuverlässig erscheint wie es antikisierender Betrachtung angelegen ist. Der Film ist die Kunst, aus einer Tragödie eine Komödie zu machen und Rivette demonstriert diese Magie in der Erzählung selbst, was eben deutlich macht, warum Hollywood kaum je eine wirkliche Traumfabrik war, sondern eine entzauberte Welt mit fragilen Illusionen. Ein Kino, das nur den Traum zeigt und nicht seine Genese, seine Wandlungen, beraubt den Film seiner vorzüglichsten Eigenschaften.


Vom Beobachter zum Akteur – kein Rollenwechsel

Celine und Julie sind die Beobachter dieser Geschichte in der Geschichte und wandeln sich zu Akteuren, die aktiv und – rettend – in die Geschichte eingreifen. So wie Rousseau erklärte: Um Zuschauer zu werden, wurde ich Schauspieler.

Beide Heldinnen sind biografisch mit dieser Geschichte längst verbunden. Julie wohnte als Kind eine Zeit lang gegenüber dem merkwürdigen Haus und erinnert sich mit dem Kindermädchen daran, dass die Bewohner auszogen und seitdem die Fensterläden geschlossen sind. Oder ist sie selbst Madlyn, die den vormaligen Schrecken verdrängt und über den Schrecken nur in der dritten Person reden kann? Was nun dort passiert ist, weiß sie nicht. Celine berichtet an einer anderen Stelle Julie, dass sie in dem Haus als Kindermädchen gearbeitet habe und Pässe ohne Fotos gefunden haben. Doch auch das könnte konfabuliert sein, um das Verdrängte nicht zulassen zu müssen. Irgendetwas Schreckliches ist also passiert, aber weder ist das leicht zu entdecken noch wird klar, in welcher Weise die Heldinnen biografisch dieser Geschichte längst verbunden sind. Celine behauptet auf der Flucht vor den unheimlichen Besuchern zu sein und hat sich dabei verletzt. Die Hölle ist aus den Fugen geraten. Die Anderen treten bereits vor ihre Pforten, um ihr Geheimnis aktiv zu schützen. Julie betreut Celine, sie ist ausgebildete Krankenschwester. Später trägt Julie auch das Zeichen einer blutigen Hand auf ihrem Rücken. Das ist der Beweis, dass hier nicht nur ein Traum verhandelt wird. Zugleich aber ist der Einbruch des Unheimlichen aus der halluzinogenen Sphäre in das Realdasein. Just das ist auch die Pointe der Kurzgeschichte von Henry James „The ‚romance of certain old clothes“. Als sich Rosalind wider dem Wunsch ihrer verstorbenen Schwester Perdita an deren Kleidern und Preziosen vergreift, tritt der Schrecken und „mehr als der Tod“ in das Dasein: „and on her blanched brow und cheeks there glowed the marks of ten hideous wounds form two vengeful ghostly hands.“ Diese blutige Hand trifft auch das Kind. Auch Julie hat das blutige Mal auf der nackten Haut und stellt sich unter die Dusche, um es abzuwaschen – das Thema einer versöhnenden Variation über die blutigste Dusche der Filmgeschichte in Hitchcocks „Psycho“. Später werden Celine und Julie der Schwester der Toten, Camille, zur Hilfe eilen, nachdem sie sich verletzt hat und blutet. „Die Blutsbande müssen neu geknüpft werden“, sagt Angele das Kindermädchen mehrfach in ernstem Ton. Ist das ein Todesurteil? „Muss ich bis zum bitteren Ende gehen“, fragt Sophie. Nur, was meint sie? Die Vergiftung des Mädchens? Oliver erklärt regungslos: „Was Sie begonnen haben, müssen Sie zu Ende führen.“ Ist also Oliver der Mittäter?

In der Folge versuchen die Frauen mit allen Mitteln, das Geheimnis des Hauses und seiner Bewohner aufzuklären und verstricken sich selbst immer tiefer in die Geschichte. Sie greifen zu Zaubermitteln, Bonbons und magischen Getränken, um die Geschichte aufzuklären. Sie stehlen sogar eigens ein Zauberbuch in der Bibliothek. Dabei sind sie als Einbrecherinnen „verkleidet“, tragen einen schwarzen Overall – nachgebildet einem Comic-Helden aus der Serie „Blanche Épiphanie“ der seit 1967 von Georges Pichard gezeichnet wurde. Das Motiv dieser sehr erfolgreichen Serie entspricht dem Rettungsmotiv im Film Rivettes: Der Comic-Held hilft permanent einer Heldin, deren Abenteuer nicht allzu weit von de Sades Opferheroine „Justine“ angelegt sind, immer im allerletzten Moment aus der allfälligen Krise. Dieser Held ist so grotesk wie Celine und Julie, die auf Rollschuhen fahren. Dabei wird diese Pseudodynamik comic-artig gebrochen, als die beiden Frauen völlig fertig die Kapuzen entfernen, die sie zur Tarnung tragen. Zugleich kann man sich schwerlich auffälliger durch eine Stadt bewegen als mit diesem Kostüm.

Sie spielen zunächst alternierend und dann zusammen das Kindermädchen, das als Krankenschwester auftritt. Fortwährend wechseln Celine und Julie in der Rolle des Kindermädchens, je nachdem wer gerade den Zugang zu der Geschichte hat, diese Rolle, die indes zunächst immer gleich bleibt. Die Akteure im Haus führen ihre Geschichte immer wieder neu auf. Der magische Zugang von Celine und Julie ist der einer Zeitmaschine. Doch selbst der Schauplatz des Geschehens ist ungesichert. Denn die Straße ist in Paris, Julie lässt sich mit dem Taxi hinbringen und abholen. Jedoch Camille sagt zu Oliver, er wäre eine der besten Partien von Neuengland. Sind Celine und Julie in die Erzählung von Henry James geraten und klären sie jetzt mit den Mitteln des Films auf? Dann wäre der Film zugleich eine Medienkritik an der relativen Starrheit der Erzählung. Wo also sind wir überhaupt? Der Beobachter (=Zuschauer) ist irritiert und hat Schwierigkeiten zu entscheiden, ob tatsächlich immer dieselbe Geschichte erzählt wird oder Variationen, unmerkliche Verschiebungen, quantenmechanische Veränderungen in die Geschichte einziehen. Julie beginnt sich zu langweilen, weil sich die Geschichte immer zu wiederholen scheint, ohne dass die Pointe, das Ende, die Auflösung in Sicht wäre. Aber Celine, die „katzenartiger“ in die Geschichte eindringt, lässt sich davon nicht beirren, sie weiß, dass dieser Zustand nicht anhalten wird, sondern die Krisis vorbereitet.

Mit dem Wechsel von den Bonbons zu dem magischen Getränk, dem „Gedächtniselixier“, das die „Alten `Herba-Wein` nannten“ und das offensichtlich höher dosiert ist, gelingt es den Darstellerinnen nunmehr sich der Pointe der Geschichte zu nähern, selbst handlungsstärker zu werden und sich dem Zwang der Wiederholung zu entziehen. Denn das Hause und seine mysteriösen Bewohner wollen die Wahrheit nicht zulassen – so wenig wie die Protagonisten in „The other house“ die Aufklärung der Tat zu lassen. Es ist zugleich eine Drogengeschichte, eine Geschichte der Stoffe, eine buchstäbliche Chemie der Gefühle – aber im buchstäblichen Sinne des Wortes. Die Figuren der Geschichte riechen nach Naphtalin (verwendet in Mottenkugeln), stellen Celine und Julie fest. Die Kleider der Toten werden in Kampfer, dem man übrigens eine psychoaktive Wirkung nachsagt und das als Konservierungsmittel eingesetzt wird, und Rosenblättern verwahrt. Sophie fällt in Ohnmacht, wenn sie Blumen nur sieht. Als Camille das Kleid der Toten mit einer Rosenapplikation trägt, kann Sophie den Anblick nicht ertragen. Doch vielleicht ist ihre Unpässlichkeit auch nur darauf zurückzuführen, dass sie in der Rivalität mit Camille um die Liebe von Oliver ihre Chancen schwinden sieht, denn Camille sieht wie die Tote aus. Denn Madlyn begrüßt sie in diesem Kleid als Mutter. Bereits der Name „Blume“ darf gegenüber Sophie nicht erwähnt werden und als ihr Madlyn ein Blumenbild zeigt, fällt sie in Ohnmacht. Ein intermedialer Witz, da Sophie bei Henry James „Rose“ heißt, sodass die Blumenallergie nichts anderes als eine unbewusste Anamnese ist, eine Erinnerung, dass sie in einem früheren (Film/Text)Leben die Täterin ist. Die Akteure der Geschichte selbst agieren schließlich wie Zombies, wie Wiedergänger aus der Totengruft, während Celine und Julie zwischen dem Schrecken über den Mordversuch am Kind und der Albernheit der Handelnden hin und her gerissen sind. Sie machen sich über die Geschichte und ihre entlarvten Helden lustig und nehmen den Anschlag auf das Kind zugleich sehr ernst. Sie wissen nicht, ob sie nun noch die Rolle des Kindermädchens spielen müssen oder bereits eine besondere Handlungsmacht gewinnen, die sie von den Vorgaben der Erzählung löst. Zunächst versuchen sie das Kind mit Handzeichen darauf aufmerksam zu machen, keine Bonbons mehr zu essen. Sie selbst allerdings müssen ständig Drogen konsumieren, um das Band zu der Geschichte nicht zu verlieren. Selbst in den Szenen der Binnenerzählung trinken sie permanent aus einem „Flachmann“, um nicht den Faden der Geschichte zu verlieren und wieder zurück an den Ausgangspunkt zu gelangen. Die Varianten überschlagen sich, Celine und Julie wechseln in den Repetitionen der Szenen immer schneller die Rollen. Ein Schnitt, eine andere Kameraeinstellung und schon wird aus Celine Julie und umgekehrt. Dieses Vexierspiel, wer wer ist, leitet sich bereits früh ein. Julie spricht von einer Zwillingsschwester im Haus. Julie tritt auch im Variete auf und versucht - allerdings ziemlich unvollkommen - Celine zu vertreten. Celine tritt dort sehr erfolgreich als Zauberer(in) „Mandrakore“ (=Mandragore=Mandrake=Alraune) auf (Filmmusik der Bühnenszene: Play Piano Play-No. 4. Allegro Ma Non Troppo von Friedrich Gulda, Uraufführung 1971) und soll sogar eine Welttournee machen. Allerdings sind die Vorschläge des Managers bizarr. Sollte hier der Wunsch von Celine der Vater des Gedankens sein? „Mandrake“, der Magier war eine von Lee Falk in den 30er Jahren erfundene Comic-Figur – ein klassischer Magier mit einem schwarzen Umhang. Mandrake tritt als Illusionist auf, der mit seiner Hypnose-Technik seine Zuschauer und Gegner verblüfft. Celine führt so wie die Comic-Figur die üblichen Zaubertricks vor. Während Celines Vorstellung stört ein Zuschauer mit dem Zwischenruf „Alles Betrug“. Das ist natürlich als Kritik an einer Zauberveranstaltung nachgerade grotesk. Doch der wahre "Mandrake gestikuliert hypnotisch", sodass sich eine Katze in einen Tiger verwandeln kann, während Celine auf der Bühne des Varietes nur bunte Tücher in Tauben verwandelt. Nebenher kämpft Mandrake auch auf einer anderen Ebene. Im wirklichen Leben jagt er Verbrecher. Hier verwandelt er etwa Pistolen zu Schlangen. Während Celine auftritt, werden Szenen der späteren Ereignisse im mysteriösen Haus eingeblendet, die kaum einem Wahrnehmenden zuzuordnen sind. Obwohl also die Variete-Veranstaltung wie eine kleine Binnenerzählung oder nur ein Versatzstück erscheint, wird in dieser Montage behauptet, dass die Kunst des Zauberns nicht danach zu unterscheiden ist, was dem Spiel und was der Wirklichkeit, der echten Magie, zugehörig ist. Celine und Julie benutzen auch einen Talisman, um sich den Aufdringlichkeiten des Hauses und seiner Bewohner zu entziehen. Als zum Ende der Rettung hin Celine diesen Ring für einen Moment lang verliert, wird sie wieder in den Bann des Hauses geschlagen und kann sich für Sekunden nicht bewegen.

Anspielend auf die eigenen Erfahrungen sagt Celine nach ihrem Auftritt beiläufig zu einer anderen Mitarbeiterin des Varietes, sie solle mit ihrem kleinen Assistenten in das Kino gehen, dann käme er auf „andere Gedanken.“ Das nimmt dieser Film wörtlich, denn immer wieder gibt es „Interferenzen“ der Parallelwelten, zwischen denen die Frauen wechseln. Führt der Film nicht das vor, was ohnehin den Zuschauer bedrängt? Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Ist nicht immer der Zwangszusammenhang der Welt der Schrecken, dem nur höchst unvollkommen mit Analyse und Rekonstruktion beizukommen ist. Die Frauen suchen andere Bilder, konkretere Wahrnehmungen, sodass sich der Schrecken, den sie zugleich fürchten, nicht mehr entziehen kann. Der Film kommt auf „andere Gedanken“ und trägt so seinen eigenen Entstehungsprozess in das Werk hinein. Das ist das übergreifende „mise en scène“, das mehr als ein arrangiertes, durchkomponiertes Bild ist. Es ist die Genese der Szenen, es sind die Assoziationen, die sich nicht eins zu eins mit der Handlungslogik verrechnen lassen und die in dem Brennpunkt einer Szene diese transzendieren. Es gibt einen Mehrwert der Bilder, der erst die Qualität eines Films bestimmt.

Sind Celine und Julie eine Art cineastisches Doppelspalt-Experiment, deren Interferenzen sie auch dann zusammenführen, wenn sie weit voneinander entfernt agieren? Celine erklärt beiläufig nach einer aufschneiderischen Erzählung über ihre Erlebnisse in Afrika, sie habe auch so rote Haare wie Julie gehabt. Später präsentiert sich Celine gegenüber einem alten Freund respektive Liebhaber von Julie als diese höchstselbst. Sie trägt eine rote Perücke und nach überschwänglicher Begegnung desavouiert sie ihn und kündigt die Beziehung, die nicht ihre ist, auf. Oder ist es doch ihre Beziehung? Ist sie eifersüchtig oder will sie sich nur einen Spaß machen. Celine und Julie sind vielleicht auch nur eine Person, die sich im Verlauf der Erzählung, deren Anfang wir nicht kennen, in zwei Personen aufgespaltet hat. Ihre Identitäten werden jedenfalls im Lauf der Geschichte, die im Haus geschildert wird, immer schwerer ununterscheidbar. Allein die beobachtende Kamera und die Montage entscheiden, ob Celine oder Julie auftauchen. Schließlich bewegen sich beide im Haus und sind wieder vereint. Jetzt können sie sehr konkret eingreifen. Sie organisieren mit Madlyn eine Flucht aus dem Haus, die nicht durch die Tür, sondern aus dem Fenster mit Hilfe einer Leiter führt. Ihr Rettungsversuch ist aber nicht nur in dieser, sondern auch in jener Wirklichkeit erfolgreich. Denn als sie wie auf Knopfdruck wieder in Julies Wohnung sind und aus dem Traum„aufwachen“, zweifeln sie zunächst, ob sie das Kind gerettet haben. Das Kind ist jedoch im Nebenzimmer. Alle Wirklichkeiten scheinen für einen glücklichen Moment versöhnt. Sie fahren mit dem Mädchen in einem Boot, haben es in ihre Wirklichkeit hinüber gerettet, während die Akteure des Hauses blutleer an ihnen vorbeitreiben. Das ist nebenbei bemerkt nicht nur die Quintessenz des Films, die Rettung des Lebens vor dem Tod respektive der Versteinerung, die im Leben wie im Film droht. Stattdessen beeinflussen die Beobachter nicht nur die Geschichte, sondern werden als die maßgeblichen Handlungsträger so einbezogen, dass sie die Geschichte neu schreiben, während die vormaligen Akteure schließlich zu immer lebloseren Skulpturen regredieren. Celine und Julie tanzen einen Tango zwischen den vormals Furcht erregenden Figuren und lachen sich tot über deren Erstarrung.

Das genau ist auch die Differenz zwischen dem klassischen und dem neuen Schauspielertypus, der mit der „nouvelle vague“ thematisch wurde – in den Worten von Juliet Berto: "Jacques zeigte uns, wie man sich aus der Situation eines Roboter-Schauspielers befreien kann." Das wird aus einer kleinen Episode klar, die J. Rivette in einem Interview mit Frédéric Bonnaud über die Rezeption von Joseph L. Mankiewicz erzählt: „I knew his name would come up sooner or later. So, I'm going to speak my peace at the risk of shocking a lot of people I respect, and maybe even pissing a lot of them off for good. His great films, like All About Eve (1950) or The Barefoot Contessa (1954), were very striking within the parameters of contemporary American cinema at the time they were made, but now I have no desire whatsoever to see them again. I was astonished when Juliet Berto and I saw ´All About Eve´ again 25 years ago at the Cinémathèque. I wanted her to see it for a project we were going to do together before Céline and Julie Go Boating (1974). Except for Marilyn Monroe, she hated every minute of it, and I had to admit that she was right: every intention was underlined in red, and it struck me as a film without a director! Mankiewicz was a great producer, a good scenarist and a masterful writer of dialogue, but for me he was never a director. His films are cut together any which way, the actors are always pushed towards caricature and they resist with only varying degrees of success. Here's a good definition of mise en scène - it's what's lacking in the films of Joseph L. Mankiewicz.” D.h. der Eigenwert der Schauspieler wird dem Skript geopfert, während Rivette seine Heldinnen auch noch agieren lässt, wenn die Geschichte außer Reichweite gerät und die Bilder zu Belegen einer Beziehung wird, die sich nicht narrativ auflösen lässt.

Folgt man David Thomson in einer aktuellen Nach-Betrachtung des Films (2004) sind es gerade dieses absichtlosen, nicht komponierten, nicht auf den Zuschauer einhämmernden Bilder, die diesen Film auszeichnen. Es sind Atmosphären ohne Geschichte, was auch zu einer provokanten Zweiteilung des Films führte. Die erste Hälfte ist nach klassischen Zuschauererwartungen langweilig, während dann die Spannung geradewegs zu einem Genre-Wechsel hin zum Kriminalfilm führt. Jacques Rivette charakterisierte diese eigenartige Kinospannung so: „Das Kino ist eine dramatische Kunst; die Welt organisiert sich hier Kräften gemäß, die in Konfrontationen stehen; alles hier ist Duell und Konflikt; aber ohne jeden Zweifel findet es seine Erfüllung in seiner Negation: in der Kontemplation“ (Jacques Rivette, Schriften fürs Kino, München 1990, 2. Auflage, S. 29). Dass das Kino ein „Duell“ sei, hat Rivette in dem gleichnamigen Film (auch als Unsterbliches Duell bzw. „Duelle“ in Deutschland gezeigt) demonstriert. Dabei liegt eine besondere Spannung in den Lichtverhältnissen, die Sonne und Mond repräsentieren.


Mobile Features

Die Eigenwerte der Schauspieler, die Bandbreiten ihrer Kunst werden dadurch in einer Weise möglich, die dem präskriptiven Film fehlt. Das ist ein alter Diskurs der Filmtheorie, ja man könnte geradezu sagen, dass mit dem Aufkommen des Films auch und gerade der nicht ausgebildete Schauspieler eingesetzt wird. Warum? Béla Balázs erläutert das 1930 bereits so: „Es soll und braucht ja nichts mehr `gespielt` zu werden. Es soll nicht etwas erst `dargestellt` werden, was die Kamera, gleichsam aus zweiter Hand, reproduziert, sondern sie soll etwas entdecken und direkt zeigen, was von Natur aus da ist.“ (Béla Balázs, Der Geist des Films, Frankfurt/M. 2001 (Erstausgabe 1930, S. 23).

Gilles Deleuze spricht von der Notwendigkeit, „professionelle Laien“ zu finden: „Schauspieler, die wie ´Medien` eher zu sehen und sichtbar zu machen wissen als zu agieren und die gelegentlich auch stumm bleiben oder eine endlose, beliebige Unterhaltung führen können, statt zu antworten und einem Dialog zu folgen.“ (Gilles Deleuze, S. 34). Gilles Deleuze nennt Bulle Ogier, die sowohl in „Celine und Julie“ als auch in „Duelle“ als Gegenspielerin der Mondgöttin (Juliet Berto) mitspielt und Jean-Pierre Léaud. Mindestens ebenso gilt das aber für Juliet Berto, “Screen symbol of the spirit of soixante-huit” (The Times 17 Januar 1990), die „zufällig“ anlässlich einer Begegnung mit Jean-Luc Godard 1963 Schauspielerin geworden war. Juliet Berto spielt in „Celine und Julie“ mimisch sehr ausdrucksstark und wechselt bruchlos zwischen kindlichen und erwachsenen Zügen. Sie lässt misanthropisch die Mundwinkel hängen, was fast als Markenzeichen der Berto gelten kann, und schon im nächsten Moment ist sie albern, aufschneiderisch und mutiert dann wieder als professionelle Magierin zur „femme fatale“. Dominique Labourier verkörpert dagegen das kontrastierende Realitätsprinzip: Sie studiert Magie, braut den Zaubertrank und entwickelt den „Schlachtplan“ zur Rettung des Kindes. Ihr Apartment ist die „Bodenstation“, zu der die Frauen nach ihren virtuell-magischen und realen Expeditionen zurückkehren. Die Spielweise beider ist sehr stark durch das von Gilles Deleuze genannte Schauspieler-Prinzip der Medialisierung geprägt. Ihre Dialoge verlassen Handlungsnotwendigkeiten, erscheinen oftmals absichtslos frei schwebend und gerade dadurch entsteht eine offene Sphäre, in der das Motiv des Films, mehr oder minder offene Handlungsalternativen vorzustellen, plausibel wird. Auch ihre Beziehung zueinander wird nicht wirklich endgültig definiert, weil es in dieser Erzählstruktur nichts End-Gültiges gibt. Man mag – wie es Kritiker getan haben – über eine lesbische Beziehung mutmaßen, mag darin eine zeittypische Emanzipationserzählung einer starken Frauen-Beziehung sehen, letztlich wechselt Rivette immer wieder die Rollen der beiden, sodass auch die Zuordnung von Stärke oder Schwäche nicht zu einer konstitutiven Beschreibung der Figuren führt. So ist das emotionale Spektrum der Celine unmöglich einer Person zuzuordnen, sondern einer Rolle, die sich je nach dem Handlungsverlauf ändert. D.h. sie wird auch durch die Geschichte zu Verhaltensweisen motiviert, die nicht einem Beobachter-Ich entsprechen, das „Ich“ wird in diverse Personen aufgespalten. Ein Modus, der übrigens in dem kurz darauf gedrehten Rivette-Film „Duelle“ fortgeführt wird: “Miss Berto has mobile features and the wooliness of her part results in our not being quite sure, for a long way into the film, whether she is one or several characters.” (Richard Eder, Film: Jacques Rivette's 'Duelle': Rivalry of Gorgons Remains Obscure to the Audience, NY Times, October 13, 1976).

Was allerdings vordergründig als spielerische Improvisation und Multiplizierung der Persönlichkeiten erscheint, fügt sich schließlich in ein komplexes Puzzle, das alle diese scheinbar absichtslosen, unverbundenen Wirklichkeitspartikel eng führt, d.h. der Film ist deshalb gelungen, weil sich die Flüchtigkeit und Zufälligkeit der Erscheinungen in einer rekonstruktiv pointierten Erzähllogik treffen, ohne von ihr aufgesogen zu werden. So gibt es eine im Sinne klassischer Erzähllogik „viel zu lange“ Eingangssequenz, die in der ersten Hälfte des Films spannungsdramaturgisch gemächlich gesteigert wird, um schließlich eine Spannung zu produzieren, die sich klassischen Mustern nähert, aber mit ihnen dadurch spielt, dass Beobachtungs- und Handlungsebenen keine diskrete Trennung mehr kennen. Rezeptionsgewohnheiten des auf ein anderthalb Stunden Schema konditionierten Zuschauers werden permanent gestört.

Diese Spielweise bedingt, dass es keine rein handlungsorientierten Erzählstränge gibt, in denen sich alle Momente des Spiels notwendig und unausweichlich miteinander verknüpfen. Hitchcocks oder Kubricks Kino wäre dieses Kontrastprogramm zu Rivettes Cinema, weil auch der Zufall als Konstruktion erscheint.
Doch die Geschichte beginnt wieder von neuem: Sie muss endlos wiederholt werden. Doch gerade nicht die Wiederkehr des Immergleichen, die Nietzsche als der schwerste Stein erschien, sondern die Wiederholung und Variation zugleich. Die Heldinnen können den Film immer wieder ablaufen lassen. Ihre magische Kinomacht ist identisch mit der weniger magischen Fähigkeit des Zuschauers seit der Geburt des Video, Filme zu wiederholen und damit ein analytischeres Sehen zu ermöglichen. Der Schock der Bilder, die Überraschung weichen einer strukturellen Sicht der Dinge. Der Zuschauer nicht weniger als die Darsteller(=Zuschauer) des Binnenfilms entdecken die schwarzen Löcher der Erzählung. Gilles Deleuze hat auf Fellini verwiesen: „Was wir geworden sind, sind wir im Gedächtnis, wir sind gleichzeitig Kindheit, Jugend, Alter und Reife.“ Deleuze hat diese komplexe Bewegung in „Gedächtnisräumen“ - und darum handelt es sich bei „The other house“ - als paradoxale Eigenschaft einer achronologischen Zeit beschrieben, in der es zur Koexistenz aller Vergangenheitsschichten, einer Konzentration der Zeiten in einem Gegenwartsbewusstsein kommt (S. 133 f.). Es gibt also keine reine Erinnerung, sondern die Zeiten laufen in der Erinnerung zu einem vielschichtig sich überlagernden Bild zusammen. Das Gedächtnis ist eine virtuelle Zeitmaschine: „Zwei Personen lernen sich kennen, kennen sich aber schon und kennen sich noch nicht.“ (S. 135) Das könnte eine Beschreibung des Aufeinandertreffens von Celine und Julie sein, nicht weniger als eine Beschreibung der Begegnungen im Haus. Das deja-vu ist keine Bewusstseinsstörung, sondern die gewöhnlichste Kondition der (filmischen) Wahrnehmung.

Die Aussage lautet: Jeder Film kann in ein Leben so inkorporiert werden, dass er Teil dieses Lebens wird. Insofern erfüllt Rivette hier das so prahlerische wie aussichtslose Versprechen der nouvelle vague, dass das Kino Leben ist. Jean-Luc Godard wurde nie müde zu behaupten: „I see no difference between the movies and life. They are the same.” (Zitiert nach Gene Youngblood, 'Jean-Luc Godard: No Difference between Life and Cinema', in Jean-Luc Godard: Interviews. Ed. David Sterritt. (Jackson: University Press of Mississippi, 1998), S. 13). Jedoch ist dieses stärkste Motiv, Filme zu machen und der Wirklichkeit die Quittung zu präsentieren oder sie gar kinematografisch zu revolutionieren, nicht nur bei Jean-Luc Godard gescheitert. „Kino ist Leben“ ist eine Formel, die spätestens mit den siebziger Jahren zu Ende ging, ihre Anhänger verlor, weil die 24 Wahrheiten pro Sekunde ihre Plausibilität verloren hatten. Das Kino ist nicht der Ort der Wahrheit, weil es immer Montage bleibt. Die Montage ist eben nicht nur das Prinzip, Wahrheit herzustellen, sondern zugleich das Prinzip, die Wahrheit zu transzendieren. In der „Außenseiterbande“ konnte Godard die Kamera über die Leuchtreklame „Nouvelle Vague“ fahren lassen, die jene innige Verschränkung zwischen cineastischem Programm und Wirklichkeit zu garantieren schien. Insofern ist Celine und Julie zugleich einer der letzten Filme dieser Zeit, in der das kinematografische Apriori diese (selbst)bewusste Täuschung über eine unüberwindbare Differenz noch bei jedem Kinobesuch bescherte.

Welche Welt ist die wahre?

Sie gibt das Leitmotiv vor. Sie ist oder sie ist nicht und schließlich wird klar: Sie ist und sie ist nicht. Ein cineastischer Versuch über quantenmechanische Parallelwelten, in denen sich alle Varianten einer Geschichte zu einem narrativen Multiversum auffächern, in dem die Schauspieler nicht weniger herumirren wie die Zuschauer. Ständig wird die Frage nach dem Handlungsort und der –zeit und den Absichten der Akteure irritiert. Man kann sich nicht mehr auf eine Wirklichkeit verlassen, die auf einer statisch einsinnig verlaufenden Zeitachse hin zu einer Auflösung eilt.

Allein der Aufenthalt in diesem oder jenem Universum der Geschichte entscheidet darüber. Als Julie in der Küche eine „Bloody Mary“ zubereitet, sagt Celine plötzlich aus dem Nebenzimmer: „Ich hätte Lust auf eine Bloody Mary.“ Julie ist so verstört über diese Koinzidenz, dass ihr ein Glas hinfällt. Es ist dieses unbewusste Wissen aus der Vor-Geschichte, das im Film zu Ahnungen, Vermutungen und Hypothesen über den Verlauf der Geschichte führt. Ohnehin ist Blut ein Leitmotiv des Films. Später wird Camille sich an zerbrochenem Glas die Hand verletzen und bluten. Auch in der Binnenerzählung nach Henry James werden die Blutsbande immer wieder betont. Das Blut steht für die Verquickungen der Akteure.

So kann der Film kein wirkliches Ende haben, denn die Geschichte wird immer wieder neu ablaufen, in dieser oder jener Variante. Zum Ende des Films hastet Julie vorbei, die nun die Rolle von Celine hat, Verfolgte und Verfolgerin wechseln. Alice und das Kaninchen sind Teile eines Vexierspiels und beiden tauchen wechselseitig in ihre Geschichte ein. Eine Geschichte, die keinem gehört, so wie der Hutmacher Alice erklärt, dass es sinnlos ist, von seiner Zeit zu reden.

Es gibt eine komplexe Verschachtelung der Beobachtungsebenen, die den Zuschauer mit den Akteurinnen zusammenführt: Der Zuschauer (Filmkamera) beobachtet Celine und Julie, wie sie sich langsam dem Geheimnis nähern. Diese beobachten „televisionär“ die Akteure im Haus, während sie im Appartement von Julie Drogen zu sich nehmen. Aber zugleich beobachten sie sich selbst als Handelnde im Haus. Schließlich beobachten sie als Handelnde im Haus die Figuren der Geschichte und versuchen einzugreifen. Julie nennt sie „versteinerte Bilder von Hampelmännern“. Während sich Celine allein aufmacht, um das Haus real aufzusuchen, werden Bilder von Spielpuppen eingeblendet. Sollte das alles nur noch ein Puppenspiel sein, leblose Figuren, Marionetten, die sich eine Zeit an Fäden hängend, drehen und dann wieder dem Tod anheim gegeben werden. „Ist es ein Traum oder eine Gedächtnislücke?“ fragt Julie. Celine hatte eine Puppe auf einer Bank liegen gelassen, die Julie findet. Celine findet später mehrere Puppen in einer Spielzeugkiste bei Julie. Sind die abstrakten Beziehungen der Puppen das Gesetz, nach dem sich auch die Menschen bewegen. Geht es um Voodoo? Julie hängt unter einem magischen Quadrat Puppen auf, eine kopfunter, und erinnert an den Gehängten (pendu) aus dem Tarot-Spiel, mit dem sie zuvor noch in der Bibliothek die Zukunft weissagte. Aber hält sich die Zukunft an ihre Beschwörungen?

Die Geschichten überlagern sich, tauschen Motive aus. Vorahnungen, Deja-vus, dunkles Wissen verraten uns die Verbindungen zwischen den Universen. "Viele-Welten-Interpretation", die der US-Physiker Hugh Everett im Jahr 1957 formulierte: Ihr zufolge verwirklicht das Elektron alle möglichen denkbaren Zustände - jedoch in verschiedenen Universen. Bei jeder Beobachtung spaltet sich das Universum in diverse Wirklichkeiten, in denen alle nach der Quantenphysik denkbaren Zustände auch existieren. Der Begriff des „Universums“ selbst ist falsch, weil er eine Geschlossenheit suggeriert. Übrigens spalten sich nach der Theorie auch die Beobachter, die sich in jedem Universum mit ihren jeweiligen Beobachtungen fortsetzen. In der Geschichte von Celine und Julie entsteht fortwährend die Frage, in welchem Grad die beiden Beobachterinnen in welchem narrativen Strang eingebunden sind.

Nach Gilles Deleuze strebt diese Geschichte einem Punkt zu, „wo Reales und Imaginäres ununterscheidbar werden“ (Gilles Deleuze, aaO., S. 25). Diese Nichtunterscheidbarkeit von Realem und Imaginären, das allein retrospektiv aufklärbar ist, nie aber im Moment der Beobachtung, ist ein Kriterium für den Unterschied von guten und schlechten Filmen. Wir kennen diese Traumsequenzen, die den Traum entwerten, wenn sie ihn mit Weichzeichner einleiten oder gar durchführen, als wäre es nichts als Schall und Rauch. Luis Bunuel hat in „Belle de Jour“ diese Unterschiedslosigkeit interferierender Wirklichkeiten demonstriert: Die Heldin tagträumt ihre sexuellen Fantasien, ohne diese Träume anzuzeigen. Wirklichkeit dieser und jener Ebene gehen nahtlos ineinander über, was sich insbesondere in der pointierten Auflösung des Konflikts demonstriert. Ihr von ihren ausgelebten Träumen betrogener Mann sitzt halbtot in seinem Rollstuhl, nachdem er von einem frustrierten Liebhaber schwer angeschossen wurde. Ein Freund erscheint, der das Doppelleben der Ehefrau kennt und erklärt ihr, ihrem Mann nun alles zu erzählen, damit der sich nicht schuldig fühlen müsse. Danach betritt die Frau voll Scham das Zimmer. Plötzlich steht der Mann auf, er ist völlig unverletzt und offensichtlich hat ihm auch niemand die kompromittierende Geschichte erzählt. Nichts ist passiert. Nur der Zuschauer hat gelernt, dass dem Kino nicht zu trauen ist und dass die Traumwirklichkeit so „penetrant“ im wahrsten Sinne des Wortes sein kann, dass die wirkliche Wirklichkeit keinen höheren Wirklichkeitsgrad besitzt.
„Universum und Blick, beide eine einzige und selbe Realität; die nur existiert durch den Blick, den man von ihr aufnimmt, und dieser wiederum hat nur Sinn in Bezug auf sie; - unteilbare Realität, wo Erscheinung und Erscheinen sich vermischen, wo die Vision die Materie zu erschaffen den Anschein erwecken kann (Kamerafahrten bei Renoir), wie auch die Materie die Vision zu beinhalten; ohne Vergangenheit, ohne Kausalitätsbezug. Eine einzige und selbe Realität mit zwei Gesichtern, vermischt und eins im erschaffenen Werk.“ (Jacques Rivette, Schriften, S. 11). Abgesehen von dem Bezug auf Berkeley geht es hier um die Faktur einer Wirklichkeit mit zwei Gesichtern. Die Vision erschafft die Materie, zumindest scheint es so und gerade im Kino liegt zwischen Schöpfung und Schein allenfalls eine virtuelle Sekunde. Ist nicht vielleicht die Geschichte von Celine und Julie einem Kinderbuch entsprungen? Die beiden Heldinnen spielen mit Puppen und immer wieder tauchen wichtige Bücher auf, die mehr sein könnten als lediglich Lektüre. Julie ist Bibliothekarin und Celine besucht sie in der Bibliothek und blättert in Kinderbüchern. Als sie geht, hinterlässt sie in dem Kinderbuch „Der kleine Tom“ eine Art Frauendoppel-Portrait, das Julie herausreißt und in dem die Beziehung der beiden kürzelhaft festgehalten wird. Tom ist - wie das Mädchen - Bewohner eines Gartens, den er verlässt, um die Welt kennen zu lernen und wieder dorthin zurückkehrt, als er erkennt, dass der Garten die wirkliche, seine Welt ist und jene Welt dort draußen ihren Ruf nicht verdient.

Der Film erzählt en passant in einer Variante, dass das Kind (wahrscheinlich) gestorben ist. Gilles Deleuze formuliert das kinematografisch gelöste Paradox so, dass das Mädchen „seinem unausweichlichen Schicksal“ entrissen wird (Gilles Deleuze, aaO., S. 23). Wir erleben eine Heilsgeschichte, die nur das manipulierbare Medium spendiert, hier gilt sie nicht, die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, die Irreversibilität eines Lebens. Das ist Kino-Magie, die eigentliche Magie, die selbst dem Schicksal ein Schnippchen schlägt: „Es gibt kein lustigeres Feenspiel“ (Gilles Deleuze, aaO.). Aber diesen Spaß bricht Rivette in einer Atmosphäre, die teilweise beklemmend ist. In einem Interview sagt er auf die Frage, ob „Celine und Julie“ ein lustiger Film ist: „Yes, but there is also a certain terror. Not in the tradition of Frankenstein films but more in the line of Jacques Tourneur. I Walked with a Zombie (1943), Cat People (1942), etc, are films that are intelligent and also stunningly crafted.” Die untergründige Beziehung zu „Cat People“ drängt sich auf. „I found that Berto is just like a cat“, erläuterte Rivette in einem Interview mit John Hughes. In den Worten von Andreas Kilb: …“und dass es im alten Europa noch immer keinen besseren Frauenregisseur gibt als Jacques Rivette…“ (FAZ 24.08.2004).


Und verrät uns das Intro des Films, dass sich Celine just aus der Katze in ein “Menschen-Kaninchen” verwandelt hat? In der Tat bewegt sich Juliet Berto in zahlreichen Szenen wie eine Katze, die spielt und schnurrt und in ihren Gesten unberechenbar ist. Der Film beginnt und endet mit den Bildern einer Katze, die keine andere als Schrödingers Katze ist. „Ihr habt mich aufgeweckt – und dabei hatte ich einen so schönen Traum! Und du warst mit dabei, Mieze, im ganzen Spiegelland. Hast du das denn auch gewusst?“ (Lewis Carroll, Alice hinter den Spiegeln, S. 142 f., Frankfurt/M, 1963). In der Folge wird es komplex. Alice fragt danach, wer sich in wen verwandelt hat und wer wen geträumt hat. Und schließlich ist es wahr, dass sie vom Schwarzen König geträumt wurde so wie der Schwarze König von ihr. D.h. es gibt keine vorgängige Wirklichkeit, sondern unsere Wirklichkeit ist der Traum der Anderen – wie umgekehrt. Die Anderen sind also Himmel und Hölle gleichermaßen.


Epilog

Warum heißt der Film eigentlich „Celine und Julie fahren Boot“? Nach der erfolgreichen Rettung des Mädchens machen alle drei eine sonnige Bootspartie. Was hier als pastoral versöhnliches Bild präsentiert wird, ist nur im Blick auf die Kurzgeschichte „The other house“ von Henry James verständlich. Dort wird das kleine Mädchen von Rose ertränkt. Die Umstände der Tat, ja selbst ihre Urheberschaft bleiben indes recht mysteriös, auch wenn zuletzt kein Zweifel ist, dass Rose, im Film heißt sie „Sophie“, die Täterin ist. Sie wird in der Kurzgeschichte vom Bootshaus aus beobachtet, allerdings bleibt unklar, ob der Beobachter auch die eigentliche Tat gesehen hat und nun schweigt oder es tatsächlich keine unmittelbaren Tatzeugen gibt. Der Film bringt indes en passant das intermediale Zauberkunststück fertig, „Effie“ (=Madlyn), das ertränkte Mädchen in der Kurzgeschichte James´ zu retten. Das Kind wird also zwei Mal gerettet, zunächst durch Flucht aus dem Haus in die bessere Wirklichkeit respektive Imagination und dann in der sonnigen Kahnpartie, die schließlich den Blick frei gibt auf die erstarrten Täter. Das vermag der Film, er bietet sich nicht nur als das Leben an, sondern zugleich als Korrektiv von Wirklichkeit(en) und Fiktion(en). Rivette und seine Protagonistinnen schreiben die Geschichte um, Literaturkritik wird cineastische Heilsgeschichte – und das ist ein ironischer Gestus gegenüber der Unabänderlichkeit des Schicksals, das so seines traurigen Ernstes beraubt wird, um in der höheren Wirklichkeit des Films seine Schulden abzutragen.

Goedart Palm

Der lahmende Aufstand


Zundelfrieder und der Rest der coolen Gang  in Zeiten der Globalisierung  

Der weitgehend vergessene Moralist Antoine de Rivarol betrachtete in seinem politischen Journal eines Royalisten, das die Zeit vom 5. Mai bis 5. Oktober 1789 umfasst, die revolutionären Ereignisse in Paris. Rivarol litt mächtig unter der gewalttätigen Demontage des Ancien Régime. Unerträglich ist ihm der „Pöbel“: Marktweiber, Kriminelle, Lumpengesindel. Er kann nicht begreifen, dass die ehrenwerte Leibgarde des Königs keinen Widerstand gegen dieses Pack leistet und sich lieber erschießen lässt. Wie kann man sich das Gesetz des Handelns von diesem Abschaum diktieren lassen? Der gegenwärtige Adel ist nur noch ein bleiches Abbild seines einstigen Glanzes. Der Patriotismus der Aufständischen sei nur ein ideologisch billiger Trick, die Diktatur des Pöbels zu rechtfertigen. Vor dem Hintergrund einer so paradigmatischen wie bluttriefenden Bemerkung Saint-Justs „Diejenigen, welche ich angezeigt habe, haben niemals ein Vaterland gekannt…“ wird die herrschaftsgeladene Auslegung von Blankettformeln zum Apriori des Terrors. Früher ging es bei nur einem König den Leuten gut, die „Barmherzigkeit“ funktionierte, nun gibt es unzählige Groß- und Kleintyrannen, räsoniert Rivarol. Die Menschen schreien schlimmer als je zuvor nach Brot. Der Pöbel sei indes selbst nur ein Instrument windiger Kapitalisten und verlogener Figuren wie der des doppelzüngigen Mirabeau. Der neu entdeckte Patriotismus, den Robespierre rechtschaffenen und erhabenen Menschen zurechnet, sei die billige Währung, die an den jeweiligen Wechselkurs der Macht gebunden ist. Paul Lafargue, der Schwiegersohn von Karl Marx, hatte für den „homme de lettres“ Rivarol nur Verachtung übrig. „Dieser spirituelle Parasit“ sei verantwortlich, dass „der Hass vertieft und der Kampf bis ans Äußerste getrieben“ worden sei. Folgt man dem „Neger“ (Marxens Terminus für seinen Schwiegersohn) Lafargue und den Vertretern einer „wissenschaftlichen“ Theorie des Klassenkampfs, gibt es historisch gesetzmäßige Verlaufsformen. Stellt man sich dem  in den Weg, wird nur das Blutbad vergrößert. Aber wie sollte das Rivarol in der aktuellen Situation erkennen? Und ist es überhaupt wahr? Wäre nicht ein beherztes Eingreifen der Royalisten und der königstreuen Truppen erfolgreich gewesen, so wie es Rivarol behauptet. Angst sei ein schlechter Berater. Dann wäre die glorreiche französische Revolution eine bloße Revolte geblieben. Der Pöbel wäre „niederkartätscht“ worden, so wie es Napoleon ohnehin als probates Mittel zur Behandlung von Volksaufständen ansah. Es hätte einige sozialstaatliche Verbesserungen gegeben und die Eigentumsordnung wäre weitgehend unangetastet geblieben. Histomat und Diamat hätten sich auf dem Bahnhof der Geschichte noch ein bisschen die Beine vertreten müssen. Virtuelle Geschichtsschreibung vermag aus Revolutionen Revolten zu machen und vice versa aus Revolten Revolutionen. Ob Freiheit und Gleichheit, Demokratie und Rechtsstaat der Geschichte letzter Schluss sind, ist auch heute nur für die entschieden, die das Telos der Geschichte bereits kennen, also die Verfassungstreuen nicht weniger als die Aufständischen mit der fragmentarischen Gebrauchsanweisung. „Das Warten auf die revolutionäre Situation und das unvermeidliche und verhängnisvolle Zögern, wenn sie eingetreten ist, gehören nach den Erfahrungen der Volkskriege einer vergangenen, noch unreifen Epoche der Revolutionsgeschichte an“, schrieb wie immer besserwisserisch die RAF 1971. Es sei ihnen egal, ob das „reines Abenteurertum“, „Blanquismus“, „Putschismus“ oder „Anarchismus“ genannt werde, wenn sie nur der Revolution in Deutschland einen Schritt näher kämen. Sie glaubten sich nicht nur der Revolution, sondern vor allem dem revolutionären Hexenmeister Lenin nahe, der ähnlich gegenüber seinen Kritikern aus dem eigenen Lager konstatiert hätte, derlei Vorbehalte gegen die Aktion seien „unrichtig, unhistorisch und unwissenschaftlich“. Die bornierte Ignoranz dieser historischen Rückversicherung lag ähnlich wie bei der französischen Gruppe mit dem hochsignifikanten Namen „Action Directe“ darin, die Tat vom Misstrauen gegenüber den revolutionstauglichen Verhältnissen freizusetzen. Das ist blanker Voluntarismus, so wenig der andere Glaube, nämlich jener an die Kraft der wissenschaftlichen Analyse, die Verhältnisse revolutionär zu transzendieren, schon besser wäre. Auch jenseits von Revolutionstheorien, die seit Hegel glauben, auf die Notwendigkeit der Geschichte wissenschaftlich bauen zu können, um sich des Siegs schon vor der Schlacht zu vergewissern, wollte man nicht ohne höhere Gewissheit losschlagen. 1830 malte EugèneDelacroix anlässlich der Julirevolution in Paris die berühmte Allegorie „Die Freiheit führt das Volk“. Die Spontaneität der Bewegung folgt einer Ordnung von patriotisch-bacchantischer Führerin und fast monochromer Masse. Die Allegorie mutierte zur Ineinssetzung von Freiheit und Notwendigkeit, was Hannah Arendt als das furchtbarste Paradox modernen Denkens erschien. Allerdings ist dieses Paradox eine alte Kondition,  wenn doch Menschen ihr Tun immerfort gegen die Schicksalshaftigkeit und Kontingenz versichern. In der Bewegung zwischen erregtem Aktionismus und providentiellem Heilswissen, ähnlich dem Spannungsfeld von tätiger Nächstenliebe und automatisierter Gnadenlehre, bewegt sich seit je der revolutionäre Elan. Gotteskrieger repräsentieren die Identität dieser beiden Pole, wenn gottgewolltes Tun und heiliges Schriftwissen jedes Handeln zum Gottesdienst werden lassen. Da es Gottes Ratschluss ist, gibt es keine eigene Entscheidung, keinen echten Gewissenskonflikt und auch keine wissenschaftliche Analyse. Klassische Strategen von West bis Ost, die dem „kairos“ vertrauen wollen und die Aufklärung über den Feind für das Hauptgeschäft halten, treibt diese Selbstgewissheit in den Wahnsinn. Jede Rede vom Aufstand, der kommen wird, der alles anders werden lässt, der als Superkompensationsinstanz für das Ungenügen der Wirklichkeit aufkommt, besitzt mehr als Spurenelemente messianischen Eiferertums, das zwischen Gottvertrauen und Ignoranz nicht trennscharf entscheiden will.  

Situationistische Legitimationen  

Der „kommende Aufstand“ des angeblich unsichtbaren Komitees liest sich mutatis mutandis wie das déjà-vu situationistischer Pamphlete. Hier entsteht heute wie damals der revolutionäre Mehrwert dadurch, Politik, Kunst und Alltag in ein durch zahllose Achsen verbundenes Befreiungsprojekt mit mehr oder weniger hohem Gewaltanteil zu integrieren. Diese Transgression vormals geschiedener Sphären in eine ästhetisierende und totalisierende Weltsicht beginnt vielleicht mit der Romantik, hat einen pointierten Höhepunkt im russischen Prolet-Kult (Kunst=Leben) und wird von verspielteren Varianten in Dadaismus, Surrealismus und schließlich von den Jugendkulten seit 1967 mit Macht aufgegriffen. Es sind die „ästhetischen Gegenwelten“ (Cornelia Klinger), die auch dem Kampf ein neues Motiv liefern, seitdem die transzendenten Rückversicherungen so fragil geworden sind.   

„Objektiv ist die Situation schon reif für eine neue Revolte“ schreiben im März 1980 die SDS-Historiker Tilman Fichter und Siegward Lönnendonker im leicht wehmütigen Rückblick auf die 68er, so sei doch gerade im Bildungswesen vieles im Argen. Das ist ein „running gag“ jeder Revolutionstheorie, die immer „um das nahe Bevorstehen eines neuen Beginns der Revolution“ weiß – wie es 1977 René Viénet auch den „Wütenden“ und „Situationisten“ von 1968 bescheinigte.[1] Viénet redete von einem bedrohlichen Programm, das “den Tod aller bestehenden Regime proklamiert”. Der “Schlaf aller Herren der Ware” wäre nun beendet “und nie wieder würde die spektakuläre Gesellschaft ruhig schlafen können.” Auch die unsichtbaren Manifestierer des „kommenden Aufstands“ gehen von der fetischistischen Waren- und Spektakelgesellschaft aus, also von jener altbekannten Matrix, deren Kabel wir nur aus unseren realen Körpern reißen müssen, um aufzuwachen. Der kategorische Imperativ der revolutionären Ethik lautete damals wie heute „Ich nehme meine Wünsche für die Wirklichkeit, weil ich an die Wirklichkeit meiner Wünsche glaube.“ Bei aller Liebe zur Dialektik ist das für die Vermittlung von objektiven Umständen und revolutionärer Selbstgewissheit zu wenig. Karl Marx wusste es besser: „Es genügt nicht, dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss sich selbst zum Gedanken drängen."  

Der „kommende Aufstand“ wohnt zur Untermiete bereits im Paradies. „Nicht die Revolte an sich ist edel, sondern das, was sie fordert, selbst wenn, was sie erreicht, noch gemein ist.“ Das unsichtbare Komitee schwärmt von der „Unterbrechung der Warenflüsse“, der „Aufhebung der Normalität“, die wieder Leben in ein stromloses Mietshaus brächte, als würden wir per Unterversorgung rousseauistisch in das Paradies der Brüderlichkeit geführt. Das Lied von der Selbstorganisation der Menschen, die sich endlich wieder emotional näher kommen, mag an vielen irdischen Höllenorten seine Wahrheit reklamieren. Was diese „Unsichtbaren“ wie weiland die sichtbaren Aufständischen je aus ihrem Kalkül ausblenden, das ist die Fragilität des revolutionären Subjekts, das seine Parzellierung genauso erfährt wie jene Bürger, die als Sozialautisten etc. als Zerrbilder des wahren Menschseins, als Negativfolien des nicht länger entfremdeten Menschen herhalten müssen. Auch der kommende Aufstand vermag das Solidarisierungsapriori divergenter Gruppen und die Konsistenz des Subjektbegriffs nicht plausibel zu erläutern, was jenseits von nassforschen Flugschriften die postmarxistische Theorie schon lange umtreibt. „Und ebenso unmöglich ist es, dass sich irgendwelche ernsthafte Meinungsverschiedenheit darüber geltend machen könnte, dass wir über alle Welt hinaus dem Proletariat zurufen: „Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr!´“ Karl Liebknecht formuliert hier das alte Überlastungsskript gegenüber dem Subjekt, das – wie es seinem Namen entspricht – dem emanzipatorischen Programm unterworfen wird und als revolutionäres Metasubjekt reüssieren soll. Es wird zur strukturellen Ironie des Politischen, jederzeit Identitäten, Mehrheiten und in Überblendung aller Partikularitäten immer wieder das Universelle selbst einzufordern. Wenn universal nach Alain Badiou nur das ist, „was sich in immanenter Ausnahme befindet“, werden wir Zeugen, wie diese Theorie fragile Subjekte des politischen Double-bind produziert, die revolutionär nicht zuverlässiger erscheinen als das vormalige Aufklärungssubjekt oder der kurz danach erscheinende Proletarier, dessen Reanimierbarkeit weiterhin unverdrossen behauptet wird. Das unsichtbare Komitee findet diesen hochsolidarischen Sehnsuchtsort der Menschwerdung in der Kommune, weil sie „bewirkt, dass wir „wir“ sagen, und dass dies ein Ereignis ist.“ Klar: „This is a mean old world, baby to live in by yourself.“ Die Kommunion der Deklassierten rückversichert sich über die großen Augenblicke der Pariser Kommune von 18. März 1871 bis 28. Mai 1871. Arthur Rimbaud, nach Albert Camus “der Dichter der Revolte und ihr größter”. feiert den Aufstand der Pariser Kommune, an dem er auch teilnahm, mit „L'orgie parisienne ou Paris se repeuple“[2]. Das unsichtbare Komitee ist gedanklich und topografisch auch in Paris angesiedelt, was vormals zu größter Hoffnung Anlass gab, beschied doch Antoine de Rivarol, dass hier die „Vorsehung“ stärker ist als anderswo.  

Die revolutionäre Megaerzählung ist eine transhistorische Be- wie Verschwörung, die großen Momente des Aufstands, des Kampfs, der Siege und Niederlagen zu einer notwendigen Weltrettungsmission zu verkoppeln. Der Blick über die Barrikaden markiert die Grenzen der Vergleichbarkeit bis hin zum unfreiwillig komischen Eingeständnis: „Die Pariser Kommune hatte das Problem der Datenspeicherung teilweise gelöst: Mit dem Niederbrennen des Ratshauses zerstörten die Brandstifter die Archive der Zivilverwaltung. Eine Möglichkeit elektronische Daten auf immer zu zerstören, muss erst noch gefunden werden.“ Eben. Das taktisch-strategische Vademecum, das kleine feuerrote Buch der Revolution auf allen Ebenen des Netzes müsste erst noch geschrieben werden. Die kommenden Aufständischen operieren noch sehr in handgreiflicher Direktkommunikation, ohne die neuen Fronten einer intrikaten Informationsherrschaft mehr als nur zögernd zu berühren.    

Die Praktiken von 1968 und 2005 werden sehr ähnlich beschrieben, ohne irritiert zu sein, dass seinerzeit doch offensichtlich verfehlt wurde, was nun wieder als brandheiße Revolte vorgestellt wird. „Burn, warehouse burn“ „Keiner von uns braucht mehr Tränen über das arme vietnamesische Volk bei der Frühstückszeitung zu vergießen. Ab heute geht er in die Konfektionsabteilung von KaDeWe, Hertie, Woolworth, Bilka oder Neckermann und zündet sich diskret eine Zigarette in der Ankleidekabine an.“ (Kommune I, 24.05.1967) Das heißt pyrotechnisch für das Banlieue von 2012 übersetzt bzw. entfacht: „Das Promethische dabei besteht und lässt sich zusammenfassen in einer gewissen Aneignung des Feuers“. „Gewiss“ heißt für das unsichtbare Komitee: „Alle sind sich einig. Es wird knallen“. „Als es gegen Mittag knallte, machten wir uns nicht viel daraus. Das waren wir seit mehreren Tagen gewöhnt“ schildert Ulrich Enzensberger die Reaktion der Verkäuferinnen des Brüsseler Warenhauses „L'Innovation“.[3]

Intermezzo: Im Dschungel der Städte  

Der Grafiker Frans Masereel schuf nicht nur mit „Die Stadt“ (1925) ein beeindruckendes Panorama des modernen Großstadtchaos, sondern entfaltete 1921 in dem wenig bekannten „Grotesk Film“ die moderne Unübersichtlichkeit des städtischen Lebens noch erheblich drastischer. Alle Gegensätze der Wirklichkeitskonstitution, Innen- und Außenwelt, Licht und Schatten, Reichtum und Armut, Schönheit und Hässlichkeit verflechten sich zu einem unentwirrbaren Gespinst metropolitaner Nachkriegsexistenzen, indem die vormalige Ordnung geschiedener Dinge als ideologisches Konstrukt denunziert wird. In solchen Grotesken geht es nicht nur um Synästhesien oder bloß ästhetische Vorstellungen literarischer Multiexistenzen oder gar Dandys, sondern um Wirklichkeitsbeschreibung. Das täglich durchlittene Chaos urbaner Durchdringungen ist der ideale Ort des Widerstandskämpfers, weil sich hier das Helldunkel von Bürgerlichkeit und Verbrechen auflöst. Das urbane Gelände wird zur neuen alten Kampfzone ausgeweitet, wo Pflastersteine als Projektile dienen und ganz nebenbei der Strand freigelegt wird, wo die Bewegung der Aufständischen sich nicht an den Wegen, Durchgängen oder der vorgegebenen Logik des Betretens und Verlassens von Häusern orientiert. Der Revolutionär fräst sich gleichsam durch die entfremdete Architektur, dekonstruiert sie, indem er die strategischen Prämissen für den Kampf schafft. Eine schöne Idee ist die von den Unsichtbaren formulierte Multi-Layer-Kampfzone, eine mikropolitische Überschreibungs- und Überlagerungsstruktur, die den Kampf vielleicht mit Niklas Luhmann als Steigerung der Komplexität definieren könnte. Die „gute Polizey“ findet in dieser rhizomatischen Struktur von Passanten, Bewohnern, Händlern etc. nicht mehr den Terroristen vor lauter Räumen. Die kommenden Aufständischen berufen sich auf den frühen „Stadtguerillero“ Louis-Auguste Blanqui, so wie zuvor die Situationisten von Straßenumbenennungen bis hin zur Korrektur der „Haussmannschen Perspektive der Boulevards“ schwärmten. Man möchte Nicolas Chauvin auf das patriotische Streckbett der Revolution legen: Was ist es doch für eine Lust, ein Revolutionär zu sein. „Masken“ empfiehlt uns das Komitee, das nicht nur sein strategisches Paradigma in der Unsichtbarkeit findet, sondern durch die Depersonalisierung seine erhabene Botschaft objektivieren will. Auch das ist nicht neu. Spontaneität hieß für die Situationisten die „Bewegung ohne Führer“, während Leute wie Daniel Cohn-Bendit die scheinbaren Führer seien, die „Chefs“, nach denen die Medien der Spektakelgesellschaft gierten, um ihre aufdringlichen Geschichten zu erzählen (René Viénet). Das dezentral und in unabhängigen Zellen weltweit operierende Rhizom „Anonymous“ (We are Anonymous. We are Legion. We do not forgive. We do not forget. Expect us!”) führt dieses Kollektivverständnis schon im Namen. „Anonymous“ agiert im und jenseits des Netzes gegen Machtformationen aller Art, angefangen bei Scientology bis hin zur australischen Regierung und gegenwärtig gegen Finanzunternehmen, die Wikileaks von den warmen Geldströmen „abgeknipst“ haben. Leben wir also in vorrevolutionären Zeiten?

„Wir haben sie so geliebt, die Revolution“ (Daniel Cohn-Bendit)  

Hannah Arendt unterscheidet plausibel zwischen Rebellion als Befreiung und Revolution, „wo das Pathos des Neubeginns vorherrscht und mit Freiheitsvorstellungen verknüpft ist“ die darauf gerichtet sind, einen konstitutiven Neuanfang einzuleiten. Per se wird damit Idee der Revolution in ihrem Vollzug aufgehoben. Insofern frisst die Revolution nicht nur ihre Protagonisten, sondern läuft als autokannibalischer Vorgang ab, was Leo Trotzki motiviert haben könnte, „den permanenten Charakter der Weltrevolution“ einzufordern. Denn der schlimmste Verlust für den Revolutionär ist das Ende der Revolution, was den Freiheitskampf dann in die „Despotie der Freiheit“ (Maximilien Robespierre) überführt.  

Die Präzision der Unterscheidung kann insoweit bezweifelt werden, als Aufstände, Rebellionen und Revolten sich a posteriori als Initiation einer Revolution erweisen können. Revolten welcher Qualität auch immer setzen objektive gesellschaftliche und ökonomische Umstände voraus, von denen – der längst nicht gefestigten Theorie nach - allenfalls einige bekannt sind. „Revolution ist machbar, Herr Nachbar.“ Von wegen. Für Hannah Arendt stellt sich das eher anders herum dar, dass nämlich Revolutionäre dann zur Stelle sind, wenn das System angeschlagen ist oder zusammenbricht. Dem folgt das „unsichtbare Komitee“, wenn es heißt, dass man sich auf die Zusammenbrüche vorbereiten muss. Wäre es so und wenig spricht dagegen, wäre die selbstgefällige Befreiungsideologie von Revolutionären eine Verwechslung von Ursachen und Wirkungen. Jede fehlgeschlagene Revolte – und das ist, wenn es nicht zur Revolution kommt, ihr wahrscheinliches Schicksal – wäre eine seismische Schwäche, die Verhältnisse und Energieformen der Macht nicht richtig zu spüren. Ein Mann wie Andreas Baader war deswegen als Revolutionär ein Versager, weil sich in seiner fantasmatischen Konstruktion jederzeit narzisstisch aufgeladene Wünsche über politische Wahrnehmungsmöglichkeiten hinwegsetzten. Langsam erkennen wir: Revolutionäre sind weniger Menschen der Tat, als die sie erscheinen (wollen). Die politische Wahrnehmungsintensität ist ihre hervorstechende Eigenschaft, so wenig das von einer sinnstiftenden Geschichtsklitterung sauber zu unterscheiden ist. Das stürzt Revolutionäre in ein nicht geringes Dilemma: „In der Praxis muss der Mensch die Wahrheit, i.e. die Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens -  das von der Praxis isoliert ist - ist eine rein scholastische Frage.“ Dieser in der zweiten Feuerbach-These von Karl Marx formulierte Imperativ verkoppelt Handeln und Wahrheit unverbrüchlich, was nicht nur den Revolutionär zwingt, erst im Handeln zu erkennen, ob sein Handeln richtig ist. Das ist explosive Dialektik, während das Kristallkugelwissen der Weltrevolution im Übrigen so völlig undurchsichtig bleibt. Hier liegt der wahre Freiheitsgewinn für Revolutionäre, mit den Kontingenzen ihres Handelns umzugehen. Louis Antoine Léon de Saint Just brachte es am 5. Februar 1794 vor dem Nationalkonvent auf diesen Punkt: „Die Republik aufzubauen bedeutet die völlige Zerstörung dessen, das ihr entgegensteht.“ Viel Zeit blieb ihm nicht mehr, der radikalen Dialektik dieser Revolutionslehre zu folgen. Fünf Monate später wurde er selbst als Hindernis der patriotischen Republik auf der Guillotine zerstört. Immerhin hatte der Jurist auch dafür plädiert, dass die Friedhöfe überfüllt sein sollten, was eben das faschistische Ideal mit dem psychopathischen Persönlichkeitsprofil kurzschließt.  In einer apologetischen Biografie des eiskalten St. Just heißt es später: “Robespierre wusste ihn zu würdigen und zog ihn nicht aus persönlicher Zuneigung, sondern im Interesse der ganzen Menschheit an sich. Dies Gefühl entflammte und verband sie mit einander, bis zum Tod.“ Die Revolution frisst deshalb ihre Kinder wie Saturn, weil Revolutionäre „im Interesse der ganzen Menschheit“ operieren und St. Just selbst seinem Meister die übertriebene Erregung nicht nachsah. Weder Gott noch die Menschheit haben Freude an soviel revolutionärem Gemeinsinn, der eben just jene Kälte verbreitet, die also nicht nur als das Grundmedium der bürgerlichen Gesellschaft erscheint, das Theodor W. Adorno anprangerte.  

Wie Schriften dieser Art immer leidet die Flugschrift daran, die Absorptionskraft des Systems, in der so rigiden wie naiven Diktion der RAF: „Schweinesystem“, im fröhlichen Voluntarismus und düster skizzierten Menetekel nicht weiter bemühen zu müssen. „I Am What I Am“ ist zwar ein elendiger, zu Rest kritisierter Dumpfspruch der Werbung für Reebok, der auf das System und seine Ideologie zurückfällt, aber dahinter stehen erheblich elastischere und intrikatere Strukturen gesellschaftlicher Befried(i)gung, als sie Aufständische ertragen können. Louis-Auguste Blanqui, ein Gewährsmann des unsichtbaren Komitees, schrieb in seiner nationalökonomischen Betrachtung des Luxus: „Sire Kapital ist eine Macht ohne Gegengewicht, keine Gewalt ist ihm ein Hindernis.“ Und kein Geringerer als Frantz Fanon („Die Verdammten dieser Erde“), der sich gegen den Humanismus seines Lehrmeisters Jean-Paul Sartres richtete, traf sich in seiner revolutionären Selbstbeschreibung punktgenau mit der Reebok-Werbung: „Ich bin keine Potentialität von irgendetwas, ich bin voll und ganz das, was ich bin. Ich brauche das Universelle nicht zu suchen.“ Das löst das revolutionäre Double-bind nicht auf, einerseits gemäß der Deutschen Ideologie ein „wirkliches Individuum“ zu sein, andererseits eine politische Subjektivität zu konstituieren, die notwendige Solidarisierungsressourcen bereithält, die nicht im eigenen Vorgarten enden. 

Die Prämisse der Ausweglosigkeit der Gegenwart und dass alles nur noch schlimmer werden könne, ist so abgenutzt, wie es der ewige Gebrauch dieses vorgeblichen Wissens nahe legt. Die „Verdammten dieser Erde“ stimmten dieses Leidmotiv mit mehr Plausibilität an. Die Flugschrift folgt dagegen einem fast pastörlichen „Alles wird schlechter-Dogma“, das durch das Globalisierungsparadigma dann in apokalyptische Farben getaucht werden soll. Oder wie sind solche kümmerlichen Erkenntnisse zu verstehen: „Innerhalb eines Jahrhunderts sind Freiheit, Demokratie und Zivilisation auf den Zustand von Hypothesen reduziert worden.“ Und vorher? Von welcher Freiheit, Demokratie und Zivilisation ist im Blick auf die Vorkriegsgesellschaft des ersten Weltkriegs die Rede, die nicht nur blutlüstern auf den Ernstfall hoffte, sondern auch unter den seinerzeit bestehenden Arbeits- und Produktionsbedingungen ohne größere Beweisnot als unerträglich bezeichnet werden muss. Gab es nach der Jahrhundertwende des 20.Jahrhunderts keine obrigkeitsstaatliche Schlagstockmoral? Wie waren die Partizipationschancen der arbeitenden Bevölkerung entlang der Hungergrenze beschaffen? Wie zivil war der Gaskrieg? Hier reiht sich das unsichtbare Komitee in die mit vielen Ressentiments beladene Tradition der Demokratiekritik ein, die seit Jahren ihr zweifelhaftes Comeback erlebt[4]. Ausgeblendet wird bei den Unsichtbaren wie anderen Parteigängern der Demokratiekritik, dass diese Herrschaftsform noch nie eine Vollgarantie einer immer gerechter austarierten Gesellschaft besaß. „Vielmehr stellt sie ein Prinzip dar, von dem wir immer wussten, dass es mit seinem Gegenteil verwoben ist und dass es unaufhörlich gegen dieses Gegenteil ankämpft.“ (Jacques Rancière) „Demokratische Anarchie „erinnert an die Abwesenheit eines letzen Grundes staatlicher Herrschaft“, was Jacques Rancière mit Niklas Luhmann verbindet, der wider jene idealistische Überhöhung eines umfassenden Gerechtigkeits- und Gleichheitsprinzips Demokratie in der „geteilten Spitze“ des Machtpols „Regierung/Opposition“ erkannte. „Im vergangenen Jahrhundert hat die Demokratie regelmäßig der Geburt des Faschismus vorgestanden, hat die Zivilisation nicht aufgehört die Arien Wagners oder Iron Maidens mit Vernichtung in Einklang zu bringen…“, erläutern die Unsichtbaren ihr eher schlichtes Verdikt gegen die Demokratie. Denn die heterogenen Momente der Gesellschaft werden nicht in einer prästabilierten Demokratie harmonisiert, die der Politik das Politische austreibt und „Egalität“ frei Haus liefert.     

Die Antiquiertheit der Aufständischen  

Aram Lintzel kritisierte die „Flugschrift“, weil sie die seit Jean-Jacques Rousseau überlieferten, sattsam bekannten und klischierten Unterscheidungen in das argumentative Zentrum stelle, hier die echten, nichtentfremdeten Aufständischen und dort die verlogenen Inszenierungen repräsentativer Demokratie. Zwar erscheint diese unerträglich strapazierte Formel der Selbst- und Fremdbeschreibung als revolutionäres Apriori, doch wird das von den Unsichtbaren kaum entfaltet. Den Kernvorwurf der Flugschrift bilden eher existenzielle Unerträglichkeiten, die Systemkollaps und revolutionäres Bewusstsein in dem vermeintlichen Wissen kurzschließen, dass der Preis des Systems für die Vielen zu hoch ist, um es noch länger zu ertragen. Wahrscheinlich, hoffentlich, unzweifelhaft? Gewiss, ginge es danach, hätte bereits nach dem ersten Atemzug der revoltierende Mensch der Schöpfung ein gnädiges Ende bereiten müssen. Der „Mensch in der Revolte“ (Albert Camus) ist lange vor der notwendigen Erfindungen des Klassenkampfs ein transgressives Thema, das metaphysische, fundamental gegen die Konstruktion der Wirklichkeit gerichtete, bis hin zu alltäglichen Revolten umfasst. Die metaphysische Revolte ist in jeder Revolte enthalten. Für Weisungsunterworfene gilt an der Aldi-Kasse genauso wie beim Pyramidenbau: „Wer sich nicht wehrt, der lebt verkehrt.“  

Im spekulativen Moment dieses Glaubens müssten die kommenden Aufständischen nicht nur aufgrund der historischen Vorerfahrungen unsicher werden, da die Banlieue-Aufstände von 2005 oder Griechenland 2008, nach dem Tod des Schülers Alexandros Grigoropoulos, längst nicht als Vorboten einer revolutionären Situation erscheinen, sondern als handfeste, aber temporäre Kritik an massiven Zumutungen des Systems. René Viénet bescheinigte dem Feuer des Mai 1968, dass es „nicht wieder verlöschen wird“, was zum suggestiven Standardreflex jeder Revolte gehört, wenigsten ein früher Fackelträger der großen Revolution zu sein. Denn allein die Methexis der Revolte an einer großen Revolutionsidee garantiert ihre höhere Autorität. Was diesen und anderen Revolutionären so schwer begreiflich ist, ist die Funktionsweise des Katastrophenmotors der Geschichte, der sich allen Systemen nur in dieser Weise zur Verfügung stellt. Was hier wie dort nicht „kapiert“ wird, ist die metaphysische Fehlschaltung der Freiheits-, Gerechtigkeits-, und vor allem Paradiesprospekte, die in jeder gesellschaftlichen Konstruktion mit einiger Prominenz auftauchen. Der wirkliche Feind der Revolution ist nicht der Kapitalismus oder irgendeine perfide Herrschaftsform, sondern die heimliche-unheimliche Vermutung, dass hinterher alles genauso sein wird wie bisher. Der Sehnsuchtsstoff reicht dann gerade mal für die Revolte, bis der Geruch der Kommunarden, die ewig alten Herrschaftsgelüste und alle anderen Schrecken der menschlichen Grundfassung eben die Penetranz besitzen, die Lust auf das Paradies mindestens ebenso zu verderben wie den fröhlichen Aufenthalt in der Hölle - was topologisch auf eins hinauslaufen könnte. Die also von den kommenden Aufständischen schreckenspathetisch unterbreitete Sieben-Kreis-Theorie der Hölle als Aufstiegsszenario weist dieselbe Schwäche auf wie das dantische, die Schrecken sind wie immer greifbar, das Paradies ist dagegen von blasser Blütenfarbe. Der siebte Kreis ist für die „Gewalttätigen“ reserviert, hier am Rande der inneren Hölle entscheidet sich dann vorgeblich der Kampf.  
       
Was bleibt von diesem kommenden Aufstand? Wir begegnen den Nachwehen des „Anti-Ödipus“, der „mille plateaux“ und ähnlichen ästhetisch-politischen Durchkreuzungsliteraturen, die euphorisch feiern, was die conditio humana nicht hergibt. Hier werden expressive Abgesänge auf tradierte soziale Strukturen angestimmt, als wäre die Ehe ein intaktes Sakrament, deren Solidität eben erst in Zweifel gezogen worden wäre. Die Auflösung der Geschlechterrollen, die da etwa nachgefeiert wird, ist müder Traditionsbestand der Postmoderne und alles andere als neuer revolutionärer Erregungsstoff. Hier feiert sich zugleich die Punk-Moral der achtziger Jahren: „…lernen, auf der Straße zu kämpfen, sich leere Häuser anzueignen, nicht zu arbeiten, sich wahnsinnig zu lieben und in den Geschäften zu klauen.“ Radikal ist anders. Eine wirkliche Radikalität wird sich nicht da vollziehen, wo die politische Theorie oder ihre Verfallsformen ihre alten Ansprüche im Schritt zur Sonne, zur Freiheit oder gar in wahnsinniger Liebe, die das Komitee prophezeit, einlösen wollen. „Wikileaks“ hat mehr Chaos und Aufklärung produziert, als sich Ostermarschierer, Ökobewegte oder Hausbesitzer in ihrem Aktionismus je erträumt hätten, was die WELT-online zum Ausruf veranlasst, Julian Assange sei der „Che Guevara im Internet“. Politische Bewegungen sind Netzbewegungen oder gar nicht! Das ist, wie es die „distributed denial-of-service attacks“ von „Anonymous“ belegen, reale Macht von unten. Von diesem Geist weiß der „kommende Aufstand“ wenig zu berichten. Der Informationsguerillero wird zum Protagonisten der direkten Konfrontation mit staatlicher oder gesellschaftlicher Macht, während die klassische pyrotechnische Abteilung selbst in ihrer eigenen Logik seit je das Legitimationsproblem hatte, ihr gemeingefährliches Spielzeug auf Sachen zu beschränken.    

Epilog  

Antonie de Rivarol, der schließlich selbst vor der gefräßigen Revolution fliehen musste, brachte es für alle Aufständischen, Revolutionäre und Kombattanten auf die Formel: „Die Politik erinnert an die Sphinx der Fabel: sie verschlingt alle, die ihre Rätsel nicht auflösen.“ Eines dieser Opfer war Guy Fawkes. Der König ließ ihn nach der Aufdeckung des geplanten Anschlags am 5. November 1605 foltern. Der Verschwörer gestand daraufhin die Tat und benannte seine Kumpane, die teilweise viehisch hingerichtet wurden. In der Schlussszene des Films „V for Vendetta“ gelingt dagegen endlich - nach 400 Jahren Wartezeit - der Anschlag. Das britische Parlament wird pulverisiert – kinematographisch. Gegenwärtig erscheinen die Akteure von „Anonymous“ oft mit den dem Comic „V wie Vendetta“ entlehnten Masken, die dem Gesicht des Gunpowder Plot-Konspirators Guy Fawkes nachgebildet sind. Offen bleibt, ob nun die virtuell-cineastische Variante oder der reale Rohrkrepierer die Rebellen in Zukunft bezeichnen wird. Die selbstgewählte ambivalente Kondition der Unsichtbarkeit birgt jedenfalls mehr höhere Ironie, als die Aufständischen wie alle ihre Vorfahren in ihrer jeweilig historisch notwendigen Mission für erträglich halten.      

Goedart Palm

9/28/2012

Warum ist Klärwerk III ein Megaevent?

Schauen Sie sich das Bild genauer an!


Klärwerk III im Haus an der Redoute Bad Godesberg in der Zeit vom 3. bis 28. Oktober 2012 mit der Aussstellung "Künstlerfreunde". Wer es jetzt verpasst, sieht es nie mehr - in his whole life. Versprochen!

Vernissage am 3. Oktober 12.00 Uhr.

Paul Dieter Geißler - Cornelia Harss - Alfred Kerger - Gertrud Klefisch - Goedart Palm - Alex Studthoff - Hans-Gerd Weise - Thilo Zwoch



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