6/24/2008

Intuition und Erkenntnisarmut

Wer sich auf seine Intuition verlässt, kann in fortgeschrittenerem Alter erkennen, ob diese Erkenntnisquelle zuverlässig ist. So kann man die richtigen Menschen wählen, geschickte kaufmännische Optionen treffen, Gefahren und Unbill vermeiden. Intuition ist eine Art des Denkens und wer gut denkt, hat gute Intuitionen. Doch viele Menschen verlassen sich auf Intuitionen, die sie nur deshalb als richtig ansehen können, weil sie ihre Wirklichkeit gegen den Strich bürsten: "Ich habe richtig gehandelt, die Anderen sind Ignoranten" - "Hätte ich nicht so gehandelt, wäre ich Katastrophen erlegen, die andere weggefegt haben" - "Ich kann mich auf mich verlassen, was bereits der Umstand anzeigt, dass ich noch lebe". Diese Art von self fulfilling principle schenkt Intuitionen Glauben, die andere verworfen hätten - denn Andere sind offensichtlich anderen Intuitionen gefolgt. Das Plädoyer gegen die Intuition, wenn die Entfernung von Zielen nur über Interpretationen zu leisten ist, muss jedem Entscheidungstheoretiker in die Augen springen. Kontrafaktisch in Bezug auf die eigenen Intuitionen zu handeln ist der wahre Weg zum Erfolg. Das Entscheidungsdilemman liegt auf der Hand: Benötigt man Intuitionen, um sich vor Intuitionen zu schützen. Wie immer bei Paradoxen gibt es keinen masterplan, sie aufzulösen. Man muss Intuitionstypen antesten, sich auf antiintuitive Pläne einlassen etc. Mit einem Wort: Berater und Beratungstypen variieren.

6/23/2008

Humanität und andere Belanglosigkeiten

Humanität gilt als höchster Wert. Humanität ist eine apologetische Keule ohne Vergleich, selbst in einer Welt, die großzügig Werte reklamiert, wenn sie nicht zu teuer erscheinen. Der Irak-Krieg wie viele "gerechten Kriege" haben diese Begrifflichkeit in überreichem Maße gespendet wie ausgebeutet. Bushs Humanitätspolitik beinhaltete in nuce die Feststellung, "auch wenn wir keine Anlässe haben", so salviert unsere länderübergreifende Humanität doch (fast) jede Vorgehensweise, im Paradox des Krieges: also auch die inhumane. Simbabwe demonstriert nun, wie belanglos dieses Argumentationschema ist. Wenn "Humanität" nur noch als strategische Vokabel gilt, gilt sie gar nichts mehr. Simbabwe löst keine internationale Aktion aus, Humanität ist hier nicht opportun, die öffentliche Erregung verwandelt sich nicht in entschiedene Politik. Insofern scheitert die Staatengemeinschaft in Simbabwe mehr noch, als sie in solchen Ländern scheitert, die nicht mit Humanitätsschlägen auf den rechten Weg der fremden Tugend gebracht werden. Simbabwe desavouiert den politischen Diskurs der Humanität und erweist ihn als das, was er schon immer war: Wenn wir ihn brauchen, haben wir ihn, aber ob wir ihn brauchen, darüber entscheidet nicht die Differenz von Humanität/Inhumanität: Opportunität ist ein Wert, der sich vor jede Humanität schieben kann.

Günter Netzer - Versuch einer Kommentierung

Günter Netzers Zeit als Kommentator sei abgelaufen, schreibt ein Magazin. Die EM erweise, dass man neue Kommentatoren benötige . Netzer zuzuhören ist fürwahr mühsam, aber über Fußball kann man ohnehin meistens nur das sagen, was jeder sieht und im Übrigen über den Zufall meditieren. Meditieren heißt, ihn klein zu reden, das ist dann Strategie oder Taktik, oder aber ihn aufzupumpen, weil er das Chaos auf dem Platz sofort erklärt. Im Fußball regiert seit je der Konjunktiv, an sich gilt hier Wittgenstein: Worüber man nicht reden soll, darüber muss man schweigen. Also redet man. Wie Netzer und jeder andere auch, belanglos, aber eben im Versuch, ein decorum für das Spiel zu schaffen, eine Inszenierung von Begrifflichkeit, die an irgendeiner begrifflichen Seitenaus-Linie endet. Nicht immer, aber oft genug. Nicht Netzer, den Diskurs sollte man abschaffen. Aber Fussball ohne den literalen Kontext würde man nicht lange genießen. Ohne Podolskis Statements wären die Tore doch nur halb so schön. Sollte man, nehmen wir es als Vorschlag zur zeitgemäßeren Inszenierung, die Kommentierungen vorab aufzeichnen und gleich dann in das Spiel schneiden, während es läuft? Jedenfalls bleibt es erstaunlich, dass Fussball unterhält, ohne dass das Regelwerk anpassungsbedürftig erscheint und dass es Menschen geben soll, die Kommentierungen des Spiels mit echten Kommentaren verwechseln. Also macht Günter Netzer nichts falsch, weil man nichts falsch machen kann, nur ein bisschen schneller sprechen, wär´schon schön. Vielleicht auch weniger nominalistisch und bei Verben "mal auf die andere Seite spielen". Also wer kommentiert, muss auch noch ein bisschen spielen können.

6/22/2008

Retro-Futurismus - eine Site, die ich gerne besuche, weil

ich als Kind mit diesen Illustrationen aufgewachsen bin...


Netzliteratur, Hypertext, Hyperfiction, Hypernothingness

Bemerkenswert, mit wie viel Enthusiamus das Netz als literarisches Medium begrüßt wurde, weil man nicht erkennen wollte, dass der Mangel produktiver sein könnte als die Opulenz, und nun das Netz sich von jeder Literatur, die als Netzliteratur gelten könnte, um Lichtjahre entfernt hat. Die Fiktionalität setzt andere Kontexte voraus, als sie das Netz bietet. Das Netz ist einer fiktionalen Konstruktion so nahverwandt, dass jedes Aufpropfen von Literatur ein vergeblicher Prozess ist, eine andere Geltungsebene einzuziehen. Auch "Second Life" hat keine Zukunft, weil der Reiz im Wechsel zwischen virtuellen und nichtvirtuellen Zuständen liegt, endlose Verschachtelungen virtueller Zustände führen zur Selbstauflösung. Auch Investoren werden das vielleicht morgen schon begreifen.

Frau Merkel und das Beobachterparadox

Frau Merkel musste Bundeskanzlerin werden, um sich selbst zu beobachten. Der blinde Fleck löst sich im Blitzlichtgewitter auf, um sofort neuen "Invisibilisierungs"-Strategien zu folgen: Nur noch die Schokoladenseite bitte, was der VHS-Fotokurs auch weiß. So einfach funktionieren manchmal Medien...

Elke Heidenreich - die Vordenkerin

"Die Erstplatzierte Elke Heidenreich sprach mit Cicero über Politiker, ihre Familie und Karriere." Cicero ist ein Magazin für "politische Kultur" und Elke Heidenreich also die erste Vordenkerin des Landes. "Wichtigste Denkerin" war anderenorts ein Werbeemblem Ciceros für Heidenreich. Also: Elke Heidenreich stellt Bücher vor, die ein breites Publikum lesen soll. Mit intellektueller Kultur hat das auch zu tun, zuvörderst aber mit Leseerfahrungen, die einfach und durchaus kulinarisch aufbereitet werden. Das ist nicht verboten, sollte nur nicht mit Denken verwechselt werden. "Vordenken" ist ein spezieller Terminus. Da geht einer respektive eine über ihre Zeit hinaus und zeigt den anderen aus seiner/ihrer überlegenen Weltsicht Horizonte, die andere noch nicht oder nie erschlossen haben. Wer also in den Medien einige Bücher exponiert und nicht lediglich den Klappentext rezitiert, ist also laut "Cicero" bereits ein Vordenker. Hier stimmt gar nichts mehr. "Cicero" muss dringend seinen Kulturbegriff revisionieren. Elke Heidenreich sollte man häufiger zitieren und nicht über sie den Stab brechen. Denn eine Vordenkerin ist sie gewiss nicht, will sie auch gar nicht sein. Allein ein Printmedium schielt auf die Auflage und Ranking ist immer gut. So also nicht. Das sind Mogelpackungen, die den Begriff der "Kultur" verraten. Politische Kultur war indes immer ein Paradox. Wieder ein Grund, ein intellektuelles Angebot in Deutschland bequem übergehen zu können. Verschont die Menschheit mit Denkern und Denkerinnen. Man stelle sich das Label vor: "Hannah Arendt, die Vordenkerin". Das wäre blamabel und unangemessen. Denker, liebe Ciceronen, denken "nach", nicht vor. Letzteres sollte man Propheten oder Meinungsforschungsinstituten überlassen.

6/21/2008

Judas - verrät den Experten

Eine juristische Software, die "Judas" heißt, verblüfft mich. Sie wirbt mit dem Spruch "verrät den Experten". Doch das ist der Fehler dieser Werbung, weil der Experte nun verraten wird und das Wortspiel nicht nur eine logische Sekunde zu spät kommt. Werbeleute finden das witzig, Normalrezipienten werden das nicht allzu positiv konnotieren. Nun überlegen Sie, man fragt Sie, welche Software Sie verwenden. Die Antwort "Judas" will nicht so attraktiv erscheinen, dass die Kaufentscheidung, wie gut das Programm auch immer sein mag, leicht erscheint. Vielleicht emanzipiert sich das Programm gegen seinen Namen. Dann muss es wirklich gut sein. Nach dem alten Anwaltswitz: Der Mandant sitzt von einem Clown. Der konstatiert: "Wenn man sich ein so groteskes Outfit leisten kann, muss man doch ein guter Anwalt sein."

6/20/2008

I remember when rock was young...

Ähnliches wird in einigen Jahren für das Internet gelten, heute ist es noch jung und streckenweise wildwüchsig, morgen werden andere Formen von Ordnung und Chaos folgen, die selbst diese Unterscheidung zweifelhaft machen. We had so much fun...daran sollte man dann denken. Manchmal ist die Gegenwart besser als die Zukunft ihrer Vergegenwärtigung - gegen die Nostalgiker gesagt.

6/19/2008

Von Magnet bis zu Magenta - Spiegel Online

"Barcelona als Anziehungsmagent für Künstler" heißt es in einer Bildunterschrift im Oktober 2007 bei SPIEGEL ONLINE. Im Online-Journalismus drehen sich die Wörter schneller, als es sich Gutenberg je hätte vorstellen können. Das Medium läuft seiner eigenen Semantik weg. Die Unsinnsproduktion allein macht Sinn,weil es sich nicht lohnt, für immer kleinere Leserkreise noch sorgfältig zu arbeiten. Die Verluderung des Lesers ratifiziert die semantische Destruktion. Fehler sind normal, orthografische Normalität ein Fall für den Duden. In diesem Sprachlabor entsteht dann der "Anziehungsmagent", für Künstler und Literaten zweifelsohne interessant. Seine Kraft wurde gedoppelt, seine Farbe ahnen wir von Ferne.

6/12/2008

Maschinenwinter mit Bodenheizung

"Es sind bekanntlich nicht die Maschinen, die Maschinen einstellen, sondern Menschen, die Maschinen bauen und einsetzen. Daher ist es nicht länger hinzunehmen, daß Maschinen die Lebensverhältnisse zunehmend verschlechtern, obwohl sie im Ursprung dazu gedacht waren, diese zu verbessern", heißt es im Klappentext der edition unseld zu Dietmar Dath, Maschinenwinter. Das soll, wie es der Untertitel verheißt, eine Streitschrift sein, die mich schon erreicht hat in der Sedimentierung des zitierten Klappentextes. Diese zwei Zeilen sind so entsetzlich, so schief, so unsoziologisch, dass mir der Vormittag verhagelt ist. Schon bin ich bereit, eine Ablasssumme zu zahlen, wenn ich diesen Maschinenwinter überdauern darf, ohne ihn lesen zu müssen. Vielleicht ist Daths Text ja erträglicher als diese potenzlosen Werbezeilen, aber ich bin zu alt, um zu riskieren, dass meine Nachtruhe durch Nachfolgesätze dieser Qualität fundamental beschädigt werden könnte.

Edition Unseld

Die Edition Unseld wirbt in diesen Tage mit diesem Titel: "Komplexitäten - Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen" Sandra Mitchell. Da soll wohl auch das spezifische Motto der Edition sein, die bereits dadurch zu verstehen gibt, dass man dem alten wie neuen Aufklärungsdiskurs ergeben folgt. Was auch sonst,könnte man fragen. Hier dürfte indes ein Missverständnis vorliegen, das nicht nur den Suhrkamp-Verlag und den Versuch einer verlegerischen Kontinuitätspolitik trifft, sondern längst die Wissensgesellschaft annagt. Menschen haben die Welt nie verstanden, weil "Welt" schon ein unbegreiflicher Begriff ist und weil Menschen als Teil dieser "Welt" auch nicht irgendwann außerhalb, gleichsam archimedisch auf die Welt herabsehen. Ein Argument ante hominem wiegt vielleicht aber noch schwerer als das Zirkularitätsargument. Der Mensch ist ein bescheidener Rechner, was wenig mit der Komplexität zu tun hat, die die Welt und eben nicht der Mensch verarbeiten kann. Ein gelungener Weltaufenthalt, um es pragmatischer zu formulieren, hat nur lose Bezüge zu menschlichem Weltverstehen. Die Parole der Zukunft, wenn man noch Parolen ausgeben darf, könnte eher lauten: Lernt zu begreifen, dass ihr die Welt nicht versteht. Je komplexer die Verhältnisse werden, einschließlich der notwendigen Strategien, mit Komplexität umzugehen, desto weniger begreift der Mensch. Menschen können in vielen komplexen Bereichen nicht mitdenken, sondern nur handeln, etwa in dem Ergebnisse verknüpft oder zerlegt werden. Mit Begreifen hat das nichts zu tun. Die Edition Unseld könnte auf dem dem falschen Gleis liegen. Aber warum sollte das nachhaltig Lesern auffallen, die eben begreifen möchten und sich ihre Wirklichkeit so bereiten, wie es ihrer kognitiven Selbsteinschätzung entspricht.

6/10/2008

Anselm Kiefer und der Frieden im Deutschen Buchhandel

Literatur ist im Zeitalter medientechnologisch hochgerüsteter Gesellschaften ein fragiles Kulturressort geworden, das Mühe hat, seinen "ontologischen" Status zu bewahren, während es zwischen Fernsehen, Hörkassetten und dem allgegenwärtigen Internet alte Ansprüche verteidigt, die bereits in relativen Blütezeiten nicht eingelöst wurden. Doch noch folgt auf die Verteidigung der Angriff: Dem starkdeutschen Maler Anselm Kiefer wird der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. Warum nun dieser Maler mit Literatur und Frieden assoziiert werden soll, mag die Jury wissen. Uns erscheint es so, als wäre der Medienbruch kalkuliert. Weder auf die Literatur noch das Buch, weder auf die Malerei noch die politische Semantik kann man sich verlassen. Verlassen allein kann man sich auf Aufmerksamkeitsqualitäten, die in diesen Brüchen und Erwartungsenttäuschungen liegen. Solchen Kriterien zufolge kann man auch George W. Bush diesen Preis verleihen, weil der unselige Irak-Krieg, wie übrigens die meisten Kriege, zur Reflexion über den Frieden beitragen mag. Jeder Schock, jede Irritation sind in Aufmerksamkeitsgesellschaften geeignet, Reflexionen auszulösen. Anselm Kiefer ist eine Variable in diesem Spiel, das kleine Szenen milde unterhält. Den Preis hätte man auch den Insassen von Guantanamo Bay widmen können, das hätte allerdings Unfrieden gestiftet und so weit will nun keiner gehen. Dieser Preis ist völlig belanglos, eine Posse für moralische Korrektheit mit einem leicht ironisierten Spielbein. Der Friede als echtes Anliegen kommt hier nicht vor, weil die Selbstinszenierung des Preises dafür zu behäbig seriös erscheint. Anselm Kiefer als Säulenheiliger des etablierten Kunstbetriebs (gibt es einen anderen?) verleiht dieser Honoratiorenveranstaltung auch nicht den "kick", den der Frieden in kriegerischen Zeiten gut brauchen könnte.

Brockhaus Revisited

Die 21. Print-Ausgabe des Brockhaus von 2006 könnte nach jüngeren Presseerklärungen des Verlages die letzte sein.

Nur wenige Jahre zuvor war man noch guter Dinge: Die Brockhaus-Enzyklopädie 2000 von André Heller gestaltet und "inszeniert" (Verlagsprospekt). Dass der Mensch einen Brockhaus brauche, mag im Zeitalter elektronischer Medien nicht länger einsehbar sein. Also muss er "inszeniert" werden: Der Zirkuskünstler Heller gestaltet eine Einbandgalerie mit 312 Originalfundstücken, Mercedes-Silberpfeil, Tennischläger von Boris Becker und noch viel mehr -präsentiert in dreidimensionalen Acrylvitrinen, eingebunden in nigerianischem Ziegenleder - für zweitausend Sammler zum Vorauszahlungspreis von 18.800 DM. Die Idee ist so grotesk, dass sie auch den Nichtleser überzeugt. Dieser inszenierte Vitrinen-Brockhaus ist kein armseliges Nachschlagewerk, sondern soll nach dem Willen des Schöpfers ein Kunstwerk sein, zumindest ist er eine Sammlung von Trouvaillen, die auf die Karte des Wissens geklebt werden. Wo früher der Begriff über den Gegenstand regierte, herrscht heute das Objekt. Pure Unmittelbarkeit gegen blindwütige Monitorisierung des Wissens. In die Geschichtsschreibung und Wissensverzeichnung wird die Geschichte als Fetisch eingeführt. Reliquien unserer Zeithöhepunkte, sorgsam verwahrt wie Blut Christi, lignum crucis. Wir wohnen einer religiösen Handlung bei, Brockhaus hebt die Monstranz, zeigt den Leib dieses Jahrhunderts, eine Hostie, die wir essen werden, um zu bezeugen, den Zeitgeist in uns zu haben. Ego te absolvo - "verlieren Sie also keine Zeit" (Verlagsprospekt). Wie sollte ich Zeit verlieren, wenn ich mir die Geschichte selbst einverleibe?

Auch diese Rituale versagen vor der Virtualität. Wir wohnen einem weiteren beispiellosen Akt des Kannibalismus bei...

In memoriam Peter Rühmkorf

In memoriam Peter Rühmkorf, ca. 1997 geschrieben:

Tabu I - Tagebücher 1989 - 1991

Reinbek bei Hamburg 1997

Wer dies berührt, berührt einen Mann.

Rühmkorf, der Dichter, hat sein "erstes" Tagebuch veröffentlicht und vermutlich meint er sich selbst, wenn er den Altersstil als eine Art von Auslaufproduktion bezeichnet. Tagebücher ringen dem Leben post festum Geschichte und Geschichten ab. Sie retten der Erinnerung die vielen alltäglichen Partikel der Identität, machen das Leben zwar nicht rund, aber nachvollziehbarer. Für Leser sind Diarien oft eine Zumutung, da sich das konkrete Leben in seinem stolpernden Zeitablauf als Sammelsurium der Ereignisse darstellt. Aber gerade hier legitimiert sich mitunter die fremde Lebensgeschichte für Leser, die auch nicht stromlinienförmiger zu leben verstehen, die auch immer wieder in die biographischen Irrungen und Wirrungen eintauchen: "Und immer wieder mal die Frage nach einem sinnvoll geführten Leben in einer wahnsinnig gewordenen Welt."

Je älter der Verfasser, um so mehr erfahren wir über seine Zipperlein. Auch Rühmkorf spart hier nicht mit schmerzhaften Intimitäten, er zeigt uns seine "vita dolorosa" zwischen den Vorboten des Endes und vorübergehender Pein. Leiden und Literatur sind nicht nur in Deutschland Geschwister. Gelitten haben sie alle: Lichtenberg, das Körperchen, Nietzsche, der aussichtslose Wille zur Gesundheit, Cioran, Schärfe aus tiefster Verbitterung, Pavese, moribund und todesentschlossen. Rühmkorf nimmt´s auch nicht leicht, aber spöttisch genug, um nicht fragwürdige Größe aus teutonischer Leidensverliebtheit zu generieren. Er hält sich poetisch vital gegenüber der selbstverschuldeteten Verwrackung: "Vergiftet vom gestrigen Tag: Zigaretten, Hanf, Whiskey, Campari, Bier, Wacholder." Ja, so lustig bis körperzehrend leben die Dichter alle Tage. Rühmkorf gelingt die ironische Selbstdistanz zu alten Abhängigkeiten und neuen Gebrechen. Dabei geht´s ihm nicht um einen "kleineleutehaften" Offenbarungsgestus, keinen gerontophilen Lamentationsgegenstand, der zum geschwätzig-sprachlosen Stoff der Talkshows avancierte. Rühmkorf zeigt seine Pflaster und Pflästerchen, die Behelfsmäßigkeiten, aus denen ein Leben, zumindest wenn es noch nicht zum Mythos geworden ist, besteht.

Aber das ist nicht alles, was der Dichter zu berichten weiß. Wie sagt Rühmkorf? "Ja posthum, da könnte ich viel erzählen!" Immerhin gelingt ihm dies zu Lebzeiten auch schon. Zwischen Begegnungen, Reisen, Speisenkarten, Rezepten, Lektüren, Fernsehen ("In-Ferno") hat Rühmkorf alle Augen und Ohren voll zu tun. Ein Kessel Buntes aus Aphorismen, Beobachtungen mit Tiefenschärfe, aber eben auch Alltäglichkeiten bis hin zum Blumengießen - Rühmkorf rekapituliert seine wachen Tage so fröhlich-unfröhlich und disparat wie das Leben nun mal ist. Und späte Dichter können alles brauchen, was im Alltagsgebrauch der Zeitgenossen oft vorschnell auf dem Sperrmüll der persönlichen Geschichte landet.

So hat dieser Mann zwar trotz seiner siebzig Jahre noch kein Oeuvre, das ledergebunden im Goldschnitt Schrankwände verzieren könnte, aber wenn weitere Tagebücher folgen, könnte ihm selbst das noch gelingen. Sein erstes Tagebuch ist es jedenfalls wert, in die Geschichte der wichtigen europäischen Tagebücher eingereiht zu werden - auch wenn er für diese Feststellung vermutlich nur gelinden Spott übrig hätte. Aber zuletzt lacht immer die Geschichte.

6/08/2008

Michel Onfray Short Cut

"Wir brauchen keinen Gott" heißt der Bestseller von Michel Onfray. Das klingt gegenüber Nietzsches Wort vom Tod Gottes eher moderat. Moderat sind auch die Erkenntnisse Onfrays. Onfray sammelt im Zeichen der klassischen Aufklärung Fakten gegen die Weltreligionen, die nicht ganz neu, in einigen Momenten allzu bekannt sind. Das wäre noch kein Mangel, wenn Onfray erklären könnte, warum diese hysterischen Irrtümer, wie er sie klassifiziert,trotz der überbordenden Vernunfterkenntnis so erstaunlich lebensfähig sind. Onfray ist an dieser zentralen Stelle kein Philosoph, sondern selbst ein (erträglicher) Eiferer, der die dringend notwendige funktionale Theorie nicht liefert, die erläutern würde, warum Realitätsverzerrungen und - verkennungen notwendig sind, um die Welt erfolgreich zu meistern - einschließlich Todesliebe und Amoralität. Das kann man bei Niklas Luhmann teilweise lernen, indes ist dort der Abstraktionslevel mitunter ein Hindernis, die Funktionen deutlicher zu konturieren. Onfray belässt es jedoch bei der intuitiven Vermutung des Lesers, dass er Religionen nur in ihrer Dysfunktionalität begreift und damit ihre Energien mit der leicht angestaubten Kategorie "Hysterie" verfehlt. Religionskritik ist nur möglich, wenn man die Funktion(en) der Religion umfassend definierten kann und die sozialen Funktionen mindestens ebenso sehr analysiert wie die vordergründig emotionalen Wirkungen, die so für Menschen so attraktiv machen.

6/06/2008

Blogs und das Ende der Demokratie

Friedrich Nietzsche meinte, noch ein Jahrhundert Leser und der Geist selbst wird stinken. Ist es so gewesen? Meine Prognose: Noch einige Jahre Blogs und Meinungen werden so bedeutungslos sein, wie es die Theoretiker der demokratischen Öffentlichkeit nie glauben dürften. Wenn alles Meinung ist, hat Meinung keinen Wert. Eine Meinung, die nicht wenigstens prätendieren kann, wichtig, exklusiv, informationsdurchdrungen zu sein, ist nicht mal als Ramschware geeignet, "gekauft" zu werden. Die große klassische Idee der diskursiven, aufgeklärten Bürgerlichkeit wird in den "Blogs" endgültig ruiniert. Die Demontage der Demokratie wird in den "Blogs" vorbereitet, während unsere wohlmeinenden Beobachter meinen, hier wäre der Königsweg zu direkter Volksbeteiligung vorbereitet.

6/05/2008

Moralische Empörung light - Beenhakker

Die polnische "Super Express" präsentiert laut SPIEGEL online eine Fotomontage: Der Coach der polnischen Nationalmannschaft Beenhakker präsentiert die abgetrennten Köpfe von DFB-Kapitän Michael Ballack und Bundestrainer Joachim Löw in seinen Händen. Okay, ist geschmacklos. Aber wie reden denn die Fans? Jede moralische Empörung fällt hier auf sich selbst zurück, denn Fussball war nie weit von solchen Fantasien entfernt.

Ray Kurzweil

Niemand kann mir sagen, dass dieser Nachname nicht das Ergebnis einer strategischen Namensänderung ist. Der Name ist Programm. Es ist nur noch eine kurze Weile, dann wird diese und jene und überhaupt jede Technik da sein. Das ist zwar vermutlich wahr, aber eine qualitative Aussage wird daraus längst nicht.

6/03/2008

Alice Schwarzer, Emma und der Rest der coolen Gang

"Emma" macht an sich im drögen deutschen Blätterwald Sinn. Die fetten Jahre sind zwar vorbei, weil der Feminismus wohl bestimmte Allianzen und Milieus braucht, um zur rechten Geltung zu kommen. Aber das ist längst kein Grund, ein kleines Dorf in Gallien oder sonstwo aufzugeben. Wenn aber Frau Schwarzer durch ihre rigide Redaktionspolitik die milden Sympathien der Öffentlichkeit zu verscherzen droht, ist das erstaunlich, weil man dem Feminismus respektive den vormals so selbstbgewissen Sachwaltern der "Emanzipation" doch immer auch strategische Selbstreflexionen unterstellt hat. Emma und Emanzipation heißt also jetzt, sich von Frau Schwarzer zu emanzipieren, was deren ureigenstes Interesse sein müsste. Es sei denn, sie wäre sich untreu geworden. Dann aber gibt es schon gar keinen Grund, auf Rebellion zu verzichten.

Impressum

Verantwortlich im Sinne des Presse- und Medienrechts:

Dr. Goedart Palm
53111 Bonn - Rathausgasse 9
Telefon 0228/63 57 47
0228/69 45 44
Fax 0228/65 85 28

Email drpalm at web.de

Haftungsausschluss/Disclaimer
Gewähr für die Aktualität und Richtigkeit der Angaben wird nicht gegeben, auch wenn die Seiten mit der gebotenen Sorgfalt erstellt wurden. Im übrigen distanziert sich der Autor der vorliegenden Seiten entsprechend dem Urteil des Landgerichts Hamburg vom 12. Mai 1998 ausdrücklich von den Inhalten dritter Internetseiten. Selbst unabhängig von diesem Urteil, was so fröhlich zitiert und von kaum einem je gelesen wurde, distanziere ich mich grundsätzlich von allen Texten etc., die ich nicht selbst verfasst habe. Für alle Links gilt: Dr. Goedart Palm hat keinen Einfluss auf Inhalt und Gestaltung der verlinkten Seiten. Die Nutzung von Links, die zu Seiten außerhalb der von der hiesigen Websites führen, erfolgt auf eigenes Risiko der Nutzer. Der Verweis auf Links, die außerhalb des Verantwortungsbereiches des Betreibers dieser Website liegen, führt nur dann zu einer Haftung, wenn er von den Inhalten Kenntnis hat und es ihm technisch möglich und zumutbar wäre, die Nutzung im Fall rechtswidriger Inhalte zu verhindern. Für weiter gehende Inhalte und für Schäden, die aus der Nutzung oder Nichtnutzung solcher Informationen resultieren, haftet allein der Betreiber dieser Seiten.