11/22/2008

Fernsehkritik

"Banal, voraussehbar" versus "Zu kompliziert, unglaubwürdig", lese ich in einer Programmzeitschrift. Gehen wir von einem System aus, so stellt sich die Frage, um welchen Wert es geht. Ist Wahrscheinlichkeit das Ideal dieser Kritik? Also funktioniert das nach dem Prinzip einer erträglichen Komplexität, die sich plausiblel auflöst. Etwas Chaos schon, aber keine wilden Konstruktionen. Nun wird schnell klar, dass diese Kritik nicht weit reicht, wenn wir ernst nehmen. Denn die große klassische Chaos-Erzählung "Odyssee" ist unwahrscheinlich. Unzählige Liebesgeschichten von literarischer Qualität und ohne diese sind voraussehbar bis simpel. Ohnehin gibt es nur eine begrenzte Zahl von narrativen Grundtypen. Somit hilft uns das Schema der Fernseh-Programmzeitschrift nicht sehr viel weiter und doch werden wir das Gefühl nicht los, dass solche Kriterien nicht völlig illegitim sind. Müssen wir die Erzähltypen auf emotionale Verhältnisse beziehen, um eine bestimmte Relation als qualitativ akzeptabel ansehen zu können? Oder sind Plot-Beschreibungen als Ausgang einer litarischen, cineastischen Kritik nicht völliger Unsinn? So bleibt das Problem, dass Kritik zwar von Werten handelt, aber selbst zu oft völlig wertlos ist.

11/08/2008

Swamp Blues

Swamp Blues
Goedart Palm 05.11.2008
Zur parareligiösen Hoffnung der Demokraten aller Parteien
Die US-Politik folgt seit einigen Jahren dem Skript eines Philip K. Dick-Romans. Am Anfang erscheint alles relativ normal. Dann poppen plötzlich die Zerrfratzen einer unerträglichen Traumwelt auf, um den Glauben an die Wirklichkeit gründlich zu zerstören. Schließlich ist alles wieder normal, doch längst wissen wir nicht mehr, ob wir wieder in der Wirklichkeit angekommen sind. >>

10/23/2008

Elke Heidenreich Ende einer Liasion

Das ZDF beendet die Zusammenarbeit mit Elke Heidenreich, nachdem diese sich in der Nachfolge von MRR auch über das Niveau des Fernsehens, konkret des ZDF, erregt hatte.
Das Problem liegt doch schon länger in der Selbstgefälligkeit von Moralisten, die selbst dem Medium abzwecken, was abzuzwecken ist und dabei moralisch integer sein wollen. Das Problem liegt ebenso darin, ein Medium, das man selbst bedient, nicht zu erkennen und weder Enzensbergers noch Postmans Fernsehkritiken je in den Köpfen angekommen sind. Die Sendung von Frau Heidenreich kann man so gut oder schlecht wie irgendetwas in diesem Medium verschmerzen. Dass Deutsche aus "Nichts" eine gleichermaßen gravitätische wie blecherne Moralangelegenheit machen, bestätigt unsere besten Vorurteile. Mir wird der Verlust nicht auffallen, Literatur als Häppchen-Angebot ist wenig aufregend. Erheblich interessanter sind die Selbstüberschätzungen des Kulturbetriebs, die auf Explosionen hoffen, während doch Implosionen so viel wahrscheinlicher sind.

9/05/2008

Materialismus und Gefühl - Paul Henri Thiry Baron d'Holbach

Liest man das Système de la nature (1770) von Paul Henri Thiry Baron d'Holbach und vergleicht das mit Manon Lescaut oder ähnlich emotional aufgeladenen Werken, wird in der Beschreibung der Gefühle schnell klar, dass jedenfalls auf einer semantischen Ebene der blanke Materialismus herrscht. Das Gefühl lässt sich nicht ausdrücken, also wird es semantisch als Gefühl gekennzeichnet. Es ist durchaus verständlich, warum das funktioniert: Wir verbinden mit dem Begriff eines Gefühls so viele Projektionen, dass der Autor schon gewonnen hat.

8/30/2008

Armer, armer Babelfish

Ihr Fonds wird jetzt mit einem Finanzfirmenversicherungsnehmer in Ihrem Namen abgelegt. Deshalb wird kein Abzug überhaupt erlaubt, um von Ihrem Fonds gemacht zu werden. Wie man erwartet, berichten Sie dem Ausschuss, wenn das durchgebrochen wird. Wegen Mischung und verwechseln von einigen Zahlen und Namen, fragen wir, dass Sie diesen Preis von der Bekanntheit abhalten, bis Ihr Anspruch bearbeitet worden ist und Ihr Geld zu Ihrem nominierten Bank Konto erlassen worden, weil das ein Teil unseres Sicherheitsprotokolls ist, doppelte Behauptung oder das unberechtigte Ausnutzen dieses Programms durch Teilnehmer zu vermeiden.

Völkerverständigung bleibt also ein Problem. Aber doch gut,dass kein Abzug erlaubt ist. Man fühlt sich einfach sicher im Netz.

8/27/2008

Die Gärtnerin aus Liebe

http://www.goedartpalm.de/gaertnerin.htm

13./14./16./17. Sept. 08 und 01./03./04./08./10./11. Okt. 08 Halle Beuel (Lampenlager)Siegburger Str. 42.

Der Podesta liebt Violante, diese liebt aber noch Belfiore, der sie aus Eifersucht niederstach. Belfiore hat sich aber inzwischen neu verliebt in Arminda, die wiederum vergeblich von Ramiro begehrt wird...

Gibt es eine Auflösung aus diesem verwirrenden Reigen? Mozarts Verwirr- und Versteckspiel um Gefühle junger Menschen neu interpretiert von jungen Sängern und Musikern.

Projektleiterin Solveig Palm und Regisseur Nikolaus Büchel arbeiten schon seit Januar 08 in monatlichen Workshops mit ca. 30 jungen Leuten und musikpädagogischer Begleitung an Mozarts „reifem“ Jugendwerk, das noch nie in Bonn zu sehen war.Eine jugendfrische Interpretation des frühreifen Werks vom 18jährigen Mozart, das dramatische, psychologische und musikalische Elemente von "Cosi fan tutte" und "Figaro" vorwegnimmt.Die Aufführungen finden statt auf dem Gelände der Halle Beuel, Bühne „Lampenlager“ Eintritt: 12,- €,Schüler und Studenten: 6,- €

Es singen:Arminda: Andrea Graff/Mareike Müller, Sopran Belfiore: Nico Heinrich, Tenor Nardo: Frederik Schauhoff, Bariton Podesta: Philipp Werner, Tenor Ramiro: Milena Stefanski, Mezzo-Sopran Serpetta: Christine Heßeler/Joanna Lissai, SopranViolante: Elena Harsanyi/Tatjana Zeller, Sopran

Es spielen:
Klavier (Korepetition): Michael Beese, Waldemar Kinas
Violine: Elena Kapitza, Leonie Wissing
Violoncello: Daphne Bielefeld, Hanna Bölting
Flöte: Freya V. Fleckenstein, Thanh Mai Nguyen
Oboe: Gesine Hustedt, Fabienne Krentz
Trompete: Frederik Schauhoff

Produktionsleitung, Texte, Dramaturgie: Solveig Palm

Regie, Texte: Nikolaus Büchel

Musikalische Leitung: Sebastian Breuing

Gesangskorrepetition: Kerstin Hoevel

Arrangement: Sebastian Breuing, Philipp Werner

Früher begann der Tag mit einer Spam-Mail

We wish to notify you again that you were listed as a beneficiary to the total sum of £4,600,000.00GBP (Four million Six hundred thousand British Pounds Sterling) in the intent of the deceased (names now withheld since this is our second letter to you). We contacted you because you bear the surname identity and therefore can present you as the beneficiary to the inheritance since there is no written will.
Our legal services aim to provide our private clients with a complete service. We are happy to prepare wills, set-up and administer Trusts,carry out the administration of estates and prepare and administer
powers of attorney.
All the papers will be processed in your acceptance. In your acceptance of this deal, we request that you kindly forward to us your letter of acceptance your current telephone and fax numbers and a forwarding address to enable us file necessary documents at our High court probate division for the release of this sum of money.

Ach ja, der Onkel aus London: Just diesen Text schicken diese Witzbolde an undisclosed recipients. Hoffen wir, dass die hoffnungsfrohen Fruktifikanten so glücklich wie ich bin. Im Geld schwimmen, ein Email lang.

8/26/2008

Filmmusik Kubrick Tarantino

Selten verbindet sich Filmmusik so mit den Bildern, dass die Musik selbst davon lustvoll infiziert wird. Die Probe, die man auf das "Exempel" machen kann: Die Musik kann in der Folge nicht mehr ohne diese Bilder gehört werden. Kubrick und Tarantino gelangen (mitunter) diese Kolonisierungen fremder Musik. Die Musik wird hier in den Bildern neu erfunden. Zumeist ist das Verhältnis von Bildern und Musik eher eine Liasion auf Zeit, eben während der Zeit, während du diese Bilder siehst. Danach steht die Musik wieder zur Verfügung...

8/20/2008

Wally Cox

Gerade Wally Cox in einem amerikanischen Ratespiel gesehen, das später von Robert Lembke unter "Heiteres Beruferaten" bekannt wurde. Gibt es schon eine Studie, die sich mit diesen Dauerplagiaten im Deutschen Fernsehen befasst, die so ungeniert kopiert wurden, weil das Publikum keine "Satelliten" und ähnliches besaß. Kulturelle Isolation war der Standard. Alles wurde fast alles zur Überraschung. Die Zeiten sind vorbei. Demnächst wird es Synchronübersetzungen geben, die der User selbst programmieren kann. Dann wird die Konkurrenz im Kultursektor diabolische Dimensionen entfalten.

8/11/2008

Django und andere Kinogeschichten

Mehr erfahren wir auf den Filmseiten der Virtuellen Textbaustelle von Goedart Palm >>


Django
"Django ist ein stilbildender, brutaler Italowestern..." heißt es bei Wikipedia zu dem 1966 von Sergio Corbucci gedrehten Film. Django begründete einen Mythos, sowohl in seiner cineastischen Inszenierung wie in der Stilisierung des Helden, der nicht nur auf den Spätwestern beschränkt ist. Doch alle diese Mystifikationen gleichen die Schwächen dieses Films nicht aus. Wenn man sich vom Schock des Spätwesterns erholt hat, kann man genauer hinschauen: Django hat im Prinzip kein Tötungsmotiv. Diffus geht es um Rache, aber diese Rache hat dann mehr Spielcharakter. Er riskiert viel, nur um einer nicht nachvollziehbaren Temporallogik zu folgen. Sein Widersacher könnte längst dingfest gemacht sein und damit auch viele Morde verhindert werden, aber Django verhält sich wie eine Katze, die noch ein wenig oder ein wenig mehr spielen will. Der Film ist typenarm, es gibt nur Django, gefährliche Freunde und Widersacher - und ein wenig Staffage. So trostlos die Mainstreet, die ewig in Schlamm versunken ist, so trostlos sind die Prospekte der Handelnden. Django, und das ist vielleicht der schlimmste Schock für den aufrechten Cineasten, agiert reichlich trivial. So führt er ein Maschinengewehr vor, in dem er die halbe Einrichtung eines seiner Sympathisanten zerstört. Spätestens das macht ihn zum Idioten - und keineswegs, wie einige wohlmeinende Kritiker meinen, zum Zyniker. Django ist offensichtlich bekennender Soziopath mit der Tendenz zur Armseligkeit. Jodorowskys "El Topo" ist viel,viel differenzierter, hier werden die Dinge auf den Punkt gebracht, für die Corbucci keine Sprache besaß.

Mehr erfahren wir auf den Filmseiten der Virtuellen Textbaustelle von Goedart Palm >>

Eine wichtige Filmkritik zu "Celine und Julie fahren Boot" finden wir hier >>

Russian girl - "viel schlechte russischen Madchen"

Spams sind oft kreativ, mindestens ebenso oft aber auch Beispiele dafür, dass die Dummheit in menschlichen Beziehungen grenzenlos sein muss:

"Ich habe viel Begeisterungen. Ich werde dir uber mich mehr in jedem Brief erzahlen. Ich ebenso will uber dich mehr erfahren. Ich wei? dass im Internet
viel schlechte russischen Madchen die sind wollen von den Mannern nur des Geldes. Ich will dir sofort sagen dass mir das Geld, um nicht notig bin, in Deutschland anzukommen. Meine Freundin und ihr Mann werden mir das Geld geben damit ich in Deutschland ankommen konnte und werden mir die Arbeit in ihrer Firma geben."

Ist ja ganz großartig: Dieses Mädchen ist nicht schlecht (wie die anderen), will kein Geld, hat viele "Begeisterungen" und will zudem mehr über westeuropäische Männer wissen. Das "Madchen", das vermutlich von seinen eigenen "Begeisterungen" weniger weiß als von seinen Verkörperungen, scheint mir weniger interessant als die Adressaten, die darauf antworten, um "mehr" zu erfahren, wenn man doch schon alles weiß.

8/08/2008

Rodney Brooks, Menschmaschinen. Wie uns die Zukunftstechnologien neu erschaffen

Brooks war mir schon vorher aufgrund einiger öffentlicher Statements bekannt. Das Buch umreißt gut eine Position, die mir sympathisch ist, weil er ein unaufgeregter Zeitgenosse ist, der in zahlreichen Ansätzen überzeugt. Ohnehin bewege ich mich in demselben Lager, weil ich auch Theoretiker nicht ernst nehmen kann, die dem Menschen eine - überzeitlich - einzigartige Stellung in der Welt einräumen. Geht man von dieser Prämisse aus, ergibt sich der Rest fast wie von selbst.

Ein Online-Text zum Thema von Goedart Palm unter Telepolis >>

8/05/2008

Shaft

Der "neue" Shaft mit Samuel L. Jackson in der Hauptrolle muss jeden Vergleich mit dem Original scheuen. Jackson spielt die Rolle zwar mit einer gewissen Lässigkeit im Comic-Stil, was dem Thema streckenweise angemessen ist, doch - horribile dictu - er ist nicht wirklich cool. Richard Roundtree war cool, ja mehr: er hat diese Art der Coolness kreiert. Shaft war das Symbol für Schwarze, die sich nicht mehr für dumm verkaufen lassen. Shaft spielte mit der Rassenfrage. Seine Präsenz ließ keinen Zweifel, wer hier wirklich smart war. Shaft II ist kein Remake, es ist auch kein Abklatsch, Shaft II arbeitet unter einer anderen Firma: Action. Das Rassenproblem, das der Film vordergründig erörtert, hat nicht mal den Ansatz in der Erzählung, überhaupt ernst genommen zu werden. Der Killer ist ein stupider Psychopath, der am Rande bemerkt völlig unlogisch konstruiert ist - er hat eine Million Euro Kaution übrig, aber muss als Dealer arbeiten, weil ihm der Verkaufserlös aus dem Schmuck seiner Mutter gestohlen wurde. Reicher Weißer oder dummer Fuzzi, der Film weiß es nicht so recht, wir auch nicht und wir brauchen es auch nicht zu wissen. Wir schauen uns lieber den Original-Shaft an, denn so cool wie damals werden wir nie wieder sein.

7/15/2008

One plus One - Godard - Goedart Palm

'One Plus One' does not mean 'one plus one equals two'. It just means what it says, 'one plus one'

In den sechziger Jahren war Jean-Luc Godard der cineastische Großmeister schlechthin. Die Mischung von One plus One war brisant: Black Panther, The Rolling Stones, Jean-Luc Godard, London 1968. Eine Montage aus Proben der Stones, Spielszenen, running stills. Heute nicht mehr shocking, die Black Panther sind revolutionäre Schwätzer, die mit dem üblichen dogmatischen Duktus auftreten. Im Interview wissen sie alles, die Praxis lässt zu wünschen übrig. Die Stones sind nicht schlecht, aber weit entfernt davon, genialisch zu erscheinen. Mick Jagger ein Sexsymbol? Das setzt Fantasie voraus. Auch "Sympathy for the Devil" hat seine diabolischen Grenzen. 

Running stills: Der Porno- und Pulp Fiction-Verkäufer verkauft seine Schmuddellektüre für den Führer-Gruß. "Cinemarx" und "Sovietcong" sind zwei Wörter, die deshalb noch lange keinen Sinn machen. Godard montiert und montiert, bis die Erkenntnis dämmern soll, dass Politik und Pulp keine diskreten Größen sind. Das Wort "Ausbeutung" sagt nicht viel über die Verhältnisse und Godard filmt keinen Essay, sondern eine Collage. Die analytischen Sätze sind einige Fetzen von Fremdtexten, etwa jene Beschwörung des schwarzen Mannes über die Kolonisierung seines Geistes durch die weiße Frau ("I believe that all these problems - particularly the problem between the white woman and the black man must be brought out into the open, dealt with and resolved. I know the black man’s sick attitude toward the white woman is a revolutionary sickness. . . The price of hating other human beings is loving oneself less."). Eldridge Cleaver ("But we were also Marxist in our orientation, which is like totally economics. Do you see what I'm saying. So we understood the relationship to our freedom and our access to our economic remuneration and not just a little job because that is whimsical. The man on top can change that any time he wants to." ) ist zugleich KING KONG. Welche Naivität, der Mythos des Mannes an der Spitze, der alles ändern kann, der liebe Gott? Der gleiche Programmatiker verkündet: "All the gods are dead except the god of war." Godard ist auf derselben Höhe der Krieg-Kultur-Logik: "..to make the film simply as possible, almost like an amateur film. What I want above all is to destroy the idea of culture. Culture is an alibi of imperialism. There is a Ministry of War. There is a Ministry of Culture. Therefore, culture is war." Zwar lange vor Huntington gesagt, aber höchst kurzschlüssig, denn längst war Godard zu diesem Zeitpunkt selbst ein hoch akzeptierter Exponent eben dieser Kultur, von der man bestenfalls/schlechtestenfalls sagen konnte, dass sie alles absorbiert, weil der unfreiwillige Mix schon vor der Postmoderne zum Medienstandard wurde. Doch diese Kritik ist vordergründig. Der Film hält ein Versagen fest, das zu riskieren mehr wert war als ein Großteil der Filmproduktionen jener Jahre auch nur ahnte. Godard wollte, wie auch in diversen anderen Filmen, das Medium in seiner Analyse politischer wie kultureller Verhältnisse selbst sprechen lassen. Das Medium ist die Botschaft der Botschaft. Die Bilder existieren nur noch in Überlagerungen, sie dekonstruieren sich, wenn sie aufeinanderprallen. Die Organisation des Films selbst wird zum Thema, ohne den unverbindlichen Weg reiner Experimente zu gehen. Fundamental: Was kann ein Film aussagen? Der Film begründet keine neue Wirklichkeit, sondern kommentiert sie, ohne sich noch länger auf seine Mittel verlassen zu können. Daraus entsteht Chaos, ein Chaos, das eben nicht dem der vorgängigen Wirklichkeit so fremd ist. Damit folgen auch diese Demontagen der Ordnung mindestens untergründig einer Korrespondenz von Wirklichkeit und Film. Wie oft die Wahrheit in der Sekunde aufleuchtet, ist freilich nicht zu parametrisieren. 
 

7/14/2008

Der Einbruch der Schriftkultur

Wenn die Zahl der Auslassungen und Rechtschreibfehler wächst, nehmen wir das als Zeichen der Zeit. Heute schreibt mir eine, die "Känzelung" dieser Absicht sei dann und dann erfolgt. "Känzelung" ist ein Wort gewordenes Ungetüm, das schlimmste Schmerzen schon bei oberflächlicher Berührung auslösen müsste. Doch diese Schmerzen werden seltener, bald schon werden wir völlig schmerzlos falsch schreiben und unsere Kommunikationsmoral jedenfalls nicht in der Orthografie suchen. Manches Komma wird den Freitod wählen. Vielleicht gibt es dann eine Bewegung für den Schutz ungeborener Satzzeichen...

Medientheorie - auch die haben wir so geliebt!

Vermutlich ist Medientheorie ein Irrtum, weil das Gegenstandsfeld so wenig statisch ist, dass jede Theorie Gefahr läuft, mit kürzesten Halbwertszeiten obsolet zu werden. Ohnehin bedeutet Theorie, Wirklichkeit so zusammenzufassen, dass eine mögliche Praxis mit ihr verbunden sein könnte. Hat je eine Medientheorie Medienmanifestationen maßgeblich geprägt? Wurden mediale Ereignisse nur per Theorie möglich oder hechelte die Medientheorie einigen Phänomenen nach, die sich bei näherem Zusehen als wenig willfährige Medienobjekte erwiesen? Theorie ist ein Handwerkszeug, mehr nicht. Wenn das consensus omnium wäre, wären wir ein großes Stück weiter. Für Theorie heißt das wie für jede "engine": Entweder sie funktioniert oder sie tut es nicht. Zwar mögen falsche Theorien richtige Theorien fördern und solche Umwege muss man akzeptieren so wie sieben Brücken oder sieben Fässer Wein. Doch eine Theorie, die selbstreferentiell bleibt, genießt sehr schnell einen Einsamkeitsstatus, der ihre - neudeutsch gesprochen - Anschlussfähigkeit beeinträchtigt. Medientheorie, so wie sie heute praktiziert respektive gelehrt wird, ist ein müßiges Geschäft, das für hoffnungsvolle Karrieren eher nicht mehr in Betracht kommt.

7/13/2008

Fotografien einer eiligen Familie

Angelina Jolie bekommt Zwillinge, die Fotografien der Großfamilie Jolie/Pitt werden für Millionen Euros exklusiv verkauft. Mehr kann man vermutlich nur mehr bekommen, wenn man Originalbilder der hl. Familie anbieten könnte, was allerdings mit massiven Zweifel an deren Authentizität verbunden sein dürfte. Bei der lebenden Schauspieler-Familie ist das anders. Doch was sieht man da, was man nicht weiß, wenn man es weiß. Neugeborene sind vor allem für ihre jeweiligen Eltern aufregend. "Ganz der Vater, ganz die Mutter" passt auf alle. Warum also zahlt einer für Bilder, die ohne jeden Informationswert sind, erhebliche Summen? Devotionalienbilder sind ohne Information, sie sind einfach nur als selbstreferentielle Objekte da, zeigen also auf sich selbst: So ist es. Das macht sie anbetungswürdig, auch wenn das im vorliegenden Fall eine Wahrnehmungsaffäre von einigen Sekunden nur sein wird.

7/09/2008

The art of filmmaking

Theoretiker verausgaben sich, um Filmästhetiken zu begreifen, wenn sie den Konstruktionsprinzipien eines Films folgen. Die Werkberichte von Regisseuren reichen oft, um ihren Erfolg/Misserfolg zu verstehen. Das Machen von Filmen folgt keiner ästhetischen Programmierung, sondern eher einem Kochbuch. Nimm bestimmte Ingredienzien und der Film sollte funktionieren. Inhalt, Plot, Sinn, Bedeutung und Wahrheit sind auch nur Ingredienzien des Films. Tarantino sagt zu "Reservoir Dogs": Ich hätte diese Schauspieler auch mit weißen T-Shirts vor einer weißen Wand spielen lassen können. Es wäre großartig geworden, weil es großartige Schauspieler sind. Das klingt einfacher, als es ist. Denn es gibt Flops, die fantastisch besetzt sind. Stimmt der Kontext der Schauspieler nicht, wird die Regie weißer T-Shirts längst keine formidablen Ergebnisse zeitigen. Das Rezept ist gut, doch nicht der Koch, sondern sein Gast entscheidet. Also bleibt die Kunst ein Geheimnis, so luzide sie sich auch geriert.

7/06/2008

Demokratieverdrossenheit Politikverdrossenheit Anne Will 6.Juli 2008

Wenn Politiker über Politikverdrossenheit reden,bestätigen sie den Befund performativ. Es ist analytisch nicht einmal notdürftig, den Glauben an demokratische Politik hoch zu halten und dann jede Erklärung schuldig zu bleiben, warum demokratische Politik Aktzeptanzverluste erlebt. Es ist einfach zu erklären, dass Bürger Lust auf Politik verlieren, wenn die Regelbarkeit der Verhältnisse so unwahrscheinlich erscheint und gerade Parteienzwist zur Selbstverwaltung verkommt. Spaß an Politik entwickeln vermutlich gerade jene, die ihre Pfründe dem Glauben an die Ratio des Politischen verdienen. Es ist zu viel verlangt, dass wir ihren Glauben deshalb schon teilen sollten. Politik wäre allein dann glaubwürdig, wenn ihre Prätention, die Verhältnisse zu verändern, sichtbar wäre. Beschwörungen führen da nicht weiter. So wenig wie diese Talkshow vom heutigen Tage.

Dazu mein "Klassiker" >> Journalismus und Mediendämmerung >>

Ferner auch: Die Banalität der Guten
Goedart Palm 20.09.2009

Politik in den Zeiten von Pest und Cholera

7/05/2008

Hitler in effigie

Heute hat einer dem Wachs-Hitler den Kopf abgerissen. So ist es meistens, ein wohl stammesgeschichtlicher Gestus, wenigstens das Bild eines Feindes zu vernichten. Bildersturm ist ein Atavismus. Bildmanipulationen sind Derivate dieses Bildersturms. Die Medien müssen auch das nachvollziehen, was zuvor nicht erfolgreich war. Medienzuständigkeiten, die klar machen, dass nicht lediglich avancierte Funktionen zu avancierter Technik gehören. Also kann man Kubricks berühmten Matchcut auch umdrehen, plötzlich haben wir wieder einen Knochen in der Hand, freilich mit password-Funktion.

Weimar, Goethe, Schiller und die Authentizität des Nippes

Wanderer kommst Du nach Weimar, begegnen Sie Dir überall. Goethe und Schiller als Klein- und Großplastik, aus Porzellan und jedem erdenklichen Material. Klassisch kann auch der Nippes sein. Klassik schützt vor Kitsch nicht. Die Häuser der beiden Großdichter erscheinen mir wenig authentisch. Danach hing das Antlitz Schillers über dem Bett seiner Frau. Seine Wohnung wäre der narzisstische Overkill gewesen. Hier wurden offenbar eifrig nachinstalliert. Es gibt nur eine Aussage: Hier ist der Dichter gewesen, hier ist er anwesend. Die Geschichte guckt dich an. Diese Prätention funktioniert nicht, weil der Aufenthalt der beiden Nationaldichter fetischisiert wurde, ohne dass die Fetische besonders sprechend wären. Mit einem Wort: Man muss sie lesen. Aber wer tut das schon noch, wenn die flüchtige Vitrinenkultur so viel schneller zu goutieren ist?

7/01/2008

Cybermobbing und andere Formen virtueller Höllen

Cybermobbing ist also jetzt in Missouri ein Straftatbestand. Mindestens so dringlich wären aber Initiativen, die Medienkompetenz von Netznutzern - und morgen schon sind das alle - so aufzurüsten, dass zahlreiche Formen des Cybermobbing sich selbst desavouieren. Also geht es wieder um die Differenz von Wahrheit und Lüge, die um einen dritten Wert zu ergänzen wäre: die Bedeutungslosigkeit vieler Aussagen im Sinne einer referenzlosen Boshaftigkeit, gegen die neue Weisen der Nichtbeachtung helfen werden. Noch sind wir zu sehr im klassischen Wahrheitsdiskurs befangen: Stimmt das, was jener sagt? Suspendieren wir diese Frage, so müsste es anders lauten: Das Gerücht ist zu arm, als dass ich ihm vertraute. Doch an dieser Stelle einer aufgeklärten Nichtbeachtung sind wir längst nicht angekommen.

6/24/2008

Intuition und Erkenntnisarmut

Wer sich auf seine Intuition verlässt, kann in fortgeschrittenerem Alter erkennen, ob diese Erkenntnisquelle zuverlässig ist. So kann man die richtigen Menschen wählen, geschickte kaufmännische Optionen treffen, Gefahren und Unbill vermeiden. Intuition ist eine Art des Denkens und wer gut denkt, hat gute Intuitionen. Doch viele Menschen verlassen sich auf Intuitionen, die sie nur deshalb als richtig ansehen können, weil sie ihre Wirklichkeit gegen den Strich bürsten: "Ich habe richtig gehandelt, die Anderen sind Ignoranten" - "Hätte ich nicht so gehandelt, wäre ich Katastrophen erlegen, die andere weggefegt haben" - "Ich kann mich auf mich verlassen, was bereits der Umstand anzeigt, dass ich noch lebe". Diese Art von self fulfilling principle schenkt Intuitionen Glauben, die andere verworfen hätten - denn Andere sind offensichtlich anderen Intuitionen gefolgt. Das Plädoyer gegen die Intuition, wenn die Entfernung von Zielen nur über Interpretationen zu leisten ist, muss jedem Entscheidungstheoretiker in die Augen springen. Kontrafaktisch in Bezug auf die eigenen Intuitionen zu handeln ist der wahre Weg zum Erfolg. Das Entscheidungsdilemman liegt auf der Hand: Benötigt man Intuitionen, um sich vor Intuitionen zu schützen. Wie immer bei Paradoxen gibt es keinen masterplan, sie aufzulösen. Man muss Intuitionstypen antesten, sich auf antiintuitive Pläne einlassen etc. Mit einem Wort: Berater und Beratungstypen variieren.

6/23/2008

Humanität und andere Belanglosigkeiten

Humanität gilt als höchster Wert. Humanität ist eine apologetische Keule ohne Vergleich, selbst in einer Welt, die großzügig Werte reklamiert, wenn sie nicht zu teuer erscheinen. Der Irak-Krieg wie viele "gerechten Kriege" haben diese Begrifflichkeit in überreichem Maße gespendet wie ausgebeutet. Bushs Humanitätspolitik beinhaltete in nuce die Feststellung, "auch wenn wir keine Anlässe haben", so salviert unsere länderübergreifende Humanität doch (fast) jede Vorgehensweise, im Paradox des Krieges: also auch die inhumane. Simbabwe demonstriert nun, wie belanglos dieses Argumentationschema ist. Wenn "Humanität" nur noch als strategische Vokabel gilt, gilt sie gar nichts mehr. Simbabwe löst keine internationale Aktion aus, Humanität ist hier nicht opportun, die öffentliche Erregung verwandelt sich nicht in entschiedene Politik. Insofern scheitert die Staatengemeinschaft in Simbabwe mehr noch, als sie in solchen Ländern scheitert, die nicht mit Humanitätsschlägen auf den rechten Weg der fremden Tugend gebracht werden. Simbabwe desavouiert den politischen Diskurs der Humanität und erweist ihn als das, was er schon immer war: Wenn wir ihn brauchen, haben wir ihn, aber ob wir ihn brauchen, darüber entscheidet nicht die Differenz von Humanität/Inhumanität: Opportunität ist ein Wert, der sich vor jede Humanität schieben kann.

Günter Netzer - Versuch einer Kommentierung

Günter Netzers Zeit als Kommentator sei abgelaufen, schreibt ein Magazin. Die EM erweise, dass man neue Kommentatoren benötige . Netzer zuzuhören ist fürwahr mühsam, aber über Fußball kann man ohnehin meistens nur das sagen, was jeder sieht und im Übrigen über den Zufall meditieren. Meditieren heißt, ihn klein zu reden, das ist dann Strategie oder Taktik, oder aber ihn aufzupumpen, weil er das Chaos auf dem Platz sofort erklärt. Im Fußball regiert seit je der Konjunktiv, an sich gilt hier Wittgenstein: Worüber man nicht reden soll, darüber muss man schweigen. Also redet man. Wie Netzer und jeder andere auch, belanglos, aber eben im Versuch, ein decorum für das Spiel zu schaffen, eine Inszenierung von Begrifflichkeit, die an irgendeiner begrifflichen Seitenaus-Linie endet. Nicht immer, aber oft genug. Nicht Netzer, den Diskurs sollte man abschaffen. Aber Fussball ohne den literalen Kontext würde man nicht lange genießen. Ohne Podolskis Statements wären die Tore doch nur halb so schön. Sollte man, nehmen wir es als Vorschlag zur zeitgemäßeren Inszenierung, die Kommentierungen vorab aufzeichnen und gleich dann in das Spiel schneiden, während es läuft? Jedenfalls bleibt es erstaunlich, dass Fussball unterhält, ohne dass das Regelwerk anpassungsbedürftig erscheint und dass es Menschen geben soll, die Kommentierungen des Spiels mit echten Kommentaren verwechseln. Also macht Günter Netzer nichts falsch, weil man nichts falsch machen kann, nur ein bisschen schneller sprechen, wär´schon schön. Vielleicht auch weniger nominalistisch und bei Verben "mal auf die andere Seite spielen". Also wer kommentiert, muss auch noch ein bisschen spielen können.

6/22/2008

Retro-Futurismus - eine Site, die ich gerne besuche, weil

ich als Kind mit diesen Illustrationen aufgewachsen bin...


Netzliteratur, Hypertext, Hyperfiction, Hypernothingness

Bemerkenswert, mit wie viel Enthusiamus das Netz als literarisches Medium begrüßt wurde, weil man nicht erkennen wollte, dass der Mangel produktiver sein könnte als die Opulenz, und nun das Netz sich von jeder Literatur, die als Netzliteratur gelten könnte, um Lichtjahre entfernt hat. Die Fiktionalität setzt andere Kontexte voraus, als sie das Netz bietet. Das Netz ist einer fiktionalen Konstruktion so nahverwandt, dass jedes Aufpropfen von Literatur ein vergeblicher Prozess ist, eine andere Geltungsebene einzuziehen. Auch "Second Life" hat keine Zukunft, weil der Reiz im Wechsel zwischen virtuellen und nichtvirtuellen Zuständen liegt, endlose Verschachtelungen virtueller Zustände führen zur Selbstauflösung. Auch Investoren werden das vielleicht morgen schon begreifen.

Frau Merkel und das Beobachterparadox

Frau Merkel musste Bundeskanzlerin werden, um sich selbst zu beobachten. Der blinde Fleck löst sich im Blitzlichtgewitter auf, um sofort neuen "Invisibilisierungs"-Strategien zu folgen: Nur noch die Schokoladenseite bitte, was der VHS-Fotokurs auch weiß. So einfach funktionieren manchmal Medien...

Elke Heidenreich - die Vordenkerin

"Die Erstplatzierte Elke Heidenreich sprach mit Cicero über Politiker, ihre Familie und Karriere." Cicero ist ein Magazin für "politische Kultur" und Elke Heidenreich also die erste Vordenkerin des Landes. "Wichtigste Denkerin" war anderenorts ein Werbeemblem Ciceros für Heidenreich. Also: Elke Heidenreich stellt Bücher vor, die ein breites Publikum lesen soll. Mit intellektueller Kultur hat das auch zu tun, zuvörderst aber mit Leseerfahrungen, die einfach und durchaus kulinarisch aufbereitet werden. Das ist nicht verboten, sollte nur nicht mit Denken verwechselt werden. "Vordenken" ist ein spezieller Terminus. Da geht einer respektive eine über ihre Zeit hinaus und zeigt den anderen aus seiner/ihrer überlegenen Weltsicht Horizonte, die andere noch nicht oder nie erschlossen haben. Wer also in den Medien einige Bücher exponiert und nicht lediglich den Klappentext rezitiert, ist also laut "Cicero" bereits ein Vordenker. Hier stimmt gar nichts mehr. "Cicero" muss dringend seinen Kulturbegriff revisionieren. Elke Heidenreich sollte man häufiger zitieren und nicht über sie den Stab brechen. Denn eine Vordenkerin ist sie gewiss nicht, will sie auch gar nicht sein. Allein ein Printmedium schielt auf die Auflage und Ranking ist immer gut. So also nicht. Das sind Mogelpackungen, die den Begriff der "Kultur" verraten. Politische Kultur war indes immer ein Paradox. Wieder ein Grund, ein intellektuelles Angebot in Deutschland bequem übergehen zu können. Verschont die Menschheit mit Denkern und Denkerinnen. Man stelle sich das Label vor: "Hannah Arendt, die Vordenkerin". Das wäre blamabel und unangemessen. Denker, liebe Ciceronen, denken "nach", nicht vor. Letzteres sollte man Propheten oder Meinungsforschungsinstituten überlassen.

6/21/2008

Judas - verrät den Experten

Eine juristische Software, die "Judas" heißt, verblüfft mich. Sie wirbt mit dem Spruch "verrät den Experten". Doch das ist der Fehler dieser Werbung, weil der Experte nun verraten wird und das Wortspiel nicht nur eine logische Sekunde zu spät kommt. Werbeleute finden das witzig, Normalrezipienten werden das nicht allzu positiv konnotieren. Nun überlegen Sie, man fragt Sie, welche Software Sie verwenden. Die Antwort "Judas" will nicht so attraktiv erscheinen, dass die Kaufentscheidung, wie gut das Programm auch immer sein mag, leicht erscheint. Vielleicht emanzipiert sich das Programm gegen seinen Namen. Dann muss es wirklich gut sein. Nach dem alten Anwaltswitz: Der Mandant sitzt von einem Clown. Der konstatiert: "Wenn man sich ein so groteskes Outfit leisten kann, muss man doch ein guter Anwalt sein."

6/20/2008

I remember when rock was young...

Ähnliches wird in einigen Jahren für das Internet gelten, heute ist es noch jung und streckenweise wildwüchsig, morgen werden andere Formen von Ordnung und Chaos folgen, die selbst diese Unterscheidung zweifelhaft machen. We had so much fun...daran sollte man dann denken. Manchmal ist die Gegenwart besser als die Zukunft ihrer Vergegenwärtigung - gegen die Nostalgiker gesagt.

6/19/2008

Von Magnet bis zu Magenta - Spiegel Online

"Barcelona als Anziehungsmagent für Künstler" heißt es in einer Bildunterschrift im Oktober 2007 bei SPIEGEL ONLINE. Im Online-Journalismus drehen sich die Wörter schneller, als es sich Gutenberg je hätte vorstellen können. Das Medium läuft seiner eigenen Semantik weg. Die Unsinnsproduktion allein macht Sinn,weil es sich nicht lohnt, für immer kleinere Leserkreise noch sorgfältig zu arbeiten. Die Verluderung des Lesers ratifiziert die semantische Destruktion. Fehler sind normal, orthografische Normalität ein Fall für den Duden. In diesem Sprachlabor entsteht dann der "Anziehungsmagent", für Künstler und Literaten zweifelsohne interessant. Seine Kraft wurde gedoppelt, seine Farbe ahnen wir von Ferne.

6/12/2008

Maschinenwinter mit Bodenheizung

"Es sind bekanntlich nicht die Maschinen, die Maschinen einstellen, sondern Menschen, die Maschinen bauen und einsetzen. Daher ist es nicht länger hinzunehmen, daß Maschinen die Lebensverhältnisse zunehmend verschlechtern, obwohl sie im Ursprung dazu gedacht waren, diese zu verbessern", heißt es im Klappentext der edition unseld zu Dietmar Dath, Maschinenwinter. Das soll, wie es der Untertitel verheißt, eine Streitschrift sein, die mich schon erreicht hat in der Sedimentierung des zitierten Klappentextes. Diese zwei Zeilen sind so entsetzlich, so schief, so unsoziologisch, dass mir der Vormittag verhagelt ist. Schon bin ich bereit, eine Ablasssumme zu zahlen, wenn ich diesen Maschinenwinter überdauern darf, ohne ihn lesen zu müssen. Vielleicht ist Daths Text ja erträglicher als diese potenzlosen Werbezeilen, aber ich bin zu alt, um zu riskieren, dass meine Nachtruhe durch Nachfolgesätze dieser Qualität fundamental beschädigt werden könnte.

Edition Unseld

Die Edition Unseld wirbt in diesen Tage mit diesem Titel: "Komplexitäten - Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen" Sandra Mitchell. Da soll wohl auch das spezifische Motto der Edition sein, die bereits dadurch zu verstehen gibt, dass man dem alten wie neuen Aufklärungsdiskurs ergeben folgt. Was auch sonst,könnte man fragen. Hier dürfte indes ein Missverständnis vorliegen, das nicht nur den Suhrkamp-Verlag und den Versuch einer verlegerischen Kontinuitätspolitik trifft, sondern längst die Wissensgesellschaft annagt. Menschen haben die Welt nie verstanden, weil "Welt" schon ein unbegreiflicher Begriff ist und weil Menschen als Teil dieser "Welt" auch nicht irgendwann außerhalb, gleichsam archimedisch auf die Welt herabsehen. Ein Argument ante hominem wiegt vielleicht aber noch schwerer als das Zirkularitätsargument. Der Mensch ist ein bescheidener Rechner, was wenig mit der Komplexität zu tun hat, die die Welt und eben nicht der Mensch verarbeiten kann. Ein gelungener Weltaufenthalt, um es pragmatischer zu formulieren, hat nur lose Bezüge zu menschlichem Weltverstehen. Die Parole der Zukunft, wenn man noch Parolen ausgeben darf, könnte eher lauten: Lernt zu begreifen, dass ihr die Welt nicht versteht. Je komplexer die Verhältnisse werden, einschließlich der notwendigen Strategien, mit Komplexität umzugehen, desto weniger begreift der Mensch. Menschen können in vielen komplexen Bereichen nicht mitdenken, sondern nur handeln, etwa in dem Ergebnisse verknüpft oder zerlegt werden. Mit Begreifen hat das nichts zu tun. Die Edition Unseld könnte auf dem dem falschen Gleis liegen. Aber warum sollte das nachhaltig Lesern auffallen, die eben begreifen möchten und sich ihre Wirklichkeit so bereiten, wie es ihrer kognitiven Selbsteinschätzung entspricht.

6/10/2008

Anselm Kiefer und der Frieden im Deutschen Buchhandel

Literatur ist im Zeitalter medientechnologisch hochgerüsteter Gesellschaften ein fragiles Kulturressort geworden, das Mühe hat, seinen "ontologischen" Status zu bewahren, während es zwischen Fernsehen, Hörkassetten und dem allgegenwärtigen Internet alte Ansprüche verteidigt, die bereits in relativen Blütezeiten nicht eingelöst wurden. Doch noch folgt auf die Verteidigung der Angriff: Dem starkdeutschen Maler Anselm Kiefer wird der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. Warum nun dieser Maler mit Literatur und Frieden assoziiert werden soll, mag die Jury wissen. Uns erscheint es so, als wäre der Medienbruch kalkuliert. Weder auf die Literatur noch das Buch, weder auf die Malerei noch die politische Semantik kann man sich verlassen. Verlassen allein kann man sich auf Aufmerksamkeitsqualitäten, die in diesen Brüchen und Erwartungsenttäuschungen liegen. Solchen Kriterien zufolge kann man auch George W. Bush diesen Preis verleihen, weil der unselige Irak-Krieg, wie übrigens die meisten Kriege, zur Reflexion über den Frieden beitragen mag. Jeder Schock, jede Irritation sind in Aufmerksamkeitsgesellschaften geeignet, Reflexionen auszulösen. Anselm Kiefer ist eine Variable in diesem Spiel, das kleine Szenen milde unterhält. Den Preis hätte man auch den Insassen von Guantanamo Bay widmen können, das hätte allerdings Unfrieden gestiftet und so weit will nun keiner gehen. Dieser Preis ist völlig belanglos, eine Posse für moralische Korrektheit mit einem leicht ironisierten Spielbein. Der Friede als echtes Anliegen kommt hier nicht vor, weil die Selbstinszenierung des Preises dafür zu behäbig seriös erscheint. Anselm Kiefer als Säulenheiliger des etablierten Kunstbetriebs (gibt es einen anderen?) verleiht dieser Honoratiorenveranstaltung auch nicht den "kick", den der Frieden in kriegerischen Zeiten gut brauchen könnte.

Brockhaus Revisited

Die 21. Print-Ausgabe des Brockhaus von 2006 könnte nach jüngeren Presseerklärungen des Verlages die letzte sein.

Nur wenige Jahre zuvor war man noch guter Dinge: Die Brockhaus-Enzyklopädie 2000 von André Heller gestaltet und "inszeniert" (Verlagsprospekt). Dass der Mensch einen Brockhaus brauche, mag im Zeitalter elektronischer Medien nicht länger einsehbar sein. Also muss er "inszeniert" werden: Der Zirkuskünstler Heller gestaltet eine Einbandgalerie mit 312 Originalfundstücken, Mercedes-Silberpfeil, Tennischläger von Boris Becker und noch viel mehr -präsentiert in dreidimensionalen Acrylvitrinen, eingebunden in nigerianischem Ziegenleder - für zweitausend Sammler zum Vorauszahlungspreis von 18.800 DM. Die Idee ist so grotesk, dass sie auch den Nichtleser überzeugt. Dieser inszenierte Vitrinen-Brockhaus ist kein armseliges Nachschlagewerk, sondern soll nach dem Willen des Schöpfers ein Kunstwerk sein, zumindest ist er eine Sammlung von Trouvaillen, die auf die Karte des Wissens geklebt werden. Wo früher der Begriff über den Gegenstand regierte, herrscht heute das Objekt. Pure Unmittelbarkeit gegen blindwütige Monitorisierung des Wissens. In die Geschichtsschreibung und Wissensverzeichnung wird die Geschichte als Fetisch eingeführt. Reliquien unserer Zeithöhepunkte, sorgsam verwahrt wie Blut Christi, lignum crucis. Wir wohnen einer religiösen Handlung bei, Brockhaus hebt die Monstranz, zeigt den Leib dieses Jahrhunderts, eine Hostie, die wir essen werden, um zu bezeugen, den Zeitgeist in uns zu haben. Ego te absolvo - "verlieren Sie also keine Zeit" (Verlagsprospekt). Wie sollte ich Zeit verlieren, wenn ich mir die Geschichte selbst einverleibe?

Auch diese Rituale versagen vor der Virtualität. Wir wohnen einem weiteren beispiellosen Akt des Kannibalismus bei...

In memoriam Peter Rühmkorf

In memoriam Peter Rühmkorf, ca. 1997 geschrieben:

Tabu I - Tagebücher 1989 - 1991

Reinbek bei Hamburg 1997

Wer dies berührt, berührt einen Mann.

Rühmkorf, der Dichter, hat sein "erstes" Tagebuch veröffentlicht und vermutlich meint er sich selbst, wenn er den Altersstil als eine Art von Auslaufproduktion bezeichnet. Tagebücher ringen dem Leben post festum Geschichte und Geschichten ab. Sie retten der Erinnerung die vielen alltäglichen Partikel der Identität, machen das Leben zwar nicht rund, aber nachvollziehbarer. Für Leser sind Diarien oft eine Zumutung, da sich das konkrete Leben in seinem stolpernden Zeitablauf als Sammelsurium der Ereignisse darstellt. Aber gerade hier legitimiert sich mitunter die fremde Lebensgeschichte für Leser, die auch nicht stromlinienförmiger zu leben verstehen, die auch immer wieder in die biographischen Irrungen und Wirrungen eintauchen: "Und immer wieder mal die Frage nach einem sinnvoll geführten Leben in einer wahnsinnig gewordenen Welt."

Je älter der Verfasser, um so mehr erfahren wir über seine Zipperlein. Auch Rühmkorf spart hier nicht mit schmerzhaften Intimitäten, er zeigt uns seine "vita dolorosa" zwischen den Vorboten des Endes und vorübergehender Pein. Leiden und Literatur sind nicht nur in Deutschland Geschwister. Gelitten haben sie alle: Lichtenberg, das Körperchen, Nietzsche, der aussichtslose Wille zur Gesundheit, Cioran, Schärfe aus tiefster Verbitterung, Pavese, moribund und todesentschlossen. Rühmkorf nimmt´s auch nicht leicht, aber spöttisch genug, um nicht fragwürdige Größe aus teutonischer Leidensverliebtheit zu generieren. Er hält sich poetisch vital gegenüber der selbstverschuldeteten Verwrackung: "Vergiftet vom gestrigen Tag: Zigaretten, Hanf, Whiskey, Campari, Bier, Wacholder." Ja, so lustig bis körperzehrend leben die Dichter alle Tage. Rühmkorf gelingt die ironische Selbstdistanz zu alten Abhängigkeiten und neuen Gebrechen. Dabei geht´s ihm nicht um einen "kleineleutehaften" Offenbarungsgestus, keinen gerontophilen Lamentationsgegenstand, der zum geschwätzig-sprachlosen Stoff der Talkshows avancierte. Rühmkorf zeigt seine Pflaster und Pflästerchen, die Behelfsmäßigkeiten, aus denen ein Leben, zumindest wenn es noch nicht zum Mythos geworden ist, besteht.

Aber das ist nicht alles, was der Dichter zu berichten weiß. Wie sagt Rühmkorf? "Ja posthum, da könnte ich viel erzählen!" Immerhin gelingt ihm dies zu Lebzeiten auch schon. Zwischen Begegnungen, Reisen, Speisenkarten, Rezepten, Lektüren, Fernsehen ("In-Ferno") hat Rühmkorf alle Augen und Ohren voll zu tun. Ein Kessel Buntes aus Aphorismen, Beobachtungen mit Tiefenschärfe, aber eben auch Alltäglichkeiten bis hin zum Blumengießen - Rühmkorf rekapituliert seine wachen Tage so fröhlich-unfröhlich und disparat wie das Leben nun mal ist. Und späte Dichter können alles brauchen, was im Alltagsgebrauch der Zeitgenossen oft vorschnell auf dem Sperrmüll der persönlichen Geschichte landet.

So hat dieser Mann zwar trotz seiner siebzig Jahre noch kein Oeuvre, das ledergebunden im Goldschnitt Schrankwände verzieren könnte, aber wenn weitere Tagebücher folgen, könnte ihm selbst das noch gelingen. Sein erstes Tagebuch ist es jedenfalls wert, in die Geschichte der wichtigen europäischen Tagebücher eingereiht zu werden - auch wenn er für diese Feststellung vermutlich nur gelinden Spott übrig hätte. Aber zuletzt lacht immer die Geschichte.

6/08/2008

Michel Onfray Short Cut

"Wir brauchen keinen Gott" heißt der Bestseller von Michel Onfray. Das klingt gegenüber Nietzsches Wort vom Tod Gottes eher moderat. Moderat sind auch die Erkenntnisse Onfrays. Onfray sammelt im Zeichen der klassischen Aufklärung Fakten gegen die Weltreligionen, die nicht ganz neu, in einigen Momenten allzu bekannt sind. Das wäre noch kein Mangel, wenn Onfray erklären könnte, warum diese hysterischen Irrtümer, wie er sie klassifiziert,trotz der überbordenden Vernunfterkenntnis so erstaunlich lebensfähig sind. Onfray ist an dieser zentralen Stelle kein Philosoph, sondern selbst ein (erträglicher) Eiferer, der die dringend notwendige funktionale Theorie nicht liefert, die erläutern würde, warum Realitätsverzerrungen und - verkennungen notwendig sind, um die Welt erfolgreich zu meistern - einschließlich Todesliebe und Amoralität. Das kann man bei Niklas Luhmann teilweise lernen, indes ist dort der Abstraktionslevel mitunter ein Hindernis, die Funktionen deutlicher zu konturieren. Onfray belässt es jedoch bei der intuitiven Vermutung des Lesers, dass er Religionen nur in ihrer Dysfunktionalität begreift und damit ihre Energien mit der leicht angestaubten Kategorie "Hysterie" verfehlt. Religionskritik ist nur möglich, wenn man die Funktion(en) der Religion umfassend definierten kann und die sozialen Funktionen mindestens ebenso sehr analysiert wie die vordergründig emotionalen Wirkungen, die so für Menschen so attraktiv machen.

6/06/2008

Blogs und das Ende der Demokratie

Friedrich Nietzsche meinte, noch ein Jahrhundert Leser und der Geist selbst wird stinken. Ist es so gewesen? Meine Prognose: Noch einige Jahre Blogs und Meinungen werden so bedeutungslos sein, wie es die Theoretiker der demokratischen Öffentlichkeit nie glauben dürften. Wenn alles Meinung ist, hat Meinung keinen Wert. Eine Meinung, die nicht wenigstens prätendieren kann, wichtig, exklusiv, informationsdurchdrungen zu sein, ist nicht mal als Ramschware geeignet, "gekauft" zu werden. Die große klassische Idee der diskursiven, aufgeklärten Bürgerlichkeit wird in den "Blogs" endgültig ruiniert. Die Demontage der Demokratie wird in den "Blogs" vorbereitet, während unsere wohlmeinenden Beobachter meinen, hier wäre der Königsweg zu direkter Volksbeteiligung vorbereitet.

6/05/2008

Moralische Empörung light - Beenhakker

Die polnische "Super Express" präsentiert laut SPIEGEL online eine Fotomontage: Der Coach der polnischen Nationalmannschaft Beenhakker präsentiert die abgetrennten Köpfe von DFB-Kapitän Michael Ballack und Bundestrainer Joachim Löw in seinen Händen. Okay, ist geschmacklos. Aber wie reden denn die Fans? Jede moralische Empörung fällt hier auf sich selbst zurück, denn Fussball war nie weit von solchen Fantasien entfernt.

Ray Kurzweil

Niemand kann mir sagen, dass dieser Nachname nicht das Ergebnis einer strategischen Namensänderung ist. Der Name ist Programm. Es ist nur noch eine kurze Weile, dann wird diese und jene und überhaupt jede Technik da sein. Das ist zwar vermutlich wahr, aber eine qualitative Aussage wird daraus längst nicht.

6/03/2008

Alice Schwarzer, Emma und der Rest der coolen Gang

"Emma" macht an sich im drögen deutschen Blätterwald Sinn. Die fetten Jahre sind zwar vorbei, weil der Feminismus wohl bestimmte Allianzen und Milieus braucht, um zur rechten Geltung zu kommen. Aber das ist längst kein Grund, ein kleines Dorf in Gallien oder sonstwo aufzugeben. Wenn aber Frau Schwarzer durch ihre rigide Redaktionspolitik die milden Sympathien der Öffentlichkeit zu verscherzen droht, ist das erstaunlich, weil man dem Feminismus respektive den vormals so selbstbgewissen Sachwaltern der "Emanzipation" doch immer auch strategische Selbstreflexionen unterstellt hat. Emma und Emanzipation heißt also jetzt, sich von Frau Schwarzer zu emanzipieren, was deren ureigenstes Interesse sein müsste. Es sei denn, sie wäre sich untreu geworden. Dann aber gibt es schon gar keinen Grund, auf Rebellion zu verzichten.

5/30/2008

"Der Fall Telekom erschüttert die Republik"

"Der Fall Telekom erschüttert die Republik", erklärt der SPIEGEL ONLINE am 30.05.2008 der Nation. Jeder möge sich prüfen, ob er denn erschüttert ist. Passiert nicht das, was wir ohnehin und nicht nur im Fall der Telekom jederzeit vermuten? Wir leben in einer Informationsgesellschaft, die obsessiv mit Daten umgeht. "Beobachtung" ist, wenn wir etwa der Soziologie folgen, das Paradigma der Gesellschaft bzw. der richtigen Erkenntnismethode schlechthin. Wir beoachten, Ihr beobachtet uns, wir beobachten, wie ihr uns beobachtet habt, ad infinitum. Das erschüttert niemanden, von der moralisch inszenierten Zwangsentrüstung einmal abgesehen. Dieser Antagonismus von informationeller Selbstbestimmung und Datenfetischismus ist längst aus dem Lot, ohne dass diese Tendenzen mit dem traditionellen Vokabular noch zu fassen wären. Niemand ist entrüstet, wäre es anders, gäbe es "YouTube" et. alii nicht.

5/29/2008

Harald Schmidt & Oliver Pocher

Zugegeben, Harald Schmidt hat mich nie sonderlich interessiert, der Humor erschien mir zumeist zu kalkuliert und wer zudem noch Gagschreiber beschäftigt, könnte selbst ja erheblich weniger komisch sein als seine oder wessen Witzchen. Doch Schmidt besitzt Rhetorik. Er formuliert Sätze und glaubt an das Apriori, dass er komisch, pointiert oder zumindest präsent sein wird. Dieses Apriori verleiht ihm Kraft, oder auch umgekehrt. Pocher ist unsicher, von der ersten Minute an. Konserven gelingen ihm, doch in der Show selbst kommt er vom Image des eher unbeholfenen Lehrlings nicht weg. Seine Witze haben die mitlaufende Frage: "Findet ihr das komisch?" Und Pochers ehedem präpotente und heute wenig prägnante Rhetorik lässt diese Frage nicht rhetorisch zur Pointe aufschließen. Er weiß offensichtlich nicht mehr, was er von sich selbst halten soll. Viel hält er wohl nicht von sich, zumindest nicht neben Schmidt, der doch durch einen jugendlichen Provokateur gelockt werden könnte. Hier jedoch findet keine Begegnung statt, es erscheint nicht einmal einstudiert, sondern hier sind zwei, die ein Programm absolvieren und die Unsicherheit des einen beschädigt die relative Souveränität des anderen. Erstaunlich, dass dieses Duo seine eigene Daseinsberechtigung nicht längst selbst bezweifelt und Konsequenzen zieht.

5/27/2008

Transzendentalphilosophie

Screamin' Jay Hawkins: „Ladies and gentlemen, most people record songs about love, heartbreak, loneliness, being broke... Nobody's actually went out and recorded a song about real pain. The band and I have just returned from the General Hospital where we caught a man in the right position…” Dieses Lied handelt vom konkreten Leiden. Wie buchstabiert man Leiden? Eine Geschichte des Denkens könnte von der Transzendenz handeln. Metaphysik heißt schmerzloser Zustand, was jenen sinnenfernen Denkern nie recht auffiel. Wer transzendentale Bedingungen festlegt, will schmerzfrei werden, über den Verhältnissen schweben. Sollte Philosophie unter sinnlichen Bedingungen zustande gekommen sind, die wir als Leser zu schnell ausblenden? Nietzsche schrieb praktisch immer unter Schmerzen. So hat er selbst die Farben danach ausgewählt, ob sie beruhigen oder weh tun. Zarathustra wählt grün, weil rot oder gelb den Kopfschmerz wahrscheinlicher macht. Schmerzen als Denkanlass. Schmerzvermeidung als Motiv. Also soll man nicht nur unter Schmerzen gebären, sondern auch denken. Wer wüsste, dass er immer schmerzfrei wäre, könnte nicht denken – freilich ist es ein Paradox, denn wer weiß, was Schmerzen sind, muss selbst welche gehabt haben (Vgl. Wittgenstein). Unser Fazit: die großen idealistischen Systeme sind Schmerzvermeidungssysteme. Die Idee kennt keine Schmerzen, sodass Menschen sich in ihr vom realen Leiden erholen. Mit einem Wort: Transzen Dental Philosophie.

Zu diversen Denkern siehe die Virtuelle Textbaustelle >>

5/26/2008

Das Tao des Warren Buffet

Das Tao des Warren Buffet? Früher gab es schon Taoisten an der Wall Street, aber der obige Titel ist schon wieder einsatzfähig, weil das Gedächtnis der Mediengesellschaft, so lange es von Menschen dominiert wird, extrem schlecht ist. Witze werden wieder bartlos. Also auch dieses Tao, was nur die eitle Nobilitierungssucht einer Kaufmannsgesellschaft belegt, die Weisheit da verankert, wo ihre Weisheit eben liegt - oder auch nicht. Wer Geld macht, ist weise. Das Tao des Geldes, so banal wie ein Ying-Yang-Symbol für einen Geldspielautomaten. Der Prozess des Abfalls von vormals als geistig gehandelten Werten ist viel weiter gediehen, als man sich das eingestehen wollte. Das wäre gut zu verschmerzen, wenn nicht die Wiederkehr dieser Werte auf der Schwundstufe ihrer Bedeutung drohte. Reicht es nicht, Warren Buffet zu bescheinigen, dass er eine Intuition für kapitalistische Gewinne hat? Warum muss das ohnedies schon trivialisierte Tao nun auch noch an diese Front der Mammonitis? Wir leben noch tief in Talmi-Welten. Möge uns der Titel erspart bleiben: Mit dem Tao gegen semantische Armut.

5/25/2008

Phantasialand - wirklicher als die Wirklichkeit?

Für Jean Baudrillard ist Disneyland das reale Amerika. Zu sagen, das Phantasialand bei Brühl sei die Realität,wäre eine blasse postmoderne Geste. Doch etwas ist in Baudrillards Diktum auch hier zu retten: Denn der in den sechziger Jahren gegründete Märchenpark existiert nicht mehr, hier geht es zuvörderst um Dynamik, Geschwindigkeitserlebnisse, die alles in den Schatten stellen sollen, was sonst verfügbar ist: "Als Schatzsuchende von Talocans Sonnenstein erfährt man dessen
Macht und Stärke in einem wahren Wirbel durch die Atmosphäre." (Werbetext Phantasialand). Es geht nicht um die abstrakte Differenz "Wirklichkeit/Unwirklichkeit" oder "echt/simuliert", sondern um Bewegung als Beweis für Wirklichkeit. Wenn Deine Sinne in einen Bewegungs- und Wahrnehmungsrausch geraten, muss diese Welt existieren. Das ist der neue dynamische Existenzialismus, gleichermaßen frei und identitätslos. Es wäre psychologisch müde, hier nach latenten Todessehnsüchten zu fahnden, als ob jeder Rausch durch sein Ende zu bestimmen wäre. Ob der Rausch Ewigkeit will, ist nicht zu entscheiden. Es geht hier um postmetaphysische Zustände, Transzendenz im wahrsten Sinne des Wortes, Schweben über den Dingen. Mehr vermag Phantasie nicht und deshalb trägt dieser Ort seinen Namen zu Recht und jede altbackene Kulturkritik kommt hier um Längen, wenn nicht Lichtjahre zu spät.

5/24/2008

Zum Paradox ästhetischer Bewertung

Nachdem die ästhetische Bewertung als normative Kategorie abgeschafft worden war,schien diese Frage zum "arcanum" der Ästhetik zu werden. Warum einer wusste, dass es diese und nicht jene Kunst war, die zu achten, zu beachten sei, war Teil einer Auguren- bzw. Geheimwissenschaft. "Kunst" als System muss diese Frage nicht mehr stellen. Es ist völlig gleich-gültig, welche Objekte Kunststatus genießen, so lange gewährleistet ist, dass es solche Objekte gibt, sie zirkulieren, also interpretiert und verkauft etc. werden können. Wenn dieses System stabil ist, können sich die Teilnehmer wieder ästhetische Kriterien, die zuvor keinen Geltungsanspruch gehabt hätten, leisten. Das ist das Paradox: Die Kunst verliert verbindliche Werturteile, zirkuliert nur noch um sich und nun können die vormals obsoleten Kriterien wieder eine neue alte Bedeutung gewinnen. Die demontierte Ästhetik erlaubt wieder privatistische Anwendungen, simple Geschmacksurteile: "Ich mag dieses oder jenes." In dieser Wandlung besteht selbst die Möglichkeit, dass Ästhetisierungen im Sinne eines verfeinerten Geschmackurteils wieder zulässig werden. In der Selbstreproduktion der Kunst, die letztlich nur darin besteht, Kunst von Nichtkunst kriterienlos zu bestimmmen, dürfen auch ästhetische Werte, ohne sich exponieren zu müssen, wieder eine Geltung reklamieren.

5/23/2008

Eurovision Song Contest - Ein bisschen einschlafen, ein bisschen ausschalten

Die Vision liegt auf der Hand (Ohren zu!): Wenn dieser Contest selbst nicht mehr die Chance hätte, als Marginalie beachtet zu werden, könnten wir von avancierter Medienkompetenz sprechen. Ein Musikwettbewerb, der nicht trennscharf von einer Sportveranstaltung zu unterscheiden ist und Musik als Inszenierungsspektakel verramscht, hat keinen Anspruch, der zu rechtfertigen wäre. Spricht etwas dagegen, diese Veranstaltung in den Diskussionszusammenhang "Gewalt und Medien" einzubeziehen?

5/22/2008

Germany's next Topmodel - by (wie übersetzt man das?) Heidi Klum

Germany's next Topmodel. Nicht der anglophone Klang stört uns, sondern der Umstand, dass nichts, aber auch gar nichts mitzuteilen ist. Das Drama will nicht gelingen, weil es im Prinzip so aufregend wie die Frage ist, wer das nächste Schuljahr wiederholt. Das Fatum wird als beherrschbar geschildert, wenn nur die Leistung stimmt. Das ist die älteste Mär dieser Gesellschaft, wie unzählige Katastrophen lehren, fundamental unrichtig. So also sollst du Schönheit als Leistung internalisieren, was wiederum wunderbar paradox ist. Schönheit, das ungerechte Geschenk, wird über das Leistungsprinzip mit der Gerechtigkeit kurzgeschlossen. So stimmen die Werte wieder überein, innere wie äußere werden synchronisiert. Selbstverständlich ist das die Ideologie schöner Menschen, die anders Selbstverständnisprobleme hätten, weil ihre Leistung keine wäre. So aber steht Heidi Klum für ein Prinzip, das weiland Fabrikherren oder arrivierte Tellerwäscher vertreten haben. Es geht, mit einem Wort, um einen Verlust: Den Verlust der begründungslosen, nicht rationalisierbaren Schönheit und der Ungerechtigkeit einer Welt, die einige schön und andere nicht sein lässt. Heidi Klum will das vergessen machen, was das Format so bedürftig werden lässt, dass dessen Zukunft auch ohne prophetische Gabe erahnt werden kann.

YouTube - Stimmen der Vergangenheit

YouTube - das Stelldichein historischer Figuren. Ist es nicht großartig, Namen wie Adorno, Heidegger, Marcuse, Luhmann einzugeben und schon stehen sie wieder auf?

Das wahre Wunder der Religion

Eine Religion, die durch ihre Repräsentanten verkünden lässt, sie wäre dialogfähig, muss als das wahre Wunder beschrieben werden. Denn seit wann reden Götter miteinander?

Interkulturelle Website-Forschung

"Interkulturelle Website-Forschung" ist ein Thema an deutschen Universitäten. Dass sich Wissenschaftsbetriebe selbst unterhalten, soll nicht als Standardeinwand gelten. Signifikanter erscheint uns hier der Begriff der Forschung, dessen Fragilität mit der Flüchtigkeit seines Untersuchungsgegenstandes wächst. Bereits der Begriff der "Interkultur" ist schwer fassbar, eingedenk des Umstands, dass Niklas Luhmann seinen Begriffsversuch "Interpenetration" nach der (voreiligen?) Schöpfung nicht mehr prominent einsetzte. Dem Begriff der "Kultur" ist trotz des Eigensinns kultureller Manifestationen das "Inter" eingeschrieben. Mit einem Wort: Kultur ist promisk. Promiskuität der Kultur kombiniert mit dem Tempo der Globalkultur lässt Interkultur als Marginalie erscheinen. Ist die Kultur bis zur nicht Nichterkennbarkeit beschleunigt, gilt das mehr noch für Websites, die vielen Trends folgen. Doch schlimmer: Sind Websites, die heute wie ein virtuelles Gegenstück der "Immobilie" erscheinen, zukünftig noch zentrale Orte virtueller Begegnung? Wie immer die Antwort ausfällt, kaum kann man sich vorstellen, dass dann die interkulturelle Website-Forschung kognitiv flankierend auftritt, wenn sich Verhältnisse verändern, die kaum als solche beschrieben werden können, weil sie sich nie dauerhaft "verhalten" hätten.

5/21/2008

Politik und Notwendigkeit

"Warum Deutschland Gesine Schwan braucht", textet Spiegel Online am 21.04.2008. Wer hat da noch Lust weiterzulesen? Im Blick auf Verfassung, Staat und Gesellschaft wäre es bereits lohnenswert, über die Funktionen des Bundespräsidenten nachzudenken. Politische Bedeutung in einem konkreten, angebbaren Sinne will man keinem attestieren, was freilich gegen den allgemeinen Sinn des Amts wenig sagt. Nur, ist bereits die Bedeutung des Amts fragil und will man keinen Bundespräsidenten vor anderen loben, wird die Begrifflichkeit der politischen Notwendigkeit schal. Demokratie heißt im besten Sinne, dass Politiker ersetzbar sind. Ob nun Herr Köhler oder Frau Schwan, das kann uns politisch nicht allzu sehr berühren.

Dazu mein "Klassiker" >> Journalismus und Mediendämmerung >>

Ferner auch: Die Banalität der Guten
Goedart Palm 20.09.2009

Politik in den Zeiten von Pest und Cholera

Jeder dritte Deutsche mit seiner beruflichen Tätigkeit unzufrieden

Diese jüngst veröffentlichte Statistik, so sie denn richtig sein sollte, verwundert doch. So hätte ich angenommen, dass 90 % Prozent der arbeitenden Bevölkerung unzufrieden sind. Denn die Traumjobs sind es meistens nur für kurze Zeit und die Arbeit für andere mag nicht schänden, aber es bedarf keiner Fantasie, sich Schöneres vorzustellen. Wahrscheinlich kommt es hier, wie immer bei Umfragen, auf die Fragetechnik an. Denn wer hätte für sich nicht mehr in "petto" als das, was diese Welt für ihn bereit hält. Vielleicht also muss die Frage lauten: "Könnten Sie sich eine andere, einflussreichere (wahlweise: höher dotierte, höher angesehenere etc.) Position vorstellen? Da wären wir doch ein einig Volk von Brüdern und Schwestern. Wer wäre nicht bereit, wenigstens als Frühstücksdirektor seine Mitmenschen glücklich oder unglücklich (Bentham zählt das Übelwollen bekanntlich auch zu den Glücksmöglichkeiten)zu machen.

5/20/2008

Zahnschmerzen und Theodizee

Auch kleine, aber körpernahe Katastrophen können Theodizee-Fragen in eben der Hartnäckigkeit aufwerfen, mit der Schmerzen quälen. Es ist erstaunlich, dass die beste aller möglichen Schöpfungen Zahnschmerzen kennt. Man rationalisiere das nicht, Schmerzen sind gegenüber Rationalisierungen absolut unempfindlich. Ein Rationalist erfindet jedenfalls keine Schmerzen. Quod erat demonstrandum.

Kultur als Selbstinszenierung

Kultur trägt man wie einen Orden. Man oder Frau werden Kulturträger. Das setzt etwas Bildung voraus, aber nicht zuviel. Fakten sind wichtig und einige ästhetisch leicht nachvollziehbare Kategorien helfen weiter. Kultur dieser Art schafft Verbindlichkeiten und angenehme Gespräche. Der Causeur als Wille und Vorstellung. Diese Kultur ist sozialer Kitt, daher nicht einfach zu verwerfen. Kultur als Krisis, Kultur als Kampfbegriff findet sich in diesem, immer noch hoch verbreiteten Kulturbegriff nicht. Ein Irrtum wäre es, diese Art von Kultur, ich kenne Goethe, du kennst Goethe, mit Identität zu verwechseln. Dekor ist längst keine Identität. Und wahrscheinlich sind Kultur und Identität antiquierte Begriffe, die funktional reformuliert werden müssten.

5/17/2008

Radio Moral Pandora

BAP ist seit je Betroffenheitslyrik. Wer leidet so authentisch? Nun hört man, die Helden von "Radio Pandora" wären ganz anders als die Unterhaltungsartisten, die uns weich gespülte Musik in die Ohren träufeln. Wenn es schon unangenehme Themen sein sollen, dann fragt man sich vergeblich, warum die Musik von BAP nicht unangenehmer klingt? Es ist just dieselbe Radiomusik, die man verachtet. Anders sehen das auch die Redaktionen nicht, die von kritischer Musik sprechen und die von BAP inszenierte Differenz mehr oder weniger augenzwinkernd mitmachen. Wolfgang Niedecken ist einsatzgenau betroffen. Das sollte uns betroffen machen, weil doch Authentizität nicht dem Taktstock folgt. Stellt euch vor, Radio Bremen übeträgt und einer, vielleicht Niedecken, würde sagen, ich bin gerade nicht betroffen. Warum der Musikcode mit dem Moralcode verbunden wird, mag gute Gründe haben, nicht zuletzt ist es der Grund, zunächst problemlos den Gutmenschen zugerechnet zu werden. Es ist moralisch, moralisch zu sein. Das erspart ethische Reflexionen und beim Singen kommt es doch ohnehin zuvörderst auf das "Gefühl" an. Warum aber Moral, wenn es doch Gefühl ist? Letzte Hypothese: Radio Pandora et alii sind totale Gleichschaltungen von Moral, Musik und Gefühl. Und das das soll wahrhaftig sein?

5/16/2008

Nachrichten, verstreut

Wäre gegenüber der Presse zu moralisieren, lautet der Hauptvorwurf, dass die Welt auch da gleich gemacht wird, wo sie es nicht ist und nie sein dürfte. Doch hier regiert das alte Dilemma des Gleichheitsgrundsatzes. Sind politische Nachrichten wirklich wichtiger als Sportnachrichten? Wo finden wir einen übergeordneten Wert oder eine unhintergehbare Funktion, die hier Prioritäten gebietet? Vielleicht bilden allein Medien die Wahrheit des Gleich-Gültigen ab und alle Kritik bestätigt nur dieses Prinzip. Prioritäten sind gerade im Nachrichtengeschäft ein seltsamer Fetisch, als ob diese Nachricht wichtiger als jene wäre. Prioritäten mag der Leser bilden...

Blografie am Ende der Galaxis

Die Entdeckung einer Textlandschaft, die noch nicht vermarktet, verlegt und vermessen ist. An der Peripherie eine unendliche Architektur, für die noch kein Name existiert. Die meisten Blogs sind Kioske mit durchschnittlicher Handelsware.

5/15/2008

Pictures Lost II

Webdiarium von Goedart Palm

Von der Propaganda zur Wirklichkeit und wieder zurück

"Sowohl Chinas KP als auch Exil-Tibeter füttern die Diskussion mit ihren Argumenten - SPIEGEL ONLINE zeigt, was Propaganda und was Wirklichkeit ist", schreibt eben dieser. Wie immer haben wir keine Probleme mit dem Paradox, denn wenn man die Propaganda doch entlarvt, ist sie vielleicht keine mehr. Und wer weiß, was Wirklichkeit ist, das ist ohnehin ein Gott. Conclusio: Dieser Anspruch bestreitet sich selbst, weil er den Umgang mit dem Paradox ausschließt und somit selbst zu der Propaganda gehören könnte, die er austreiben wollte. Redlicher wäre es zu sagen: Wir wissen nicht, was wahr ist, aber wir haben eine starke Vermutung in diese oder jene Richtung. Daraus allerdings schlägt man keine Schlagzeilen.

Klaus Kinski Revisited

Man kann Klaus Kinski individualpsychologisch betrachten, irgendwo auf der Grenze vom Choleriker zum Maniac. "So sind Künstler eben." Nimmt man ihn als den personifizierten Widerwillen gegen die eingerichtete und gehegte Kultur wahr, wird er zu einem Typus, den wir alle von uns kennen. Villon und die Surrealisten sind dann keine zufälligen Assoziationen mehr, zum wenigsten Breton, der diesen unbändigen Hass gut kannte. Kinski ist ein antisozialer Gestus, der weiterhin seine Daseinsberechtigung besitzt, so töricht die Details sind, mit denen er diskursive Zuhörer schnell langweilen kann.

5/12/2008

Der Untergang

Marzipan ist mein Untergang (Helmut Kohl) - Zur Differenz von Untergangstypen autoritärer und liberaler Staatsformen

5/08/2008

Verbreiterhaftung

Darüber hat die virtuelle Mediengesellschaft noch einige Zeit zu grübeln: Hält man intransigent an einem Wirklichkeits- und Wahrheitsbegriff fest, der zu verteidigen ist, zum höheren Gedeihen gesellschaftlichen Friedens? Oder geht es hier um den Hasen und den Igel? Also kann jeder Unfug, den ich verbreite, gegen mich gekehrt werden? Hier fehlen längst noch, auch und gerade in der Rechtsprechung, notwendige Unterscheidungen. Indirekte Diffamierungen, im Schutz der Presse- und Meinungsfreiheit segelnd, sollte man ausschließen können. Journalisten sind aber keine mit allen Mitteln ausgestattete Wahrheitsagenturen. Nicht jede Aussage, die vermittelt wird, kann auf ihren Aussagegehalt überprüft werden. Die beste Lösung bestünde darin, Grenzen nach unten zu setzen. Weitreichende Aussagen, die geeignet sind, die Integrität eines Dritten nachhaltig zu schädigen, sollten vor der Publikation geprüft werden. Das beantwortet aber längst nicht die Frage nach Art und Umfang der Haftung. Wenn Journalisten im Milieu der Strafandrohung arbeiten müssen, dürfte der Berufsstand demnächst aussterben.

Artificial Intelligence

"Buffett" - Vorschlag der Rechtschreibprüfung von "word": Bussfett. Jetzt weiß ich, dass KI keine Chimäre ist

Ein Superlativ, den wir nicht mehr zu hören wünschen

Manfred Lütz "Gott - Eine kleine Geschichte des Größten". Wenn ich Zeit hätte, würde ich ausführen, warum mir diese Art insinuierender Apologetik unerträglich ist. Von größter Klarheit dagegen: "Der Gotteswahn" von Richard Dawkins, basta.

5/07/2008

Zum Code "Monster/Mensch"

"Der dünne Lack der Zivilisation" textet der Spiegel zu der Horror-Story des Josef Fritzl. Diese Metapher verfehlt die Geschichte des kleinbürgerlichen Verließ-Herrn. Letztlich geht es um ein Herrschaftsmodell, das die Familienbande so wörtlich nimmt, wie es die Semantik verheißt. Diese Kellerfantasie gibt es in zahlreichen harmloseren Varianten der Abschottung der Kleinwelt gegen die große Welt da draußen. Kleinbürgerlichkeit heißt, die Welt auszuschließen, um wenigstens die Herrschaft über die Familie zu sichern. "In vain", wie es nicht nur die unselige Geschichte des Joself Fritzl demonstriert. Das Zivilisationsargument muss umgekehrt werden: Zivilisation heißt Herrschaft auszuüben, Inhumanität respektive Grausamkeit sind ihre "natürlichsten" Ingredienzen. Also kein Lack, sondern die Zivilisation selbst.

5/04/2008

Die Antiquiertheit der Anne Will

Und sie diskutierten und sie diskutierten und sie diskutierten. Auch über die Zukunft der Talkshow von Anne Will. Diese Talks (so to speak) sind ziemlich langweilig aus zwei Gründen: 1. Die Themen sind schlecht ausgewählt, das ließe sich brisanter und selektiver behandeln. 2. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Politik im Konzept dieser Sendung nicht reflektiert wird. So entsteht ein dröger Ernst, der das Politik-Spiel so inszeniert, wie es im seriösen Selbstbild erscheinen will. Das interessiert aber keinen und dieses Wissen um das Desinteresse des Publikums sollte sich in den Redaktionen verbreitet haben. Politikinformation muss mindestens untergründig davon künden, dass es hier um Parodien geht. Wenn das nicht kommuniziert wird, hat man keine Zukunft.

Goedart Palm, der sicher nicht mehr einschaltet.

Dazu mein "Klassiker" >> Journalismus und Mediendämmerung >>

Ferner auch: Die Banalität der Guten
Goedart Palm 20.09.2009

Politik in den Zeiten von Pest und Cholera

5/03/2008

Zettelkasten

Bald verschwinden die Festplatten und Zettelkästen: Das Netz ist eine globale Festplatte. Meister dieses Systems werden die Verweisungskünstler sein, die kleinen menschlichen Servoeinheiten, die die Zwischenräume bespielen. Das Prinzip der freien Assoziation wird zu einem fatalen Beziehungsgeflecht, dem kein Teilnehmer mehr entrinnen kann.

5/02/2008

Früher begann der Tag mit einer Fehlermeldung...

Zitat: "Windows konnte vorübergehend nicht vom Festplattenlaufwerk lesen. Bei diesem Problem handelt es sich um einen häufig auftretenden Fehler, daher ist es nicht möglich, den genauen Grund für das Problem aus dem Fehlerbericht zu ermitteln. In den meisten Fällen handelt es sich hierbei um ein vorübergehendes Problem, das ignoriert werden kann."

Die erstaunlichste Wendung im Umgang mit neuen, neuesten Medien ist doch die: Wir ignorieren "vorübergehende" Probleme, da wir wissen, dass wir zu wenig wissen, um jedes Problem zu erkennen. Hätte früher ein Automechaniker gesagt "Das Auto hat einen Fehler. Aber solange es nur selten ausfällt, würde ich den Fehler ignorieren", hätten wir diese Aussage für ein Zeichen seiner Inkompetenz angesehen. Heute leben wir in einem Meer von Fehlern, die wir wie "moderaten" Hautausschlag ignorieren. Diese Medienwelt ist also imperfekt, was Leibniz zum Überdenken seiner seit je kühnen bis unhaltbaren These veranlassen sollte. Es ist die fragilste aller möglichen Welten. Goedart Palm

5/01/2008

Thomas Pynchons real-imaginäre Spiegelwelt Revisited

Gegen den Tag - Version 2.0 (April 2008)

Thomas Pynchons real-imaginäre Spiegelwelt Revisited

"In Wirklichkeit ist sie (die Mathematik) aber eine Wissenschaft, die die größte Phantasie verlangt." (Sofja Kowalewskaja, Briefwechsel)

Literatur ist seit James Joyce ein Kosmos geheim verbundener Orte, schräger Typen, alltäglicher Epiphanien, vor allem aber seltsam kontrafaktischer Beziehungen, die schon der Vater der Surrealisten, der Comte de Lautréamont, für das Wesen der Literatur schlechthin hielt. Das Paradigma des späten Romans ist der numinose Beziehungsrausch, der in seinen lichten Momenten das Wissen der Welt über sich selbst so aufscheinen lässt, wie es idealistische Identitätsphilosophien im göttlichen Weltreflexionsprogramm schon immer erkennen wollten. Thomas Pynchon, der große Unbekannte der amerikanischen Literatur, der Mann mit der medialen Maske, betreibt dieses Spiel so exzessiv wie kaum einer zuvor. Gegenüber den mimetischen Sprachspielen des „Dubliners“ ist Pynchons Magie der weiter reichende Versuch, in einem nicht beiläufigen Sinne harte Naturwissenschaften und Mathematik literarisch produktiv werden zu lassen, bis sich die Mikroverhältnisse der Quantenmechanik in die Makrowelt der Literatur transformieren – oder eben gerade umgekehrt.

Pynchons ins Deutsche übersetzte Mega-Opus “Gegen den Tag“ provoziert wie immer die (nun netztechnisch aufgerüsteten) Spekulationen und sich überstürzenden Adhoc-Exegesen, um was es denn diesmal eigentlich geht. Wie soll Pynchons Viele-Welten-Literatur nichttrivial beschrieben werden, wenn ihrem enzyklopädischen Konstruktionsprinzip nach kaum anzugeben ist, wovon es nicht handelt? Lesen wir eine Lichterzählung manichäischer Antipoden, die indes metaphyisch und physikalisch gewitzter ist, als sie das offizielle amerikanische Kreuzzugsmodell seit 2001 als realpolitische Fabel konstruiert? Eine der unzähligen Figuren dieses Romans bringt es dann auf den Punkt: „Eure ganze Geschichte in Amerika ist ein einziger langer Religionskrieg: geheime, unter falschem Namen daherkommende Kreuzzüge.“[1]

So erläutert der Autor den Antisemitismus nicht als ideologisches Phänomen, sondern energiepolitisch: Es handelt sich nicht lediglich um irrationale Vorurteile, mentale Verirrungen, sondern um eine gewaltige dunkle, aber konkrete Kraft, die den Motor politischer Einflussnahmen und Karrieren betreibt.[2] Oder geht es in Pynchons Gegenwelt um höhere Mathematik wie Physik in der Weise, dass ihre unanschauliche, nicht greifbare Wahrheit zum Formprinzip des seit je über den Gattungen schwebenden Romans entfesselt wird? Wenn Pynchon erzählt, präsentiert er textuelle Schaltungen, deren Schaltbilder elektrischen mehr als epischen gleichen, was ihm vermutlich auch die aufmerksame Lektüre Friedrich Kittlers einbrachte. Oder verbinden sich Zeitreisen, parallele Universen und Pulp-Fiction zur literarischen Wirklichkeit der dunklen, längst nicht ausgeloteten Materie unserer allseits sedierten Smartworld, die auf ihre wahre Entdeckung noch wartet? Für Pynchon ist klar, dass die Entdeckung der Welt längst nicht abgeschlossen ist und nun die Kolonisierung der Zeit bevorsteht. Den Titel “Gegen den Tag“ wählte bereits Michael Cronin, der 1998 eine alternative bzw. virtuelle Geschichte des Zweiten Weltkriegs veröffentlichte und damit einem Leitmotiv folgte, das auch für Pynchons imaginäre Spiegelkonstruktion verbindlich ist. “Counterfactuals”, jene Abweichungen von der uns geläufigen Welt und Geschichte, sind auch das auf vielen Erzählebenen entfaltete Thema von „Gegen den Tag“: "Glaube ja nicht….du seist mit deiner Aufnahme an Bord der Inconvenience in ein Reich des Kontrafaktischen entkommen."[3] Nein, es bleibt an Bord des fiktiven Luftschiffes „Inconvenience“ der fünf schicksalswilligen Aeronauten, der „chums of chance“, „Freunde der Fährnis“ unbequem, weil hier keine leichten Passagen in das frei schwebend Phantastische und schon gar nicht zurück auf den Boden archimedisch gesicherter Tatsachen zu erwarten sind. Wir stoßen in real-imaginäre Wirklichkeiten vor, die uns die Rekonstruktion dieser ideologisch angeschlagenen Welt, die unsere sein soll und doch wieder nicht, ihr aber durch geheime Spiegel verbunden ist, keineswegs erleichtern. Pynchon behandelt das „Imaginäre“, das so real entsteht, spöttisch bis ironisch. Für ihn gibt es eine Logik der Verwandlung der psychisch ungelösten Probleme in äußere Gegenstände. Der Leser Pynchons hat viel zu tun, die diversen Bedeutungsebenen auf ihren Wirklichkeitsstatus hin zuzuordnen, bis er vielleicht erkennt – und das ist nicht die geringste Frucht dieser Lektüre – wie fragil die Ausgangsbedingungen dieser, also auch seiner eigenen Wirklichkeit sind.

In einer Verwöhngesellschaft, deren kategorischem Imperativ zufolge alles, auch das Wissen, konvenieren soll und Suchmaschinen das Wissen portionieren, verlässt sich Pynchon also auf literarische Zumutungen, die ihm selbst lesewillige Chefkritiker nicht so leicht verzeihen. "Now single up all lines!" lautet das (nicht plausibel ins Deutsche übersetzbare) Eingangskommando des literanautischen Aufbruchs, das zugleich ein literarisches Signal für Leser und Autor selbst ist, alle Motivstränge im einem groß angelegten Versuch nun neu durchzuspielen, um unsere Welt in ihren Gegenwelten und imaginären Varianten zu spiegeln. Der Roman funktioniert selbst wie eine Art „Anamorphoskop“ oder „Paramorphoskop“, „weil es Welten offenbart, die neben derjenigen liegen, die wir bis jetzt für die einzige uns gegebene Welt gehalten haben.“[4]

Um welche Welt geht es genau? Den freiwilligen Angaben des Autors zufolge ist es die nichteuklidische Welt von Bernard Riemann[5], David Hilbert und Hermann Minkowski. Wir betreten den imaginären Raum Riemanns[6], auf dessen realen Spuren sich Thomas Pynchon angeblich sogar eigens in Göttingen zur Recherche bewegte. „Riemannien“ wurde phänomenologisch als ein Land beschrieben, dessen Topografie zwei jeweils verschiedene Ansichten eröffnet.[7] Die vierdimensionalen Landschaften werden mathematisch als Graphen der Riemannschen Zeta-Funktion behandelt. Darstellungstechnisch wird die Landschaft in einen "Realteil" und einen "Imaginärteil" geschieden. Berge und Täler dieser komplexen Landschaft verkehren sich, je nachdem, ob eine reale oder imaginäre Sicht der Dinge gewählt wird. Anders formuliert: Nach der Zeta-Funktion besitzen alle nichttrivialen Nullstellen der Funktion den Realteil ½. Mathematisch sind die „Nullstellen“, die etwas über die Primzahlenverteilungen aussagen, die aufregendste Orte, weil sie sowohl im Real- wie im Imaginärteil auf Höhe „Normalnull“ liegen. Damit wurde 1859 eines der bedeutendsten Probleme der neuen Mathematik formuliert, das Anfang des 20. Jahrhundes der deutsche Mathematiker David Hilbert in seine berühmte Liste der 23 (!) bis dahin ungelösten Probleme der Mathematik aufnahm. Seitdem reißen die Versuche, die Vermutung Riemanns zu lösen, nicht ab und vielleicht ist „Gegen den Tag“ der weitere Lösungsversuch eines „Zetamaniacs“, in diesem Land auch literarisch erfolgreiche Expeditionen zu wagen. Hoffnung, das Problem zu lösen, verbindet sich heute mit der Theorie des "Quantenchaos", also der Verknüpfung von Quantenmechanik und Chaostheorie, die für Pynchon verklammernde Leitmotive seines gesamten Werkes sind. Das unfassbar Reale und das idealisch Imaginäre spielen seit der Psychoanalyse in der Fassung Jacques Lacans eine eminent wichtige Rolle. Und ist denn der Phänomenologe des Weltgeistes wie der –seele, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, je etwas anderes gewesen als ein real-imaginärer Spieler mit der erstaunlich konvertierbaren Wortmünze „ist“? Also das treibt uns an, ohne hier auf festen Boden zu rechnen: Wo liegt das „Rückgrat von Wirklichkeit“?[8]. „Wirklichkeit oder Imagination“ ist eine kaum auszulotende Frage, so lange man interner Beobachter und nicht Gott ist. In Pynchons verrückenden Vektorrechnungen beginnen wir in einer realen Welt, die sich in einer imaginären Referenzwelt fortsetzt, um schließlich in der sogenannten Wirklichkeit als neue Person aufzutauchen. Zwischen realen und imaginären Ereignissen herrscht in den Nachtzügen von „Gegen den Tag“ so reger Verkehr, dass das imaginäre Objekt bzw. seine Beobachter nicht leicht zu lokalisieren sind. Wir brauchen auch hier eine Sphärologie[9], die uns die Bi- und Dislokationen, den Verlust der Bodenhaftung und real-imaginäre Raum-Zeit-Achsen erklärt und pragmatische Neubesinnungen eröffnet, wenn sich Zeit und Raum in einer vierdimensionalen Physik neu verfugen. Hier geht es indes nicht lediglich um eine technisch orientierte Metaphysik, sondern zugleich um sehr konkrete Veränderungen unseres „In-der-Welt-Seins“. „Webb Traverse” heißt der zu rächende Anarchist, der die Travestie einer virtuellen Öffentlichkeit signiert, die nun in einer privatistisch-öffentlichen, mithin konstitutiv schizoiden Netzsphäre eng in ihrem kommunikativen Autismus zusammenrücken soll. Professor Renfrew in Cambridge spiegelt sich – rückwärts buchstabiert - in Professor Werfner in Göttingen, der als Protagonist eines Spaltexperiments ein und doch nicht derselbe, mit sich selbst verfeindete Teil einer Riemannschen Sphäre ist.[10] So wird es der größte Wunsch von Lindsay Noseworth, nicht eins, sondern zwei zu sein, was den Begriff der multiplen Persönlichkeit, die doch für homogen konstruierte Gesellschaften eine unmögliche, also psychopathische Figur ist, positiv besetzt.

Thomas Pynchon verbindet in „Gegen den Tag“ zahllose Figuren (mit immer - bis zum Kalauer bereiten – sich selbst auslegenden Namen), Orte und Ereignisse zu einem verspiegelten System, das von geheimen Gesetzen zusammengehalten wird, die den paranoid geschulten Leser provozieren, sich in den ubiquitären Beziehungswahn zu stürzen. Ist Ostende deshalb als Turnierort für Schach beliebt, weil Belgien in internationalen Konflikten das erste Bauernopfer, wenn auch kein echtes Gambit ist? Solche grotesk luziden Erkenntnisse des Weltkonstruktionsuntergrunds verwandeln literarisch die „Riemannsche Mannigfaltigkeit“ bzw. den „Riemannschen Raum“, der eine gekrümmte Fläche bezeichnet, die unseren physikalischen Alltagsregeln nicht länger folgt, in spekulative Welten, die nicht regellos sind, aber ihre Gesetze nur hermeneutisch und hermenautisch gewitzten Mitreisenden verraten. In dieser Welt muss die kürzeste Strecke zwischen zwei Punkten keine Gerade sein, so wenig die Winkelsumme im Dreieck 180° beträgt. Literaturmathematisch kann also der von Krafft-Ebing beschriebene Hut-Fetischismus, der Mayonaise-Kult und Richelieus Import der spanischen Fliege nach Frankreich eine explosive Erkenntnis darüber bergen, welchen vektoriellen Regeln politische Konflikte folgen.[11] Oswald Spengler wurde Opfer satirischer Angriffe, weil seine kulturmorphologische Verknüpfungsmetaphysik einigen Zeitgenossen so kontingent bis tendenziell pathologisch erschien und er das als Wissenschaft praktizierte, was Thomas Pynchon zum literarischen Spiel der Anspielungen, zum Bedeutungssystem der Deutungen macht. Aber welche Rolle spielt dieser Textsortenunterschied schon bei Universalpoeten respektive Universalhistorikern? „Es gibt zitronengelbe Falter, es gibt zitronengelbe Chinesen; in gewissem Sinn kann man also sagen: Falter ist der mitteleuropäische geflügelte Zwergchinese. Falter wie Chinese sind bekannt als Sinnbilder der Wollust. Zum erstenmal wird hier der Gedanke gefasst an die noch nie beachtete Übereinstimmung des großen Alters der Lepidopterenfauna und der chinesischen Kultur. Dass der Falter Flügel hat und der Chinese keine, ist nur ein Oberflächenphänomen. Hätte ein Zoologe je auch nur das Geringste von den letzten und tiefsten Gedanken der Technik verstanden, müsste nicht erst Ich die Bedeutung der Tatsache erschließen, dass die Falter nicht das Schießpulver erfunden haben; eben weil das schon die Chinesen taten. Die selbstmörderische Vorliebe gewisser Nachtfalterarten für brennendes Licht ist ein dem Tatverstand schwer zugänglich zu machendes Relikt dieses morphologischen Zusammenhangs mit dem Chinesentum.“[12]. „Schanghaier Scharaden“[13], „chinesische Verwicklung“[14] bzw. „Eine Art chinesischer Situation, nicht wahr?“[15] kommentiert Pynchon dieses eigene Urdilemma verknüpfungswütiger Textschaltungen, die auf sich selbst angewandt, die Gattungsgrenzen sprengen und nur durch Komik erträglich bleiben: „Ach was, also ob Grenzlinien noch irgendeine Rolle spielten…“[16]

"But it's everything that matters," erläutert Chick Counterfly, einer der fünf Schicksalsgenossen, diesen aeronautisch durchmessenen Bedeutungsrahmen, der kein Weltmoment unschuldig unverbunden entkommen lässt. Es geht um alle Welterschließungsweisen, auch wenn sie aus kruden Quellen sprudeln, wie jene Heftchen-Stories der „Freunde der Fährnis“ mit ihren sprechenden Hund und Zen-Provokateur „Pugnax“, deren Abenteuer zu ironischen Referenzen einer Fiktion in der Fiktion werden. Auch der Geschichtenraum von Pynchonesien ist ähnlich offen wie weiland die Filmräume Michelangelo Antonionis, dessen widerstrebende Kamera sich längst nicht narrativ vom „plot“ terrorisieren ließ. Auf für uns imaginären Achsen erleben die „Freunde der Fährnis“, diese Serapionsbrüder einer verspäteten Moderne respektive frühvirtuellen Zeit, andere Geschichten, die nicht weniger real als die erzählten sind. Das Personal der Pynchon-Stories ist unabsehbar, fast jedes Mem reklamiert einen Sprecher für sich. In der metaphorisch konstruierten „Töpler Influence Machine” werden vermeintlich disparate Materialien kombiniert, um eine literarische Elektrizität zu spenden, die dann Pynchons unwahrscheinliche Gesellschaften auflädt: Geheimzirkel, dämonische Horden, skurrile Einzelne, die jenseits von Staat und Gesellschaft anarchisch autistische Existenzen führen. Diesmal lümmeln sich auch Zeitreisende aus diesem oder jenem (Parallel)Universum durch die Texte, die mehr oder weniger irritiert reagieren, wenn plötzlich Großereignisse wie Weltkriege „irgendwie“ fehlen. Viele Figuren Pynchons sind kognitive Stunt-Kommentatoren, die offensichtlich - auch oder gerade als Existenzen im Reich der schwarzen Materie – viel Fernsehen gucken, nachhaltig im Internet surfen und wie „idiots savants“ alles notieren – weil alles wichtig werden kann. Jede Marginalie hat einen Marshallstab im Tornister, um schon bald zu großer Bedeutung aufzuschließen. Oft wurde bei den Pynchon-Exegesen das Naheliegendste übersehen: Pynchon ist als Schriftsteller ein Sensualist durch und durch, er schildert unzählige Details, ergeht sich in Wahrnehmungssensationen, ohne darin zu kollabieren. Allerdings muss auch er damit rechnen, dass ihm das widerfährt, was Thomas Mann nicht mehr erlebte, aber Teile seines Werks in das Schattenreich der Antiquiertheit verschob: Seine großzügigen Exkursionen in die Reiche der Naturwissenschaften, denn literarische Früchte abgezweckt werden, haben ein Verfallsdatum, mitunter schon vielleicht bei Aufnahme der Reise. Literatur, die sich auf die „harten“ Wissenschaften mehr als nur metaphorisch einlässt, riskiert ihren „Daseinsgrund“.

So global, gewaltig, komplex und wissend Pynchons verschlungene Welt auch konstruiert ist, die Abwesenheit von Gesellschaft macht sie zu einer so nomadischen wie monadischen Sphäre, die den biografischen Erfahrungen dieses nichtexistenten Autors eignen mag. „Gegen den Tag“ entfaltet keine empathiefähigen Protagonisten, keine psychologisch ausdifferenzierten Persönlichkeiten, sondern ungewisse Entitäten, Triebschicksale, skizzenhaft geschilderte Stichwortgeber, von der Toilettenwand herunter gesprungene Graffiti-Männchen, die nun in allen Zungen Babylons reden wollen. Die multilinguale „Ars combinatoria“ wird auch diesmal wieder exzessiv in der Pornografie inszeniert - einer bizarren Hardcore-Mechanik, die Figuren mitunter ähnlich zusammenführt, wie es der Marquis de Sade vorführte, der sich zeitlebens redlich abmühte, den vergleichsweise einfachen Geschlechtsakt zur Architektur der Lust und grotesken Verschaltung der Leiber zu transformieren, um die Schöpfung durch den Verrat an sich selbst zu provozieren.


Jenseits der christlichen Schöpfung

„Was für Götter, was für Geschlechter, was für Welten standen im Begriff, geboren zu werden?“[17]

Die Schöpfung, die wir bei Thomas Pynchon erleben, ist eine so kontingente wie notwendige Welt, die zuletzt reklamieren will, die beste aller möglichen Welten zu sein, wenngleich Hoffnung - „der Gnade entgegen“[18] - besteht. Die christliche Zeit ist linear konstruiert, das „dicke Ende“ kommt bestimmt, alles läuft auf das Omega hinaus, was historische Wahrnehmungen wenig bedeutend erscheinen lässt. Ist demgegenüber die schamanische Wirklichkeit einer auf viele Dimensionen, die in einem „einzigen, zeitlosen Augenblick existieren“, verteilten Zeit nicht vorzugswürdig?[19] Fundamentalistische Sprüche des erzbösen Kapitalisten Scarsdale Vibe, die das Paradox der christlichen Feindes- wie Nächstenliebe aufwerfen, dass man die Bösen töten soll, wenn die Kinder des Herrn gefährdet sind, lesen sich vor unseren alltäglichen TV-Hintergrund als Kommentare zu den neokonservativen Ausritten in den nicht demokratiebereiten Orient oder zu den zündelnden Zornigen im Banlieue. „A Modern Christian´s Guide in Moral Perplexities“ macht uns im Angedenken von 9/11 klar, dass Religion in ihren Antinomien gewalttätig ist, wie es der anarchistische „Reverend Moss Gatlin“ schon mit seinem Namen belegt – nach dem ersten von Richard Jordan Gatling entwickelten Maschinengewehr[20]. Zuvor hatte Pynchon in „Gravity`s Rainbow“ nicht ausgeschlossen, dass die Vereinigten Staaten von Amerika zu den „kosmischen Formen von grobem Unfug“ gehören könnten.[21] „Der Nationalgedanke ist auf den Krieg angewiesen.“[22] Der Reverend fragt diesmal im Stil unserer rotbalkigen Boulevard-Aufklärung nach dem Schrecken, der endlich wieder eine leicht nachvollziehbare Freund-Feind-Kennung im Stile Carl Schmitts bereit hält: ",,..wie kann jemand eine Bombe zünden, die unschuldige Menschenleben fordern wird?" Pynchon erinnert sich an den Witz in Stanley Kubricks “Full Metal Jacket”: „Längere Zündschnur“[23]. Ist das Böse nur eine Funktion von therapierbaren Psycho- oder Soziopathien, wie wir es uns zur Beruhigung und Hoffnung erzählen? Oder gibt es das pure Böse, wie es Terry Giliam in „Time Bandits“ als satanischen Kohleklumpen durch die Küche rollen lässt? Muss man das Böse so ernst nehmen, wie es auch der Papst tut? Die Hölle wäre mehr als eine projektive Verlängerung unserer Schwierigkeit, das Böse zu erklären, sondern ein „irrtümliches Plasma aus Hass und Strafe“[24], das dann in vielerlei Gestalt den Menschen heimsucht. Überhaupt ist es das Anliegen dieses Dichters, die rein metaphorischen Reiche zu verlassen, um jene Zone zu erreichen, in denen die Dinge aus ihrer Schattenexistenz heraustreten, um so real zu werden wie die Anlässe, aus denen heraus Dichter schreiben. Mehr als auf Subjektivität und „mentale Transportation“, zielt Pynchons Reise auf „laterale(r) Auferstehung“ [25].

Gewaltbereite Anarcho-Individualisten, explosive Stirnerianer vor der Auffahrt in den „Anarchistenhimmel“ und mit und ohne Drogen angetörnte Freaks diverser Bauart sind die wilden Kerle eines Autors, der wie Friedrich Nietzsche virtuelle Souffleure für seine selbst gewählte Einsamkeit des literarischen Selbstgesprächs erfindet. Vielleicht gefällt sich Pynchon in narzisstischer Abwesenheit vor dem Spiegel der Medien, weil es, ob man nun Honoré de Balzac, Roland Barthes oder den Aborigines folgt, dabei bleibt, dass die fotografische Abbildung der Tod vor der Zeit ist – was zu jener grotesken Selbstverhüllungs-Geschichte führte, dass der Autor CNN ein kurzes Interview gewährte, um im Gegenzug zu erreichen, dass heimlich geschossene Fotos des Meisters nicht veröffentlicht werden. Thomas Pynchon ist also ein weiteres Gespenst der Geschichte, das von Marx und Engels über die Marx-Brothers bis hin zu Jacques Derrida und Peter Sloterdijk selbst postmesmeristischen Gesellschaften nicht auszutreiben ist. Ist der Schrecken der Gespenster ihre Botschaft aus der Zukunft, dass wir tot sein werden, fragt Pynchon. Sind sie mithin unsere vektoriellen Schattenexistenzen, mit denen wir uns selbst verfolgen? „Unsere eigenen Gestalten hafteten darinnen wie schwarze, hohle Gespenster, die keine Tiefe haben“, kommentierte Adalbert Stifter tief ergriffen die „Sonnenfinsterniß am 8. July 1842“, die vom „Tod des Lichtes“ (Hans Sedlmayr) handelt. Licht, Schatten und Dunkelheit sind auch die intrikat entfalteten Themen in „Gegen den Tag“. Wir reisen „clairvoyant“ von „Der Finsterzwerg“ über zwielichtige Erleuchtungen bis hin zur hysterischen Blindheit derer, die die „Inconvenience“ nicht mehr sehen können, die zum Ende des Romans hin groß wie ein kleine Stadt wird. Wenn man den „Kampf ums Dasein“ (Pynchon verwendet den deutschen Ausdruck) verliert, phantasiert man bloß noch, um zu existieren und wird damit zum Gespenst der Geschichte. Bei Pynchon werden solche Phänomene über ihren metaphorischen Charakter hinaus als genuine Wirklichkeit behandelt, wenn er etwa en passant den Physiologen Charles Bonnet (1720-1793) erwähnt, der das nach ihm benanntes CBS-Syndrom so beschrieb: Sehbehinderte sehen lebendige und komplexe Bilder, die ihnen als durch und durch real erscheinen. CBS tritt nicht als psychopathologisches Phänomen auf, sondern als eine organische funktionelle Behinderung, deren Phänomenologie darin besteht, dass der Kranke bizarre Bildwelten mit Geistern, Elfen, Cartoonfiguren, magischen Landschaften etc. wahrnimmt. Pynchons Gastauftritte in drei Episoden der Simpsons (Diatribe of a Mad Housewife, All's Fair in Oven War, Moe'N'a Lisa) machen ihn selbst zu einem cartoonesken CBS-Symptom und gewähren Mikro-Einblicke in ein selbst entworfenes Gespensterleben, das vielleicht den Fantasien des Romans zur „wirklichen“ Queen Victoria strukturell folgt. „Vic“ altert dort nicht wie ihr „ghostly stand in“ der Realgeschichte, sie wird gefangen gehalten von einem Herrscher der Unterwelt, immun gegen die Zeit und in ewiger Jugend. Einigen wie den venezianischen Malern ist es gegeben, Phantome zu sehen, die gegenwärtige nicht mehr sehen können – Phantome wie Pynchon, der in seinem alten Navy-Foto fixiert bleibt, das ihn als ewiges Gespenst der Literatur zeigt.


Für Leser und andere Tatzelwürmer

Mit „Gegen den Tag“ kehrt Thomas Pynchon zur komplexen Erzählarchitektur von „V“ und „Gravity´s Rainbow“ zurück und hat „Vineland“ bzw. die gemäßigte Mason-Dixon-Linie wieder verlassen. Es bleibt eine editorische Zumutung für den Leser, dass diverse Begrifflichkeiten nicht übersetzt werden, denn Pynchons kabbalistischer Hell-Dunkel-Diskurs gestaltet sich so polyglott, dass reine Übersetzungen ohnehin zu kurz greifen. Ohne ein ausführliches Glossar fehlt es aber auch der deutschen Übersetzung an ausreichenden Bordmitteln, um die Fahrt auf der „Inconvenience“ von einigen Irrungen und Wirrungen zu befreien. Die alte Frage, ob Kryptologie das genuine Medium der Hermeneutik ist, ließe sich zumindest im Horizont des editorisch gut betreuten Lesers entschärfen. Oh Herr, gib´ uns unseren täglichen Hyperlink heute![26] Nicht erst seit dem „Bargfelder Boten“, der sich ausschließlich der Entschlüsselung von Arno Schmidts späten Romanen widmete, weiß man um die Fährnisse unbewaffneter Lektüre. Während im alteuropäischen Murano[27] die Geheimnisse der Spiegel- und Glasmacher fanatisch gehütet wurden und Arbeiter wie Gefangene gehalten werden, gelingt es Niccolò dei Zombini nach Amerika, in das Land der Praktiker und Pragmatiker, zu fliehen. Doch Pynchon tritt die Rückreise an, weil das alte Spiel von Kodierung und Dekodierung, das etwa bei E.A.Poe zur Obsession wurde, der Königsweg der Welterschließung bleibt. Es ist keine auktoriale Marotte, die Welt bleibt ein Vexierspiel und immer neue Lichtschübe werden uns nicht darüber täuschen: „It´s always night, or we wouldn´t need light“[28]. Wie können wir dann wissen? Die Inschrift auf dem Grab von David Hilbert lautet: „Wir müssen wissen, und wir werden wissen.“ Vor einem Studium höherer Mathematik könnte es allerdings relativ sinnlos sein, dieses intrikate Wissen Hilberts oder die vierdimensionale Minkowski-Welt in Thomas Pynchons neuem Roman in allen Facetten aufzuspüren, wie es eine größere Anzahl von Rezensionen erweist, die sich bereits an der Komplexität des Werks zuschanden gelesen haben. „Zu viele Töne“ oder „zu viele Wörter“ bleibt die Sprache der schlecht kaschierten Ignoranz kulturbeflissener Feuilletons. Solche Lektüren verkennen, dass Pynchon nie weniger verhandelt als die ganze Welt und vielleicht sogar noch mehr…

Für die im Roman kurz aufscheinende Mathematikerin Sofja Kowalewskaja (1850-1891), die in Göttingen mit einer Arbeit über partielle Differentialgleichungen promovierte und die erste Mathematikprofessorin im Europa des 19.Jahrhunderts wurde wurde, schien es unmöglich, "Mathematiker zu sein, ohne die Seele eines Dichters zu haben". Nach dem Tod ihrer Schwester schrieb sie: „Alles im Leben erscheint mir so verblasst und uninteressant. In solchen Augenblicken taugt die Mathematik besser; man freut sich, dass eine Welt so ganz außerhalb unser selbst existiert.“ Pynchon folgt sogar der Theorie vieler Welten bzw. Universen, die dicht beieinander liegen und doch so diskret getrennt sind, wie er es am Beispiel eines Hotelbetriebs skizziert, der an Friedrich Wilhelm Murnaus Film „Der Letzte Mann“ von 1924 erinnert: Wir sind alle „chums of chance“, „Freunde der Fährnis“, die vom Schicksal von oben nach unten und zurück gewürfelt werden. „Gegen den Tag“ wird dabei zur Schnittstelle zwischen „God´s unseen world“ und der wirklichen Wirklichkeit, die nur mit einer Physik zu begreifen ist, in der die Zeit real und der Raum imaginär ist. Ohnehin ist das die wichtigste Idee im Roman, der nicht ein weiteres Experimentalfeld für Scifi-Zeitreisen sein will, sondern den bereiten Leser irritiert, dass der Raum – eingedenk der Definition des Augustinus[29] - mindestens so unfassbar wie die Zeit ist. Wenn wir uns nicht mehr als selbstverständlichste Wahrnehmungserfahrung intuitiv auf Raum und Gegenstände verlassen können, könnte die Zeit zu unserer Verbündeten werden, ein angemesseneres Wirklichkeitsverhältnis zu finden. In einer sehr schönen Idee fragt Pynchon, ob es denn, wenn es doch den neutralen Boden als politischen Begriff gibt, auch eine neutrale Zeit geben könnte, etwa eine Stunde, in der man ewig unangefochten verharren kann.

Elfriede Jelinek, Pynchon-Übersetzerin: „Es ist ein Witz, dass er den Nobelpreis nicht hat, und ich habe ihn. Ich halte Pynchon für einen der bedeutendsten lebenden Schriftsteller, weit vor Philip Roth übrigens. Ich kann doch den Nobelpreis nicht kriegen, wenn Pynchon ihn nicht hat! Das ist gegen die Naturgesetze...“ Pynchons Held „Traverse“ bekommt irgendwann den Rat, diese farcenhafte Existenz aufzugeben und sich wieder der wirklichen Welt zuzuwenden. Vielleicht hält sich ja der Autor selbst daran und taucht rechtzeitig zur Verleihung des Literatur-Nobelpreises auf. Ob in der realen oder imaginären Welt, das ist nur eine Frage der Beobachtung oder eben der Riemannschen Mannigfaltigkeit und die ist nun in diesem Roman so mächtig entwickelt, dass kein Weg mehr zurückführt. Allein das macht diesen Großentwurf wichtiger als die vielen lesbaren Bücher, die so durchschaubar um die Gunst der Leser buhlen und deshalb so durchschaubar geschrieben werden. Schon hat man Pynchon aus diesem Ressentiment heraus vorgeworfen, sich selbst zu parodieren, also ob es bei diesem oder irgendeinem anderen bedeutenden Autor je einen signifikanten Unterschied zwischen der Wahrheit und ihrer Parodie gegeben hätte? Pynchons größte Provokation bleibt, dass die trivialen Tatsachen und die tiefen, tiefen Geheimnisse des Universums nicht signifikant zu trennen sind oder sogar sich von dem einem zum anderen Bedeutungspol hin – und herbewegen, wie es nur jenen unheimlich erscheint, denen Dynamik als Teufelswerk erscheint und feste Hierarchien für ihre kleinen Begriffswelten benötigen. Möge der Leser also von einer „Kosmischen Offenbarung heimgesucht“ werden, die „wie Taubenscheiße vom Himmel“ herabfällt.[30] Mit anderen Worten: Pynchon is back! Auch für den deutschen Leser, wenngleich die relative Unbekanntheit dieses Autors in Deutschland der Beleg für eine Leseschwäche ist, die schon vor der Pisa-Generation grassierte.

Goedart Palm


[1] Gegen den Tag, Reinbek bei Hamburg 2008, (abgekürzt: GdT9, S. 1148.
[2] GdT, S. 1190.
[3] GdT, S. 21.
[4] GdT, S. 374.
[5] http://www.emis.de/classics/Riemann/
[6] GdT, S. 738 ff.
[7] http://www.math-it.org/Mathematik/Riemann/Riemannia_de.html
[8] GdT, S. 898, im Original deutsch, ATD 604
[9] Vgl. Peter Sloterdijk, Sphären Bde.1-3. Eine Trilogie.
[10] Die im Internet angelaufene Pynchon-Interpretationsmaschine verwies darauf, dass in Cambridge das Eisenbahnsystem 1845 gebaut wurde, das von Göttingen im Jahre 1854.
[11] GdT, S. 810 ff.
[12] Robert Musil, Essay: Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind
[13] GdT, S. 510.
[14] GdT, S. 1125.
[15] GdT, S. 773.
[16] GdT, S. 1125
[17] GdT, S. 213.
[18] GdT, S. 1596
[19] GdT, S. 216.
[20] Der Prediger Billy Graham veranstaltete "crusades" und hatte den nom de guerre „Maschinengewehr Gottes“. Vgl. auch „Billy Graham's Bible Blaster“ in der Simpsons-Folge „Ned Flanders: Wieder allein“.
[21] Thomas Pynchon, Die Enden der Parabel, Reinbek 1989, S. 1038.
[22] GdT, S. 1381.
[23] GdT, S. 133.
[24] GdT, S. 973.
[25] GdT, S. 645.
[26] Deshalb http://pynchonwiki.com/
[27] Vgl. GdT, S. 531 mit der Beschreibung perfekter Spiegel: „Der vollkommene Spiegel muss alles zurückwerfen…“.
[28] Zitat von Thelonious Monk als Motto des Werks.
[29] „Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es, will ich es aber einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.“
[30] GdT, S. 1248.

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