11/28/2009

Bürgerbefragung Festspielhaus Beethoven

Zur „Demokratisierung“ des Festspielhauses Beethoven

Kunst und Demokratie sollten in den siebziger Jahren zusammenkommen. Wenn eine Gesellschaft mehr Demokratie wagen sollte, wieso sollte das nicht auch für die "Kunst" gelten? Schnell differenzierte sich dieser Diskurs: Eine Mitbestimmung in künstlerischen Angelegenheiten sei nicht akzeptabel. Der Künstler müsse in seinen künstlerischen Entscheidungen frei sein. Doch Rahmenbedingungen künstlerischer Praxis seien demokratiefähig. Diese einfache Dichotomie harmonisierte nicht alle Probleme. Wie sieht Mitbestimmung in der Oper aus? Lassen sich hier oder im Theater künstlerische und nichtkünstlerische Inhalte gut trennen? Diese Verbindungslinie zwischen Kunst und Demokratie blieb fragil und war kaum je geeignet, notwendige oder auch nur plausible Entscheidungen zu begründen. Die Diskussion um das Bonner Festspielhaus "Beethoven" ist nun auch an diesen Punkt gelangt. Eine Volksabstimmung über Bau oder Nichtbau soll die Frage sein. Ob es nicht edler im Gemüt wäre, künstlerische Kriterien gegen eine Mehrheit zu verteidigen, brauchen wir also gegenwärtig nicht mehr zu entscheiden. Die Abstimmung über den Musentempel quadriert den erlauchten Zirkel. Denn die dort repräsentierte Kultur ist die eines kleinen Kreises, den dieser Kreis freilich aus mehr oder weniger beachtlichen Gründen erweitern möchte. Würden Mehrheitsargumente oder Bedarfskriterien zählen, wäre historisch nicht viel Kultur entstanden. Vermutlich hätten sich Sklaven nicht zum Bau der Pyramiden bewegen lassen. Aus diesem Argument ist weder für die gegenwärtige Existenz der Pyramiden noch für die Frage, ob man noch mehr Kultur produzieren soll, wenn die Grundbedürfnisse anderer Menschen unbefriedigt bleiben, viel zu gewinnen. Kultur ist Luxus, was sich nicht erst im Blick auf das globale Chaos von Not und Armut erhellt. Insofern sind Kulturausgaben regelmäßig mit moralischen Hypotheken belastet, was den Genuss des kulturbeflissenen Publikums differenzieren sollte. Andererseits hilft Kultur vielleicht bei der Besserung und Erziehung des Menschengeschlechts, sodass auf sehr indirekten Wegen die Kultur doch ihre eigene Art von Notwendigkeit behaupten darf.

Statt allerdings diese schwer bis nicht entscheidbaren Fragen nach der kulturellen Fundierung von Gesellschaften zu wälzen, könnte man hier schlicht nach möglichen Verlaufsformen und Effekten der Abstimmung fragen. "Die Bürgerschaft einbeziehen - Wichtig ist, dass die Bürgerinnen und Bürger auch weiterhin auf dem Weg hin zur Realisierung „mitgenommen“ werden. Dieses wird nur dann erfolgreich, wenn die Bürgerschaft es auch akzeptiert und sich beteiligt fühlt", heißt es auf der Website von Markus Schuck, des Obmanns der CDU-Ratsfraktion im Kulturausschuss. Das ist einvernehmlich und konsensorientiert formuliert, doch die Schräglage einer solchen Mitbestimmung wird hier ausgeblendet. Einem größeren Teil der Bürger dürften Existenz oder Nichtexistenz eines Festspielhauses keine Nachfrage wert sein. Wenn es gelingt, breite Kreise überhaupt zu einer Reaktion zu bewegen, wird die Abstimmung negativ ausfallen. Wer wenig Geld in der Tasche hat, hat wohl kaum Sympathie für Kulturprojekte, an denen er letztlich eher nicht partizipieren wird. Klassik hat, von einigen Prestigeveranstaltungen abgesehen, nur eine kleine Fangemeinde. Warum keine Rock-Arena? Warum kein Sport-Stadion? Wer wie Nimptsch demokratisieren will, gerät in diesen Begründungsregress.

Einige vertrauen auf die Gunst der Bürger, weil die diversen Beteiligten versichern, dass die Stadt Bonn keinen Cent für das fürstliche Haus zahlen wird. Hier wird mal wieder die Zukunft antizipiert. Kostenfallen existieren, wie es unzählige Bauprojekte demonstrieren, zahlreich. Im Übrigen ist das Argument, dass das Festspielhaus nichts kostet, auch kein Plädoyer für die Kunst, sondern eine bloße Beschwichtigung. Ein echtes Bekenntnis zu Kunst und Kultur sieht völlig anders aus. Wenn der Bürger nach sachlichen Kriterien entscheiden soll, dürfte die Beteiligung an der demokratischen Kultur auch nicht weit reichen.

"Wie viel Festspielhaus hätten Sie denn gern", führt uns zu der Frage zurück, wie viele Pyramiden kulturell wünschbar sind. Denn wenn auch notwendige Kapazitäten der Kultur beschworen werden, lässt sich im Zeitalter der virtuellen Reproduzierbarkeit per Internet und Silberscheibe daraus kein überzeugendes Argument gewinnen. Vermutlich lässt sich das Festspielhaus argumentativ überhaupt nicht rechtfertigen: Man macht es oder lässt es. Der Rest ist Palaver. Denn welche Entscheidung man auf welchem Wege, plebiszitär, kommunalparlamentarisch oder verwaltungsbürokratisch, auch trifft, ändert doch nichts an der Konsequenz, dass irgendwer hinterher immer weiß, dass man es hätte anders machen müssen. Die Diskussion um das Festspielhaus ist gefährdet, sich zu einer Farce zu entwickeln, weil die Qual der Entscheidung nun durch Eiertänze ersetzt wird, denen nicht abzulesen ist, ob es sich bereits um Absetzbewegungen einiger vormals Entschlossener handelt oder kulturelle Zahnlosigkeit. Kultureller Enthusiasmus sieht jedenfalls anders aus. Zum Bild einer administrativ zähen Kulturpolitik passt die gegenwärtige Entwicklung indes schon - mit oder ohne Abstimmung.

Dr. Goedart Palm

11/19/2009

Frank Schirrmacher - Payback

Es ist der ewig gleiche Diskurs: Die Gefahren sind groß, der Vorzeichen gibt es viele, auch mir ist schon ganz flau. Halt, da ist ein Weg. Der ist gepflastert mit guten Vorsätzen, Vernunft, Verstand, Hoffnung etc. Und ehe man sich versieht, hat Frank Schirrmacher wieder ein Buch geschrieben. Würde man diese Texte archivieren, müsste man etikettieren: Voluntaristisch angereicherte Halbwahrheiten.

Goedart Palm

11/18/2009

Freiheit und Tod


Eine sardanapalische Interferenz nach und mit Delacroix

11/15/2009

Genealogie eines Blitzes


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Picasso - eine Variation

Markus Lüpertz - eine Minimeditation


Heute, 15.11.2009, führt Markus Lüpertz durch seine Ausstellung in der Bundeskunsthalle in Bonn. Zwar ist seine narzisstische Grundierung in der Selbstbetrachtung erkennbar, aber dabei ist er gleichwohl unprätentiös. Insofern kann er über seine Bilder unangestrengt reden, ohne je in einen Kraftmeier-Gestus zu verfallen. Der Erfolg dieses Malers jenseits seiner Malerei ist seine kommunikative Kraft, die mehr Differenzierungen besitzt als die mediale Gestalt „Markus Lüpertz“. Er sägt Gliedmaßen ab, wenn es den Gewichten dient. Es gehe ihm nicht um Abstraktion, sondern um eine Ebene der Neuerfindung. Immerhin gibt es fast durchgehend den Hang zur Figur, die dann malträtiert, verformt, leidend erscheint. Kann man den malerischen Blick so weit abstrahieren, dass die Form nicht abstrakt, sondern anders, neuschöpferisch ist? Die provokativen Momente dürften nicht zufällig sein, auch wenn sie auf Wahrnehmungsschwächen des Publikums zurückzuführen wären. Das Spiel mit der Tradition ist eben eine Dekonstruktion, die alles das liefert, was Maler braucht, um Wirkungen zu erzielen. Insofern ist Lüpertz ein gutes Beispiel für eine integrale Malerei, die viele „layers“ übereinander legt, auch hier Bedeutungslasuren und formale Lüste ineinander verschachtelt…

Konstanze (Palm) will sich ein Autogramm holen und der Meister schenkt ihr eine kleine Zeichnung.

Goedart Palm

11/14/2009

conditio humana - Madagascar 2

Sicher ist es nicht paradox, in einem Tierfilm nach menschlichen und sozialen Eigenschaften zu fahnden, so wie uns Fabeln just diesen Trick vorführen. Das fabulöse Tier ist eindeutiger in seinen menschlichen Eigenschaften, weil wir hier entdifferenzieren dürfen, um den Kern menschlicher Verhaltensweisen, Liebe, Hass, Gier, Dummheit etc., zu begreifen. Insofern ist der tierische, also in der Fabellogik: menschliche Verhaltenskomplex von einiger Logik, allein die Frage, wie das Groteske eingeordnet werden kann, bleibt bestehen. Das Popcorn-Kino in seinen abstrusen Überschüssen ist leicht wahrzunehmen, aber was fasziniert hier eigentlich? Hinter den emotionalen Grundfiguren verbergen sich bizarre Varianten, die das abundante Geschenk gegenüber evolutionären Aufdringlichkeiten feiern. "Madagascar 2" ist ein kleines Epos, das unter Beweis stellt, dass die Interpretation keine großen Anlässe benötigt, um auf "ewige Wahrheiten" zu stoßen. Etc.

Goedart Palm

11/07/2009

Wilhelm Schmidtbonn - leicht imaginäres Porträt

Robert Schumann - Aquarellskizze

Die Penetranz des Igels

Eleganz oder Penetranz - immer mehr verliert der Roman sein Selbstverständnis. Er pumpt sich auf mit Wissenspartikeln aus allen möglichen Bereichen, wird immer fetter und implodiert schließlich im Nichts. Längst soll das nicht besagen, dass wir hier nur den Ausverkauf von Trivialitäten erleben, obschon diese Grenzgänge zur Schlampigkeit verführen. Man verlässt eine Disziplin auch dadurch, dass man disziplinlos wird. Die "Eleganz des Igels" gehört in diese mehr oder minder stolze Reihe, in der sich z. B. Bouvard und Pecuchet, der Zauberberg, aber auch Sophies Welt befinden. Grenzgänge und Hintereingänge sind legitime Zugangsweisen und -wege. Gleichzeitig erleben wir aber eine mutuelle Mangelverwaltung, der Roman stützt die Not leidende Philosophie und umgekehrt.

Goedart Palm

Robert Schumann - Porträt

11/05/2009

Zwischen Kannibalismus und Kantianismus


Zwischen Kannibalismus und Kantianismus

Zum Tod von Claude Lévi-Strauss

Claude Lévi-Strauss war der große Hexenmeister des Strukturalismus, der zahlreiche Wissenschaftskonzepte seiner Zeit verarbeitete und mit seinen brillanten Analysen weit über die Anthropologie und Ethnologie hinaus berühmt wurde. Paradox formuliert war Lévi-Strauss der Strukturalismus höchstselbst, während diese faszinierende Mode der Welterschließung vom wissenschaftlichen Anspruch her doch bar jeder subjektiven Signatur sein wollte. Lévi-Strauss wurde wegen seiner hohen literarischen Qualitäten mit herausragenden Schriftstellern verglichen, in die Philosophie eingemeindet und teilte das Schicksal diverser französischer Intellektueller, nicht mehr auf eine einzige „Disziplin“ festlegbar zu sein. Er orchestrierte seine Texte musikalisch, etwa seine mytho-kulinarische Schrift „Das Rohe und das Gekochte“, den ersten Band der "Mythologica“, die Referenzen zur Tetralogie Wagners „Der Ring des Nibelungen“ expliziert. Der Wissenschaftler will Werke schaffen, die musikalisch sind, weil die Verwandtschaft von Mythos und Musik Epistemologien eröffne, die weit über das hinausreichen, was bisher vorliege. „Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft“ schlägt 1949 wie eine Bombe in den französischen Wissenschaftsbetrieb ein. Simone de Beauvoir feiert den neuen Superstar in den „Temps Modernes“, um ihn gleich dem Sartreschen Existenzialismus zuzuschlagen.

Claude Lévi-Strauss arbeitete aber anders als die Existenzialisten auf der Schnittstelle von Natur und Kultur, jenem, auch politisch brisantem Transformationsort, der wirkungsmächtig mit Rousseau in Philosophie und Politik eingeleitet wurde. Dessen radikale Zivilisationskritik nahm Claude Lévi-Strauss teilweise auf, um dem inzwischen anrüchigen Kolonialismus auch die wissenschaftliche Rechnung zu präsentieren. Er war der Auffassung, dass die Ethnologie seiner Bauart in der Lage wäre, Kolonialdesaster, die aus dem überheblichen Nichtbegreifen fremder Kulturen möglich werden, zu verhindern. Das Wissen um das wilde Denken, das nicht weniger raffiniert gebaut sei als das vorgeblich aufgeklärte, eröffnete einen völlig neuen Blick auf die traurigen Tropen. Die Demontage des imperialen Blicks auf die Wilden lag in der Luft. Aber erst Claude Lévi-Strauss hat ein multidimensioniertes Fundament in der kritischen Nachfolge des Positivismus eines Auguste Comte und der empirisch aufgerüsteten Soziologie Emile Durkheims vorgestellt, das vor allem durch die linguistische Methode geprägt wurde. Als die strukturalistische Mode blasser wurde, gab es viele Denker, die eilig versicherten, alles, nur keine Strukturalisten zu sein. Claude Lévi-Strauss dagegen war bekennender Superstrukturalist. Er fahndete ständig nach Strukturen, die dem jeweiligen Forschungsobjekt zugrunde lagen, von denen sich der Wissenschaftler nicht ablenken lassen darf durch vordergründige Inhalte der Mythopoiesis. Das intrikate Zusammenspiel der Elemente lernte Claude Lévi-Strauss maßgeblich in Roman Jakobsons Linguistik-Vorlesungen, die er als „eine Art Blendung“ erfährt und von Ferdinand de Saussure, der die Arbitrarität der Zeichen betonte, die erst im System zu „leben“ beginnen. Berühmt sind Strauss´ Untersuchungen über die Verwandtschaftsbeziehungen und das Inzestverbot. Wurde das Inzestverbot zuvor biologisch und moralisch interpretiert, bestand Claude Lévi-Strauss darauf, dass die sozialen Konsequenzen dieses Instituts erst den kommunikativen Raum konstituieren, der für den Fortschritt von Gesellschaften selbstverständlich ist. Plastisch formuliert: Wer seine Schwester heiratet, kann nicht mit seinem Schwager fischen gehen. So wird das Inzestverbot ein prägnanter Ausdruck für die Umwandlung einer vormals naturalistischen Betrachtung der Konsanguinität zu einem zentralen Kulturmoment menschlicher Allianzen. Claude Lévi-Strauss hat mit diesen Erkenntnissen auf der Schnittstelle von Natur und Kultur einen nicht geringen Teil des wilden Bodens urbar gemacht und zugleich die Kultur des Westens reflektiert. Dass wir selbst gegen jedes Selbstverständnis Wilde bleiben, wurde später in einer weiten Literatur zwischen Zeitgeist und Wissenschaft zum allfälligen Untersuchungsgegenstand. Allerdings könnten diese Dezentrierungen der europäischen Selbstgefälligkeit – wie immer – nicht die ganze Wahrheit sein. Roger Callois hat sich mit Claude Lévi-Strauss fundamental entzweit, weil dieser Strukturalismus die Unterschiede zwischen den Kulturen ausblenden würde. Claude Lévi-Strauss würde durch den Splitter im eigenen Auge daran gehindert, die Balken in den Augen der anderen zu sehen. Kulturen, die Kannibalismus und andere Widerwärtigkeiten kennen, würden hier künstlich aufgewertet, während der Westen durch seine Neugier und seine Wissenspraxis diesen Kulturen gegenüber überlegen sei. Claude Lévi-Strauss reagiert auf diesen eurozentrischen Machtgestus sauer: Man möge sich nicht in der Küche umsehen, um über Moral zu urteilen, sondern die Zahl unserer Tötungen mit denen der Papuas vergleichen.

Psychologie, Biologismen und ähnlichen Deutungsmustern wurde damit der Prozess gemacht. Doch die abstrakte Kodierung der Mythologeme setzte sich dem Verdacht aus, eine Art von Neo-Kantianismus zu predigen, der darin besteht, das transzendental Kollektive wider die soziokulturellen Differenzen zu konstruieren. Die Codierungen, die es aufzuspüren galt, fanden sich programmgemäß über die Grenzen der jeweiligen Ethnien hinaus, was aber für den Ethnologen nicht zum Verzicht auf genaue empirische Beobachtungen werden darf. Ihre Regeln zu erkennen bedeute, das System zu verstehen, nach dem Gesellschaften und Menschen funktionierten. Der Ansatz war kühn bis kopernikanisch, weil von den manifesten Inhalten gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen nun auf abstrakte Schaltungen der mythologischen Elemente umgestellt wurde. Niemals wurde dieses entsubjektivierte Verfahren deutlicher als in der späten lakonischen Aussage des buddhistisch inspirierten Meisters: „Ich bin fest davon überzeugt, dass das Leben keinen Sinn hat, dass nichts irgendeinen Sinn hat“. Skeptiker wie Claude Lefort sahen das kritischer, wenn er ein Grundproblem des Strukturalismus formuliert: Die mathematischen Modelle verdrängten die Wirklichkeit. Das Risiko, Modelle als Seinstatbestände auszugeben, lauert bei allen Untersuchungen, die Phänomene symbolisch „hochrechnen“, um nicht im „Realen“ zu ertrinken. Ausdrücklich erklärt Lévi-Strauss im Bezug auf das Werk von Marcel Mauss die Autonomie des Symbolischen wie des Signifikanten im Blick auf die Unabhängigkeit der Sprache und der Verwandtschaftsregeln. Vielleicht konnte er das Chaos der „frei flottierenden Signifkanten“ nicht voraussehen, die sich gleichsam wie terroristische Viren in den postmodernen Körper einschlichen, ja ihn letztlich substituierten. Denn so verdienstvoll die Erkenntnis von Bedeutungsverschiebungen in der jeweiligen artikulatorischen Praxis auch war, so blieben die Standortbeschreibungen, in denen sie zu Bedeutungen, sprich: Signifikaten, hätten werden können, in den späteren Aufgipfelungen des Poststrukturalismus oft genug aus. Nicht nur Revolutionen, auch Modelle können ihre Kinder fressen.

Das Verdienst Claude Lévi-Strauss´ bleibt indes die neue Sichtweise auf die Konstruktion von Kulturen, deren Regeln tiefer gelegt sind, als es die rationalen Rekonstruktionen und Selbstverständnisse zu wissen glauben. Die strukturale Anthropologie hat immens zum Verständnis der Kulturen und ihrer Kommunikationsweisen beigetragen, während die konkreten gesellschaftlichen Bedingungen, die Entwicklungsunterschiede und anderen Weltentfaltungsmomente nicht jederzeit zureichend gedeutet werden können. Insofern sind Claude Lévi-Strauss Erkenntnisse in einer globalisierten Welt weiterhin wertvoll. Welchen Codierungen folgen islamistische Terroristen? Gibt es hier übergreifende Regeln, die sie mit allen anderen Terroristen gemein haben, was konfliktgeladene Exkurse in religiöse Dogmatiken bedingt wertvoll erscheinen ließe. Das Problem der Wirklichkeit bleibt auch nach Claude Lévi-Strauss´ Erkenntnissen ihre Unbotmäßigkeit gegen ihre Verortung im Spiel der Signifikanten. Der Strukturalismus hat das Subjekt, den Menschen zugunsten von Codes, Regeln, Ordnungen, Systemen verdrängt und das war zunächst heilsam, doch hatte man die Rechnung ohne den Wirt gemacht, wenn das verdrängte Subjekt für Dynamiken verantwortlich zeichnet, die in diesen Hallen der strukturalen Anthropologie keinen Platz hatten. Der Strukturalismus ist eine wissenschaftliche Episode geblieben, die im Höhenrausch eines Paradigmas begann, um auf sperrige Wirklichkeiten zu treffen. „Entkolonisierung“ könnte dieser Welterschließung nach in letzter Konsequenz eine globale Maßnahme der Entsorgung der Erde vom Menschengeschlecht heißen, da Claude Lévi-Strauss ähnlich wie Michel Foucault das Ende der Welt nicht als Schlussveranstaltung des selbstgewissen Menschen sieht. Ob daher der Strukturalismus humanistisch ist oder nicht, mag angesichts der Absicht von Lévi-Strauss, die Anthropologie in eine „Entropologie“, eine Wissenschaft von den soziokulturellen Desintegrations- und Zerfallsprozessen zu verwandeln, Stoff für endlose Räsonnements liefern. Gegenüber diversen gegenwärtigen Fortschrittsnaivitäten liefert dieses Konzept aber weiterhin zahlreiche Anregungen, hier bei unseren zivilisierten Wilden nach der Auflösung sozialer Ordnungen und ehedem approbierter Formen des Zusammenlebens zu fragen.

Goedart Palm

11/03/2009

Nikolaj Gogol - Die lebenden Seelen

Warum ist/sind "Die toten Seelen" ein großer Roman?

Gogol gelingt es, Figuren zu schildern, die sich im Kontext ihrer jeweiligen Umwelt als gleichermaßen skurril wie hoch angepasst erweisen. Dabei bleiben sie plastisch, auch wenn ihre Charaktere bei psychologischer Rekonstruktion nicht immer völlig plausibel sein mögen. Gogols Thema ist die soziale Evolution, die Einbettung des Menschen in einen sozialen Kosmos, der mutatis mutandis immer so beschrieben werden könnte. Gogols Blick ist in letzter Konsequenz hart und realistisch, auch wenn diese Perspektive durch spekulative oder romantische Momente abgemildert scheinen. Gogol sorgt sich um die Aufmerksamkeit des Lesers, agiert gleichsam auf mehreren Baustellen, nimmt Multiperspekiven ein und ist daher ein genuiner Romancier. Von einigen seiner Nachfolger unterscheidet er sich dadurch, dass er nicht der relativen Unsitte des "Shandyisierens" verfällt, obwohl ihm die Lust dazu immer in den Fingern juckt. Gogol beschreibt Menschen technisch, sodass wir ihre Beweggründe nicht wirklich kennenlernen, stattdessen präsentiert er eine Handlungslehre, die nicht gefährdet ist inaktuell zu werden. Cicikow respektive Tschitschikow existiert unter vielen Namen in jeder Gesellschaft, mögen einzelne Module fehlen oder hinzutreten. Die Aufgabe des Lesers bei der Lektüre Gogols: Welche Figur wäre ich in diesem Universum? Begreift der Leser das, weiß er (fast) alles über Gogol.

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