12/23/2012

Wie gedruckt wird die Zukunft sein?


Das Dilemma nicht nur des General-Anzeigers ist der fatale Kampf um Aufmerksamkeit in schlechten Zeiten für treue Leserschaften. Einerseits produziert man (moderate) Betroffenheiten, andererseits will man es sich auch mit niemandem direkt verderben. Diese publizierte Stimmung, die längst keine öffentliche im klassischen Sinne ist, ist vielleicht zu oft gefährdet, als Beliebigkeitsjournalismus wahrgenommen zu werden. Und das konterkariert auch nicht die WCCB-Berichterstattung, deren fiese Details Staatsanwaltschaften ja wichtig erscheinen mögen, deren Dauerregen auf die Leserschaft aber viel zu intensiv ist. Ohnehin sollten Fakten nicht die Analyse überschatten – wie etwa im Fall von Trudel Ulmen. Die Beschwörung der Monstrosität des Täters ist ein so abgegriffener Gestus und die Veröffentlichung eines Briefs aus der JVA im Blick auf das Persönlichkeitsrecht des Täters bereits grenzwertig.

Fazit: So erscheint das journalistische Ethos des GA - abgesehen von dem üblichen Lokalkram, der wahrscheinlich unabdingbar ist (so wenig man ihn oft lesen möchte) - als eine Beschwörung des eigenen investigativen Journalismus mit der existenziellen Selbstaussage: Sehr nur her, wenn wir nicht gewesen wären … Ob das für das Wohlergehen des GA reicht dürfte aber weniger aufklärungsbedürftig sein als die allgemeine Frage, ob gedruckte Lokalnachrichten überhaupt irgendeine Zukunft haben…

12/16/2012

Entscheidungsqualen

Lese durch Zufall: NEU HARASTUHL Druckentlastung der Bandscheiben und verbesserte Gesäß Durchblutung. Modell: Nietzsche-V. 

Noch warte ich. Bald schon kommt garantiert Luhmann-V oder Žižek-V für bessere Hirn Durchblutung. Vielleicht Herrigel-V oder Lang Lang-V für höhere Treffsicherheit? Oder Bodhi-V für bessere Erleuchtung. Da mag man sich nicht entscheiden. Vielleicht nehme ich doch Dagobert-V mit höherem Disporahmen. Denn Stühle, die einen erst zu dem machen, was man immer sein wollte, kann man nicht genug haben.

12/10/2012

Verschont uns mit Rückblicken!

Den Jahresrückblick von RTL als „offenbar eine willenlose Abfolge von Rührstücken, Rekorden, Pech und Pannen“ (Spiegel-Online) zu kritisieren, fällt deshalb auf die Kritik zurück, weil Ereignisse eines Jahres keine große homogene Sinnstiftung eröffnen. So wie Facebook-Beiträge sich auch nicht zu einer großen Sinncollage verdichten, so wenig wird ein Jahr dadurch rund, dass man es betrachtet. Bücher wie „Das war 2012“ sind ohnehin nur Produkte für spätere Nostalgiker. Jahresrückblicke bleiben Sinnrettungsversuche mit sinnlosen Mitteln. Wer Strukturen aufzeigen will, wird das nicht als Silvesterbetrachtung präsentieren. Anstelle eines aktuellen Jahresrückblicks bin ich dafür, Archivmaterial zu zeigen, das so Recht klar macht, wie überflüssig dieses „Format des Formatlosen“ ist. Oder eben „Dinner for one“, was gleich bleibend inaktuell ist und uns daher versichert, dass wir nie altern werden.

Goedart Palm

Warum die Bonner Kulturdiskussion unter anderem ihr Ziel verfehlt

Die staatliche wie gesellschaftliche Hoffnung auf kulturelle Selbstausbeutung funktioniert so ähnlich wie Konrad Adenauers Spruch "Kinder kriegen die Leute sowieso". Unterstellen wir ohne allzu großen ideologischen Aufwand, dass Künstler, Kritiker und Kulturmenschen aller Sorten (mit oder ohne W. Kandinsky gesprochen) ein gewisses oder ungewisses Maß an "innerer Notwendigkeit" nur schlecht unterdrücken können. Just jene mit dem größten Sendungsbewusstsein, was bekanntlich nicht immer trennscharf von Narzissmus zu unterscheiden ist, werden ohnehin produzieren. Öffentliche Kunst- und Kulturförderung in Zeiten knapper Budgets läuft dann lediglich darauf hinaus zu warten, bis die bunten Ostereier wieder gratis rollen. Das Gegenmittel findet sich mutatis mutandis bei Lysistrata: Es gibt so lange weder Kunst noch Kritik, bis die Honorare stimmen. (Schirmherr könnte ja Peer Steinbrück werden, wobei die Offenlegung der Honorare aller Parlamentarier definitiv noch andere Personaloptionen eröffnet.) Die einzige Schwäche dieses Konzepts ist lediglich die, dass die kulturelle Befriedigung einem "Trieb" folgt, den zu viele Menschen noch nicht an sich entdecken konnten bzw. der frühzeitig der Kulturersatzstoff-Industrie zum Opfer fiel.

Goedart Palm


12/05/2012

@General Anzeiger: Was ich so nicht mehr zu lesen wünsche

Der Fall "Trudel Ulmen", den der General-Anzeiger maßgeblich mitaufgedeckt hat, ist ein Abstieg in die Perfidie der menschlichen Psyche. Allerdings wird der Tatbestand durch seine Wiederholung nicht besser, sondern redundant. Anstatt jedes Mal neu die Ruchlosigkeit des Ehemanns zu beschwören, wäre es erheblich spannender, mal eine kriminologisch fundiertere Beschreibung solcher Psychen folgen zu lassen. Im Übrigen entsteht der Eindruck, dass der General-Anzeiger bei seiner journalistischen "Raumverteilung" zu sehr in der Kategorie "Selbstreferenz" operiert, will sagen: Wir haben es aufgeklärt und daher lassen wir vom Thema nicht ab. Fazit: Mehr Analyse und weniger Erschauern über menschliche Niedertracht.

Goedart Palm

Stilratgeber


Style ist der Stil für die, die keinen finden.

Goedart Palm

11/24/2012

Kassensturz ins Kino - WCCB-Verfilmung

Produzent Nico Hofmann will die Filmrechte für die „Wulff-Affäre“ erwerben. Warum für eine solche Verfilmung ein Erwerb der Rechte erforderlich ist, quält weniger als die Frage, warum das überhaupt verfilmt werden muss. Das kann doch nur gelingen, wenn die Wirklichkeit der Affäre mehr oder weniger schrill überboten wird. Sonst wird der Film ein Sedativ. 

Wenn die Bonner davon lernen wollen, verfilmen wir hier die WCCB-Story. Einige Original-Akteure könnten bestimmt als Laienschauspieler angeworben werden. Andere mit vermutlich geringerem Interesse, dauerhaft auch noch künstlerisch in die Affäre verwickelt zu werden, sollten durch echte Namen (darum ging es doch in der Affäre, Hyundai hin oder her) des Film-Business ersetzt werden. Etwa Man-Ki Kim durch Jet Li. Einige Action-Szenen, in denen Aktenordner gespalten werden, sorgen dann für den Extra-Thrill. Die Stadt übernimmt die Produktion und die Einnahmen fließen entweder in die Fertigstellung des WCCB oder in den Bau des Festspielhauses. Der Titel ist schon durch die Presse vorgegeben: Vom Reinfall zum Heimfall. Sonst alternativ: „Kassensturz ins Kino“.

Goedart Palm

11/19/2012

Antoine de Rivarol

Die Geburt des Aphorismus aus dem Geist der Pyrotechnik


Antoine de Rivarol - der monarchistische Aufsteiger

als aufgeklärter Reaktionär.


Eine Auswahl seiner Gedanken und Maximen, Porträts

und Bonmots »Vom Menschen« ist jetzt bei

Matthes & Seitz Berlin erschienen.

von Goedart Palm


Antoine de Rivarol teilt sich hierzulande mit den anderen großen französischen Moralisten des 17. und 18. Jahrhunderts das Schicksal, sein bedingt feudales Soziotop vornehmlich im Kalenderblatt zu finden. Das ist zwar nicht die unrühmlichste Quelle, aber eben doch ein untrügliches Zeichen für die literarische Einfriedung als saisonal aufgedrängter »Abreiß-Weiser«. Das sollte jetzt anders werden. Der Verlag Matthes & Seitz öffnet nun eine opulent ausgestattete Schatzkiste mit »Gedanken und Maximen, Porträts und Bonmots« Rivarols, die diesen alerten Geist in umtriebigen Zeiten wieder erstrahlen lassen. Vergleichbares lag bisher nicht vor. Ernst Jüngers Bändchen über Rivarol war eher ein literarisches Amuse-Gueule, eine kleine Hommage, um einen weitläufig politisch Verwandten nicht ganz zu vergessen... weiter hier >>

P.S. Zugegeben ging es mir auch darum, ein wenig besser in die literarische Daseinsberechtigung des Aphorismus einzudringen. Seht selbst.

Goedart Palm






Antoine de Rivarol



11/17/2012

Das Telos der Fotografie

Bei der "Nikon S800c" wird einem sofort klar, dass wir nun nur noch eine Kamera benötigen, die auch endlich die Motive für uns auswählt und eigenständig die Bildbearbeitung übernimmt. Das schafft viel Freiheit. Das einzige Ziel kann nur sein, die ganze Welt zu fotografieren. Und dafür braucht es keinen Fotografen, der uns die Welt erklärt, sondern nur eine Apparatur, die kompromisslos arbeitet. Wer eine spezifische Weltsicht braucht, wird wohl eine Taste finden.

Goedart Palm


11/13/2012

Frankfurter Rundschau Insolvenz

Und gerade schrieb ich noch über El Pais ... es geht noch schneller als vermutet.

Goedart Palm

El Pais und die Titanic

El Pais entlässt Mitarbeiter. Das schade dem Qualitätsjournalismus, lautet die Kritik. Wie naiv. Will man nicht begreifen: Die kämpfen um das Überleben. Und das werden sie vergeblich tun, wenn sie weiterhin Printgeschichten verkaufen, die schon im Moment des Erscheinens keine Novität mehr darstellen.

Goedart Palm

11/12/2012

Anselm Reyle

Dem Künstler vorzuwerfen, er produziere Kitsch, ist eine sinnlose Aussage bzw. Kritik geworden. Kitsch war nie eine greifbare Kategorie. Wer vom "Bösen im Wertsystem der Kunst" spricht, hat die Beweislast. Heute wäre ästhetische Moralisierung der Kunst eher selbst eine Art von Moralkitsch. Also moralisiert die Künstler nicht, ihre Bedeutung ist ohnehin nur noch gering.

Goedart Palm

Deluxe Version

Man stelle sich vor: Beethoven kündigt seine Neunte in drei oder vier Versionen an. Für die besser Betuchten gibt es die "Deluxe Version". Vielleicht ein fünfter Satz mit der Ode an die "Sustainability". Für die anderen gibt es nur die "Freude". Wir wissen ja, dass Geschmack eine Frage der Distinktion ist, die eben am einfachsten durch verschiedene Kunstwerke bzw. Kunstwerkstufen einzulösen ist. Now get it: "Beethoven 9. th Symphony - Deluxe Version. 15 minutes more..."

Goedart Palm

11/09/2012

Ostrazismus

O. wäre in Bonn keine Strafe.

Goedart Palm

Beweislastumkehr

Wenn sich heute einer Philosoph nennt oder nennen lässt, trägt er die Beweislast. Das war vordem anders. Klar wird hier unter anderem, dass der Philosoph einen antiquierten Beruf ausübt. Wer braucht ihn?

Goedart Palm

Stille Einfalt

Eine mediale Diskussion, die sich auf die Frage richtet, ob nun Frau Weisband die Piraten rettet nebst den sinnlosen Folgediskussionen macht klar, dass man Medien alles durchgehen lässt, weil sie längst ihre Interpretationshoheit durch solche Abwegigkeitsdiskurse verspielt haben. Wenn Wohl und Wehe der Piraten über Marina Weisband definiert würde, könnte es mit den Piraten nicht weit her sein. Parteien, die von einigen Persönlichkeiten allein abhängig sind, sind keine Parteien, sondern Inszenierungsvereine.

Goedart Palm

11/08/2012

Saatchi Showdown

Honi soit qui mal y pense


Goedart Palm

Was mich nicht interessiert: "Halloween-Party im Kameha"

110 Bilder, keine Kleinigkeit, sind es dem General-Anzeiger wert, dem ästhetisch nicht sonderlich anspruchsvollen Narzissmus einiger Party-Gäste des Kameha zu folgen. Auch der weitere Umstand berührt, dass es sich um eine Veranstaltung handelt, die maßgeblich der Imagepolitik des Hotels folgt. Will man nun den in Mitleidenschaft geratenen Begriff der Öffentlichkeit noch weiter korrodieren lassen, um Viertelstundenberühmtheiten a la Warhol zu produzieren. Das ist auf dem Informationsniveau der Geschäfte von Fotoläden, die jeden Teilnehmer der Erstkommunikationsprozession oder des Karnevalszugs ablichten. Welcher Marketing-Strategie das auch immer folgen mag, ist unwichtig gegenüber dem Umstand, dass private Banalitäten im aufdringlicher nach außen gestülpt werden. Wir erleben die von Richard Sennett in " Verfall und Ende des öffentlichen Lebens - Die Tyrannei der Intimität" beobachtete Demontage der res publica. Wenn sich der Journalismus darauf einlässt, fällt er noch hinter den Anspruch von "facebook" zurück, das die Rekonstruktion solcher halbprivater Erlebnissphären besser realisiert - schon weil facebook über so viele kostenlose Mitarbeiter verfügt. Der Journalismus ist nicht zuständig für Nabelschau und die Stiftung von "communities", sondern für verallgemeinerungsfähige Themen. Wenn dieses Selbstverständnis wankt, erleben wir den Vorschein einer medialen Selbstauslöschung.

Goedart Palm

11/04/2012

Pixar Bonn Kunstgeschichte

Wenn ich Pixar sehe, weiß ich, was in die Kunstgeschichte gehört, so wir sie denn überhaupt schreiben wollen. Jene Tafelmaler, die heute Spitzenpreise erzielen, werden durch den Rost dieser Geschichte fallen. Pixar produziert Gesamtkunstwerke und selbst deren Abfallprodukte besitzen mehr Schmelz als das Zeug des Kunstmarktes.

Goedart Palm

11/03/2012

Tiefzone Journalismus

Wenn Spiegel Online die Frage, ob "Cindy aus Marzahn" die neue Michelle wird, für die spannendste der heutigen Ausstrahlung hält, beantwortet das Magazin zugleich die Frage, welchen Weg der Journalismus zu gehen bereit ist. Karl Kraus wäre unter solchen Bedingungen nicht mehr denkbar.

Goedart Palm

Oh, Sandy girl

Wie sehr Menschung unter "optimism bias" leiden, macht unser unguter Wirbelsturm "Sandy" klar.  Diese Menschheitsgeißel müsste doch "Terminator" oder "Terminatrix" heißt. Katastrophen als Katastrophen zu bezeichnen ist eine moralische Frage.

Goedart Palm

10/30/2012

Kulturberichterstattung General Anzeiger

Heute präsentiert der General-Anzeiger einen Konzertbericht der "Söhne Mannheims" im Kölner E-Werk. Was bringt das wem? Das Konzert ist vorbei. Der Teufel weiß, wann die Gruppe noch einmal in der Gegend erscheint. Die Gruppe ist nicht gerade ein Weltereignis, abgesehen vom üblichen "de gustibus non ...". Was im Übrigen hat das Kölner E-Werk mit Bonn zu tun? Wenig bis gar nichts. Es gilt selbst für die FAZ, dass der Kulturteil die geringste Leserschaft findet. Muss Kulturjournalismus sich in dieses dröge Schicksal hineinfinden? Gibt es keine anderen Themen als irgendein Konzert, das in Köln läuft und für das in der Redaktion ein paar Freikarten herumliegen. Ich befürchte, wir müssen uns die Kulturberichterstattung anderenorts "besorgen". Kultur, die nicht so präsentiert werden kann, dass sie den Leser trifft, existiert gar nicht. Der Kulturjournalismus hätte noch eine echte Bewährungsprobe vor sich, wenn er noch an sich selbst glaubte, was ich wiederum nicht zu glauben vermag.

Goedart Palm

10/29/2012

Cybermedienwirklichkeit

Wer sich ein wenig für die Rezeption der Publikation "Cybermedienwirklichkeit" interessiert, wird hier fündig.

Goedart Palm

10/28/2012

"Medien" und Hautausschlag

Wer von "Medien" spricht, sollte Hautcreme besitzen. Denn der Hautausschlag ist bei dieser Begrifflichkeit inzwischen fast garantiert. Wenn die Medien dann noch "postmedial" werden, sollte man die große Forte-Packung nehmen. Der oder die wären genial, die auf den Begriff "Medien" verzichten könnten. So weit sind wir noch nicht, aber es steht kurz bevor.

Goedart Palm

10/27/2012

@General-Anzeiger, wie lieb´ ick Dir.

Der General-Anzeiger bleibt das unhintergehbare Blatt unserer Wahl. Denn hier gibt es originelle Unterscheidungen, von denen die Kunst bekanntlich lebt. Inzwischen finden Ausstellungen einer der ältesten Bonner Künstlergruppen "KLÄRWERK III" nicht mehr im Bonner "Feuilleton" statt, sondern werden zum genuinen Teil der Bad Godesberger Lokalszene. Warum sollten das auch Bonner lesen? Distinktion ist doch in der Kultur essentiell. Nun müssen kulturelle Zusammenhänge nicht länger diskursiv breit getreten werden. Hand aufs Herz, wer interessiert sich schon für regionale Kulturhermeneutik und andere Herzensergießungen?

KLÄRWERK III ist nun nicht länger nur eine Künstlergruppe, sondern wird zu einer lokalen Institution wie etwa die Müllverbrennungsanlagen oder schließungsbedrohten Schwimmbäder. Da wollten wir hin! Der General-Anzeiger nimmt es bzw. uns wörtlich, dafür gebührt ihm Dank.

Goedart Palm

Support your local "KLÄRWERK"!

10/26/2012

suhrkamp taschenbuch wissenschaft

Ich konstatiere mein immer größeres Desinteresse an der dunkelblauen stw-Reihe. Früher waren unsere Götter dunkelblau. Der Verdacht kommt auf, dass die Autoren uninteressanter bis nichtssagend geworden sind. Aus tiefer Menschlichkeit heraus nennen wir keine Namen. Einige Titel versprechen perennierende Langeweile. Verlage aufgepasst, Suhrkamp verschläft womöglich etwas. Hier heißt es einspringen. Liefert uns aufregende Wissenschaft und wir werden Suhrkamp untreu! Unsere Leidenschaften sind nicht mehr groß... Goedart Palm

Noch ein Buch - Pippa

Man stelle sich vor, man lebte schiffbrüchig auf einer Insel und hätte nur das Buch von Pippa Middleton zur "Auswahl". Aus der Reihe "Szenarien des Alptraums". Goedart Palm

10/24/2012

@General-Anzeiger - Kunst und Kultur

Dass der General-Anzeiger eine öffentliche Ausstellung einer der ältesten Künstlergruppen Bonns, KLÄRWERK III, im Haus an der Redoute bis zum heutigen Tage ignoriert, klärt mich nicht nur über den Nachrichtenfokus des GA vollständig auf. Es geht auch um das journalistische Ethos, wenn private, kommerziell orientierte Kulturinitiativen, etwa Galerieausstellungen, notiert werden, öffentlich geförderte aber nicht in den Aufmerksamkeitshorizont gelangen. Da frage ich mich, ob der Herausgeber über diese Selektivität der Berichterstattung informiert oder gar erfreut ist. Goedart Palm

Lutherpreis für Pussy Riot

Na klar, was denn sonst! Mit Jesus und Luther gegen die Heuchler. Goedart Palm

10/23/2012

Was Peter Sloterdijk unterschlagen hat!

Gerne lese ich die interessanten Ausführungen zu den geistigen Potentialen in Sloterdijks Ausführungen. Zuletzt geht es noch um die sieben Menschenhirne seraphischer Dimension, an denen auch Gott noch Interesse haben muss. Doch wer, um Gottes Willen, wer ist damit gemeint? Das verrät uns Peter Sloterdijk nicht. Dabei hätte wir für seine Aufzeichnungen noch einige Euro mehr gezahlt, wenn es ein bisschen mehr Namedropping just an dieser Stelle gegeben hätte. Wer sind unsere seraphischen Großgehirne? Goedart Palm

Studiert nicht Medientheorie!

Medientheorie ist kein Studium wert. Denn wenn sich mediale Gebrauchsweisen zu konturieren scheinen, verschwinden sie bereits wieder in der nächsten Technologiekaskade. Dem hecheln dann Theoretiker hinterher, die den ständigen "Paradigmenwechsel" nur noch als Provokation empfinden können. Dieser Prozess lässt sich detailliert beschreiben, er ist vor allem aber eins: kategorienlos. Goedart Palm

10/22/2012

Rentenalter Pareto

Die Erhöhung des Rentenalters ist ein Beleg für die Unfähigkeit dieser und anderer Gesellschaften, die Ergebnisse gesellschaftlich produktiver Arbeit gerecht zu verteilen. Im Grunde ist die Verschiebung des Rentenalters nicht anderes als die Selbstausbeutung des Einzelnen, der auch noch seine letzten Zeitressourcen verschenkt, um über die Runden zu kommen. Das ist nach dem Pareto-Prinzip geurteilt dumm. Auf kollektiver Ebene ist es auch ein fataler Irrweg, der nicht dadurch besser wird, dass inzwischen erkannt wurde, dass die Renten alles andere als sicher sind. Lassen wir uns nicht durch kollektive Irritationen täuschen. Goedart Palm

Schuhtick - RLMB - Oktober 2012

Am besten ist der Bananenschuh: Aus der Stolperfalle wird das betörende Schuhwerk. Das nenne ich eine großartige Anverwandlung. Goedart Palm

10/20/2012

Zuständigkeitsexzesse der Politik

Ist es nicht unglaublich, dass CDU Granden die Düsseldorfer Universität in Sachen "Schavan" attackieren? Wir beobachten eine unglaubliche Kompentenzanmaßung, die "an sich" heftigste Gegenreaktionen auslösen müsste. Sagt die Politik etwas anderes als das: Was ist schon Wissenschaft, wenn es um Etablierungsmomente marginaler Art geht? Wir erleben also einen Bestätigungsdiskurs, der klar macht, dass die Anklagen wegen der Desavouierung der Wissenschaft mehr als berechtigt sind. Goedart Palm

Silvana Koch-Mehrin verlässt das Europaparlament

Wie kann das zu einer Spitzennachricht werden? Wer darüber reflektiert, hat gute Chancen, das heillose Verhältnis von Politik und Medien zu verstehen. Goedart Palm

Kleine Kubrick Hommage

London Zufallsfoto Chelsea Embankment während der Brückenbauarbeiten 2012: Just hier findet die Revanche für den "geheilten Alex" statt, der von einem seiner Opfer, den in der berühmten Anfangssequenz brutalisierten "Penner", an dieser Stelle (rechts an der Brüstung) wiederentdeckt wird. Diesmal leidet Alex. Goedart Palm

Polyphone Politik

Es mag sein, dass seinerzeit die vertikal komplexen Mehrstimmigkeiten der Musik Einfluss auf Staat und Gesellschaft hatten. Max Weber sagte mal, so wolle er schreiben können wie vertikal komponiert werden konnte. Die heutige Polyphonie der Künste dürfte wenig bis gar nichts dazu beitragen, dass Politik entfaltet wird. Der Einfluss der gegenwärtigen Kunst auf die Ausdifferenzierung von Gesellschaften dürfte gleich Null sein. Außer der Perpetuierung alter Ansprüche in einem geschlossenen System ist nicht viel zu sehen.

Goedart Palm

10/18/2012

Damien Hirsts "Verity"

Leonardo da Vinci hat vor solchen Darstellungen auch nicht "zurückgeschreckt". Gewiss, die Anlässe waren verschieden, aber die Ästhetisierung findet sich auch hier. Hirst hat viele Kunstwerke gemacht, die die Welt nicht braucht. Aber "Verity" hat im mehrfachen Wortsinn eine antike Größe. Vormals hätte man gesagt, "Veritiy" ist erhaben...

Goedart Palm

10/17/2012

Systemversagen

Wenn das Statistische Bundesamt konstatiert, dass 15,8 Prozent der Menschen in Deutschland armutgefährdet sind, funktionieren weder Wirtschaft noch Politik so, wie wir es voraussetzen. Wir reden nicht nur im Fall von Deutschland von einem Land mit hoher Produktivität, ohne dass offensichtlich vernünftige Verteilungsmechanismen existieren. Im Grunde bringt das die Verhältnisse auf den Punkt: Wer jetzt noch von Systemen und ihren Vorzügen spricht, sollte genau begründen, welche notwendigen Mechanismen eines gerechten Gemeinwesens er meint. Das erledigt sich nicht im Begzu auf ein Rechts/Links-Schema, sondern setzt einen besseren Blick voraus, die gesellschaftliche Produktion von Reichtum und Arbeit zu begreifen. Im Grunde ist es ein Schaltbild, das qualitative Bahnen der Verteilung festhält, die vielen kleinen Untiefen verzeichnet, in denen Reichtum verschwindet ohne jede gesellschaftliche Verantwortung.
Goedart Palm

10/15/2012

Wenn ich Politiker wäre...

...und mir Frau Merkel "vollstes Vertrauen" gegenüber ausspräche, würde es mir ganz blümerant zumute. Denn hinter diesem Vertrauen stünden vielleicht die Plagiatshäscher und schon bald ist "Vertrauen" keine Währung mehr, um sich zu retten.

Goedart Palm

Et audiatur altera pars?

Frau Annette Schavan fordert diesen Grundsatz ein. Zum Plagiatsvorwurf müsse auch sie gehört werden. Gewiss. Doch sicher ist das hier nicht mit einem beliebigen Ermittlungs- oder Strafverfahren zu vergleichen. Denn sie hat ja die Arbeit geschrieben, die liegt vor und die kann objektiv geprüft werden. Das ist ein anderer Erkenntnistypus als jener, in dem "nur" Zeugen oder andere fragile Erkenntnismittel zur Verfügung stehen. Wie würden objektivierbare Plagiatsvorwürfen exkulpiert? Blackout? Oder: Die zitierten Quellen waren nicht aufzufinden. Frau Schavan mag also die Universität so viel kritisieren wie sie will. Sie hat die Arbeit geschrieben. Und diese Arbeit sollte für sich sprechen - oder eben nicht.

Dr. Goedart Palm

10/12/2012

General-Anzeiger, noch eine kleine Anstrengung, wenn er weiter gelesen werden will

Heute, 12.10.2012, berichtet der General-Anzeiger Bonn über eine Kornnatter, die in einem Garten neben dem Kindergarten der Auferstehungskirche am Haager Weg gesehen wurde. Oh Schreck, die Entwarnung, dass es sich um ein harmloses Getier und keine Ramba-Mamba-Zampa-Würgeschlange handelt, erscheint unserer Lieblingszeitung so aufregend, dass sie gleich zweimal inhaltlich gleichlautend präsentiert wird. Vor ein paar Tagen erhielt der General-Anzeiger den deutschen Lokaljournalistenpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung. Es sei ihm gegönnt. Aber in das Grübeln kommt man bei Ungenauigkeiten der genannten Art schon. Jüngst erschien im GA die Mitteilung, dass ein Kampfhund eine Frau gebissen hat. Das ist in der Tat originell, weil auf jeder Journalistenschule doch das Klischee gelehrt wird, dass es richtig heißen muss: Mann beißt Hund. Abgesehen von solchen journalistischen Höhenflügen erscheint es mir allerdings noch einige Anstrengungen wert zu sein, sich nicht zu sehr auf das familiäre Allerlei und die gut gemeinten, aber bedingt unterhaltsamen Schülertexte zu verlassen. Der GA sollte sich dringend "entmuffen", denn wie ja längst allen deutschen Redaktionen bekannt ist, verspeist das Internet mit größtem Appetit Printmedien und ihre Neuigkeiten, die eben sub specie digitalis keine mehr sind. Dass der General-Anzeiger also zweimal die Kornnatter sich ringeln lässt, aber die Ausstellung einer der ältesten Bonner Künstlergruppen "Klärwerk III" bisher mit keinem Wort erwähnt, lässt uns dieses Flaggschiff des Bonner Journalismus inzwischen doch ein bisschen schwergängig erscheinen.


Goedart Palm

10/11/2012

Das meistgelesene Blog

ist das nicht, aber ich glaube, es bestehen die besten Chancen, es zu werden.

Goedart Palm

Eure Zeit tickt...

Die Klärwerk III-Ausstellung "Künstlerfreunde" im Haus an der Redoute Bad Godesberg geht nur noch bis 28. Oktober 2012. Wer es jetzt verpasst, sieht es nie mehr - in his whole life. Versprochen! Was, wenn Eure Kinder fragen: Bist Du auch dabei gewesen? Dann werde Ihr nicht mehr lavieren können, sondern müsst Rede und Antwort stehen.

Goedart Palm


10/09/2012

I´m not too thrilled...




"...We were thrilled with the outstanding quality of the submissions and glad to have had you as part of the competition.

Unfortunately, due to the large number of participants, your work did not advance to the next round. Thank you again for being part of the Saatchi Online community, we greatly value your participation..."

Well, quite disappointing for I presented my outstanding "Tribute to Piranesi". For me it is part of art history and there is no the slightest reason to discard it. Have a look on it below. Maybe Saatchis way of quality-finding should be reconsidered. I am ready...

Goedart Palm





10/08/2012

13 Assassins

Zitat hin oder her: Kurosawa lieferte ein Meisterwerk ab, während Takashi Miike zwar weiß, die basic patterns des heldischen Samurai-Kampfes wiederzugeben, von den "Sieben Samurai" aber Lichtjahre entfernt ist. Die Figuren von Miike haben kein Eigenleben, die Protagonisten sind Statisten. Alleine der "Clown" ist eine zentrale Figur bei Kurosawa, der existentiell wie eine Figur von Cervantes ist. Bei Miike ist er ein frecher Held, den keine Empathie des Zuschauers begleitet. Der Unterschied zwischen den beiden Filmen ist so existentiell, dass wir uns halt entscheiden, lieber noch zehnmal Kurosawas Meisterwerk anzusehen, während wir Miike schnell wieder vergessen.

Goedart Palm

The Warlords

Man mag Meinungen über Martial Arts-Movies haben, der Film "The Warlords" ist ein antikes Drama, nahe der Iphigenie: Moral des Staates versus natürliche Moral des Subjekts, um nicht von Naturrecht zu sprechen. Konsequentialistische Ethik versus Gesinnungsethik. Es gibt konfligierende Moralen, die unentscheidbar bleiben und das Moralgeschäft gefährlich kontaminieren. Kategorisch ist der Anspruch, aber nicht die Lösung. Die "chinesische Lösung" ist indes zwingend: Alle Protagonisten sterben, so glättet sich der See der moralischen Erregungen. Die Sünde ist getilgt. Doch der Konflikt wird wieder und wieder auftreten...Es gibt keine Lösung: Also handle!

Goedart Palm

10/07/2012

Ein Streit, "der nur Verlierer produziert."

Der Streit um Honorare, mit dem Steinbrück nun antritt, sei einer, "der nur Verlierer produziert", meint Spiegel online. Wieso eigentlich? Ist es nicht so, dass diese Mentalität, auch die Blumen am Wegesrand noch schnell zu pflücken, moralisch höchst zweifelhaft ist? Warum gibt es überhaupt dieses Vortragswesen, das darin besteht, Namen und Geld in ein inniges Verhältnis zu setzen? Man solle sich endlich darüber Rechenschaft geben, dass die Konstruktion wichtiger Personen des öffentlichen Lebens ein Irrweg der Demokratie ist. Grotesk, wenn Leute wie Bill Clinton Jahre nach ihrer aktiven Amtszeit riesige Rednerhonorare kassieren, obwohl ihre Einblicke in die Politik höchst übersichtlich sein dürften. Wann endlich erlöst man uns von diesem Personalzirkus, der sich vor die eigentlichen Fragen schiebt und vornehmlich Dunst produziert, der echte Aufklärung behindert.

Goedart Palm

10/06/2012

Moderate Dekonstruktion des Hauses an der Redoute


Klärwerk III - Künstlerfreunde Oktober 2012

10/05/2012

Zur moralischen Kunst der inszenierten Politik



Ein Text aus dem Archiv: In der »Kunst des Möglichen«, gilt es nach einem wohl von Augustinus eingeleiteten und bis heute unabgeschlossenem Diskurs als unmöglich, moralisch gut und zugleich praktisch erfolgreich zu handeln. Das scheint eine fragile Kunst zu sein, die doch das Mögliche möglich machen soll, aber gerade darin scheitert, das Moralische wirklich werden zu lassen. Aber leidet nicht auch die Möglichkeitskunst jenseits des Moralischen bereits an Zuständigkeitsschwund, wenn nicht gar ihre Daseinsberechtigung vollends in Abrede gestellt wird. Im Kontext von rechtlichen, ökonomischen, sozialen und wissenschaftlichen Zwängen reduzieren sich die »Möglichkeiten« freier politischer Gestaltung jenseits anderer gesellschaftlicher Agenturen.


Wird Politik nicht zunehmend auf das Reservat beschieden, das entscheiden zu müssen, was eben nicht zu entscheiden ist? Politik wäre danach »die Kunst des Unmöglichen«, da zu handeln, wo alle Hoffnung auf kognitive oder sonst rationalisierbare Entscheidungskriterien vergeblich sind. Wenn Risikofolgenabschätzungen und wissenschaftliche Politikberatung, Bioethikkommissionen oder ökologische Prognostik versagen, muss gleichwohl eine Entscheidung her, die auch der Zufall treffen könnte, wenn nicht die Legalität des politischen Verfahrens ungleich mehr Vertrauen bei Wählern auslösen würde.

Politiker wissen aus dieser Entscheidungsnot wie -armut eine Tugend zu machen und entdecken, wie Murray Edelmann sagt, die symbolischen Möglichkeiten ihres Metiers. Symbolische Politik inszeniert sich vor allem als Instrument des Machbaren und wer will schon entscheiden, was noch gesellschaftliche Gestaltung und was lediglich Glasur von fremddynamischen Kräften ist. Ob Kriegserklärungen, BSE, Wiedervereinigung, therapeutisches Klonen - das Verhältnis von politischer Tatkraft und aufgedrängtem Vollzug ist diffus. Politiker verwandeln ihre Einflussverluste in moralische Repräsentationsfunktionen, die nicht nur das Entscheidungsdilemma unsichtbar machen, sondern ihrer Selbstverwaltung und -erhaltung förderlich sind. Bei jeder politischen Entscheidung läuft das Problem des Machterhalts mit und es dürfte im Sinne dieser vitalen Funktion besser sein, die eigene relative Ohnmacht zu verbergen.
Nun wird die moralische Verortung von Politik zusätzlich dadurch erschwert, dass sich politisches Handeln nicht an die - etwa von der Systemtheorie verordnete - Aufteilung gesellschaftlicher Funktionsbereiche zu halten scheint. Ein vormals brisanter politischer Diskurs befand schlicht jedes individuelle Verhalten als politisch und verband mühelos das Private mit dem idiosynkratischen Weltgewissen. Zwischen Ozonloch und Spraydose, T-Shirt-Importen und Kinderarbeit, das moralisch konnektierte Weltgewissen akzeptiert keine moralfreien Ermessensspielräume, in die sich eine Kunst des Möglichen noch flüchten könnte.
Dieses fluktuierende Moment des Politischen ist indes nicht allein der weltbetroffenen Hypermoral vorbehalten, sondern Politik wird in fragilen Zeiten ihrer professionellen Handhabung auch von anderen Funktionsbereichen unterwandert. Die Anfeindungen gegenüber dem Bundesverfassungsgericht, das sich zu fast allen politischen Fundamentalentscheidungen erklären musste, belegen die Paradoxie, das politische Abstinenzgebot der Verfassungsjuridiktion zu wahren, wenn doch gerade politische Fundamentalentscheidungen erwartet werden. Hier hat das Grundgesetz selbst aus den Erfahrungen der Weimarer Republik eine Differenz verwischt, die permanenten Zuständigkeitsstreit über so hochmoralische Fragen wie Abtreibung, Kruzifixe in Schulen oder Parteiverbote garantiert.

Aber selbst Sachzwänge oder wissenschaftliche Kognitionen, die politisches Handeln verdrängen, existieren nicht a priori, sondern sind selbst Beobachtungen, die auch abgewiesen oder relativiert, mithin politisiert werden können. Das leisten etwa Technikfolgenkommissionen, die keine simple Schnittstelle von Wissenschaft, Forschung, Ethik und Politik sind, sondern schon politisch vorentscheiden müssen, welche Risiken oder Forschungsvorhaben überhaupt untersucht werden.

Mit dieser Art von politischer Diffundierung und Aufgabendispersion wachsen die Begründungszwänge gegenüber einer professionellen Politik, die sich längst nicht mehr auf die »Kunst des Möglichen« zurückziehen kann, wenn sie noch akzeptiert werden will. Die Rede von der »Kunst des Möglichen« löst überdies längst moralische Beklemmungen aus, weil historisch zu oft Handlungsräume entstanden, deren fatale Folgen später mit hohen Folgekosten repariert werden mussten. Inzwischen sind es weniger die moralischen Wüsten, die wachsen, als die technologisch und medial dynamisierten Probleme, die sich anarchisch gegenüber jeder ethischen Reflexion gebärden.

Moraldiskurse werden zum Alarmzeichen, wenn die Äquilibristik gesellschaftlicher Machtverteilung versagt oder gesellschafliche Risikopotenziale nicht mehr nachvollziehbar rationalisiert werden können. Die (Re)Moralisierung des politischen Feldes ist irritierend, weil das Verhältnis von Politik und Moral die Geschichte einer Entzweiung ist. Politik ist kein Moralvollzug und Moral reicht nicht aus, politische Entscheidungen zu begründen. Schon gar nicht gibt es einen Rekurs auf eine universalistische Moral, die Politikern das Geschäft erleichtern würde, eine Letztinstanz anzurufen, die das Wahre, Gute und Machbare versöhnt. Machiavelli steht für die Spannung zwischen einer Staatsräson, die sich von moralischen Prinzipien freizeichnet und einer moralischen Prätention, die wiederum den höheren Zielen der Staatsräson - etwa der Wahrung von Gemeinwohlinteressen gegen Individualinteressen - dient. Aber eine »amoralische Moral« oder wie Niklas Luhmann sagt, eine »höhere Amoralität«, passen zum wenigstens zu den Einsinnigkeitsprofilen, die der Bürger glaubt, der Politik abverlangen zu dürfen.
Die »Unterworfenen« mühen sich zumeist vergeblich, aber nachhaltig ab, hinter den symbolischen Inszenierungen die Moral von Politikern zu ermitteln, wenn es schon so schwer bis unmöglich erscheint, das moralische Potential der Politik selbst anzugeben. Wenn Politiker zum skrupulösen Untersuchungsgegenstand einer moralisierenden Öffentlichkeit werden, dann gilt: Trau, schau, niemand! Zugleich konterkarieren aber Medien diese Ermittlungen, weil Aufmerksamkeitsgewinne wichtiger sind als moralische Abschlussverfügungen. So mutierte etwa die Barschel-Affäre im Laufe der Untersuchungen schließlich zu einer Engholm-Affäre, was zwar die moralischen Verstrickungen nicht auflöste, aber je nach Tatsachenbewertung die moralischen Optionen offen hielt. Der mediale Untersuchungsmodus nimmt die Form des Skandals an, was Politikkontrollen vordergründig erheblich einfacher macht, als etwa nach den strukturellen Wirkungen politischer Entscheidungen zu forschen. Wird der Politiker auf die moralische Schaubühne seiner televisonären Inszenierung gezwungen, leidet darunter seine strukturelle bzw. institutionelle Macht, die ihn zuvor vor der Einswerdung mit dem Wähler relativ schützte.

Medien kennen keine Bannmeilen, sondern geben sich erst zufrieden, wenn ihnen die porentiefe Introspektion politischer Physiognomien gelingt. Längst mutieren auch klassische Institutionen wie Parlamente, Parteien oder Ausschüsse unter dem medialen Druck zu moralischen Lehranstalten, die populistische Inszenierungen vor ihre politische Arbeit stellen. Würde man nach einer Unmoral der Medien fahnden, wäre nicht das Ergebnis, dass Medien - wie Kreter - einfach die Unwahrheit sagen, sondern gesellschaftliche Wert- und Prioritätenkataloge, Verfassungen oder politische Ethiken in dem Schema »Aufmerksamkeit/Nichtaufmerksamkeit« beobachten. So wird etwa die Frage, ob ein Außenminister, der früher Polizisten geprügelt hat, noch tragbar ist, wichtiger als die Frage, welche Außenpolitik dieses Gemeinwesen verfolgt. Eine Talkschlacht zwischen Obama und Romney entscheidet über die Wahl, obwohl der Wähler längst weiß, dass er hier in diesem charismatischen Feld nur manipuliert werden kann und soll. 

Diese mediale Verarbeitung von Informationen avanciert gegenüber dem politischen Gestaltungswillen zum Supercode, dem sich Politiker beugen oder - untergehen.
Strukturelle Ermittlungen, die Medien regelmäßig schon deshalb nur bedingt leisten können, weil die Aufmerksamkeitsverluste regelmäßig prekär sind, bergen zudem die Gefahr, dass die Effekte politischen Handelns unabhängig von Intentionen, Motivationen oder gar der Moral der Akteure beobachtet werden können. Moraldiskurse könnten als sinnlos erkannt werden, weil sie zur Aufklärung über die »wahren Verhältnisse« nichts beitragen. Verfehlungen im Privatleben wie in der Amtsübung eröffnen dagegen wenigstens die gesinnungsethische Möglichkeit zu entscheiden, ob diese Art der Politik moralischen Maßstäben hinreichend genügt. Der Amtsträger fällt oder fällt nicht, aber die Politik kann unbeobachtet passieren - im Guten wie im Schlechten.
Wird dagegen die Moralisierung von Politik sowie die Politisierung von Moral auf der Ebene struktureller Herrschaft und ihrer Institutionen betrachtet, ist es weitgehend unerheblich, ob Politiker fehlsame Menschen sind, sie Eigennutz vor Fremdnützigkeit stellen oder politisch unkorrekt handeln. In ihren rechtlichen, institutionellen und zweckrationalen Bindungen wirken sich persönliche Verhaltensweisen marginal aus, weil die Moral der Entscheidung längst nicht mehr Akteuren überlassen wird. Das schließt zwar keinen Machtmissbrauch aus, aber augenscheinlich verkraften Gesellschaften die moralischen und ökonomischen Folgekosten korrupter Politiker, wenn das Rechtssystem politische Handlungsspielräume in seinem Legitimitätscode begrenzt. »Political Correctness« - wie die von George W. Bush eingeforderte Ethik seiner Regierungsmitglieder - gerät dagegen in den Verdacht, wieder nur den in heißen Wahlkämpfen verinnerlichten Glauben an eine medial inszenierte Politik zu predigen. Vielleicht könnte man das in seiner eigenen Logik unmoralisch nennen, wenn sich nicht auch hier außermoralische Institutionen durchsetzen würden, die zwar nicht vollkommen sind, aber sich zumindest nicht auf das fragile Moralbewusstsein von Menschen verlassen. 

Goedart Palm 
 

10/04/2012

KLÄRWERK III Kommentar Goedart Palm

Wer nach den politischen Gehalten unserer Kunst fragt, sei darauf hingewiesen: "Wenn die Art der Musik sich verändert, werden die Mauern der Stadt erzittern" oder im Original: "When the mode of the music changes, the walls of the city shake". Tuli Kupferberg

Und seht euch mal an, was von den Stadtmauern Bonns übrig geblieben ist...

Goedart Palm

10/03/2012

Klärwerk III Vernissage 03.10.2012 Fortsetzung


Hieroglyphen Hari(n)glyphen Eyptian Jazz Hommage Charlie Mingus - über Bilder zu schreiben ist meistens unergiebig, wenn es die eigenen sind. Gleichwohl oder unwohl: Eine schnelle Improvisation, einige Saxofonsolos, ein Bass, eine Melodie mit einigen Reminiszenzen und schon ist es vorbei, aber es braucht einige Zeit, um es zu lesen. Ägyptischer Jazz eben, in dem Sinne, in dem der Zöllner gegenüber Picasso von diesem Stil sprach.

Goedart Palm

Klärwerk III Vernissage 03.10.2012

Aus dem Klärschlamm gerettet von Goedart Palm

Klärwerk III Vernissage 03.10.2012 Vorwort Goedart Palm

Klärwerk III - 3. Oktober 2012 - Haus an der Redoute (Vorwort: Goedart Palm)

Liebe Gäste, liebe Künstlerfreunde, "Vorwort" ist eine Schreckvokabel, geeignet, selbst Wohlmeinende zu vertreiben. Denn im Ernst: Jahrzehnte lang haben wir Vernissagen besucht, in der Hoffnung, der schlechte Redner möge endlich, endlich aufhören und den Weg zum kalten Buffet frei machen. Und der Deutsche ist, wie Kurt Tucholsky vermerkte, der geborene schlechte Redner. Kunst und Religion haben eine gemeinsame dunkle Herkunft im Kult. In beiden Systemen kommt erst die Buße, dann die mehr oder minder weit reichende Erlösung. Hier Paradies, dort Petit four, Seelenheil oder Schnittchen. Das "Vorwort" ist die Bevormundung. Es klingt nach dem Zwang, sich sammeln zu müssen. Der Künstler dagegen darf sich in den Beliebigkeiten seiner Kunst ergehen und delirieren. Der Besucher muss reflektieren. Wie es scheint, ist das eine ungerechte Arbeitsteilung, wenn es keinen dritten Weg gäbe: Die kulinarische Vernunft. Im Rheinischen Landesmuseum Bonn, in jenen goldenen Siebzigern, als Staat und Gemeinden noch ein respektables Kulturbudget verprassten, präsentierten sich Vernissagen als Feste opulenter Gastronomie. Als Student fand ich diese Esshochkultur gegenüber der eingeborenen Mensaküche vorzugswürdig. So bin ich also zur Kunst gekommen. Was braucht es Eat-Art, wenn Feinkost-Käfer kommt? Mein heimlicher Verdacht seit jenen Tagen besteht weiterhin: Die kulinarische Vernunft könnte mehr als ein einfacher Ableger der ästhetischen Vernunft sein. Sollte sie gerade im Blick auf die gegenwärtige Kunst das überlegene Modell sein, die Welt sinnlich zu erfahren?

Der wichtigste Betriebsstoff, nicht nur des Kunstsystems, ist heute Aufmerksamkeit. Neulich hat Lady Gaga eine CD aufgenommen und war dabei angeblich - splitterfasernackt. M. E. beeinflusst das in beheizten Studios zwar nicht maßgeblich die Qualität der Songs - wenn die im Falle dieser Künstlerin überhaupt beeinflussbar sein sollte. Vor allem soll hier aber der Hörer lüstern aufgeheizt werden. Die Art der Produktion ist schon die Verkaufsidee. Hier wird eine Intimität suggeriert, die so viel "Gagabyte" hat, dass selbst das Internet kapituliert. Lady Gaga bleibt zwar nur ein Hörerlebnis, wenn es denn eines sein sollte. Doch die eigentliche Verheißung ist der erotische Mehrwert: ihr imaginärer Klangkörper. Das bieten wir heute hier - leider oder Gott sei Dank - nicht an. Klassische Vernissagen funktionieren aber ähnlich. Alles riecht nach Firnis, der Betrachter wähnt sich schon im Atelier und rückt dem Künstler auf die Pelle bzw. die Leinwand. Wenn er sie dann wenigstens kauft - und das gilt natürlich insbesondere hier und heute - ist das ein Schmerzensgeld für diese Aufdringlichkeit.

Obwohl der Gagaismus von unseren Dada- und Oberdada-Künstlerfreunden in Zürich, in Paris und nicht zuletzt in Brühl erfunden wurde, heißt von Lady Gaga zu lernen siegen zu lernen. Die großen Programme der Kunst verschwinden heute fast rückstandsfrei hinter der "Aufmerksamkeit" als der neuen Superkategorie künstlerischer Wichtigtuerei. Vormals hieß es großspurig, aber programmatisch: "Kunst ist Kunst" oder ein bisschen später "Kunst ist Antikunst", "Kunst ist Politik", "Kunst ist Leben". Mein Lieblingsspruch ist "Kunst ist autonom", will sagen: Mein Genie braucht Geld. Das klassische Selbstverständnis ist zu großen Teilen Geschichte. Alles ist irgendwann gleich gültig, so gleichgültig uns das an der Kunst oder anderenorts vorbeigeht. Das neue Existenzrecht der Kunst beruht primär auf Lärm, Finanzspekulationen und heiß laufenden Institutionen, in denen einige unserer Vettern sitzen. Großer Ideen, besonderer Sensibilitäten oder weltumspannender Betroffenheiten bedarf es da nicht. Es reicht hier, wenn der Künstler klarstellt, dass er darüber im Übermass verfügt. Wir haben das auch behauptet und zumindest der General-Anzeiger hat es regelmäßig gedruckt.

Platon würde sich freilich im Grabe umdrehen. Denn solche Unterstellungen sind im Täuschungsgeschäft der Kunst bereits eine Illusion zweiter Ordnung. Früher malte der Maler Zeuxis Trauben täuschend echt, schlimm genug, wie Platon fand. Heute behauptet man, die grünen Flecken seien so authentisch wie innovativ auf der Leinwand verteilt, dass der Betrachter nur richtig hinschauen müsste, um es dem Künstler nachzufühlen - oder nachzusehen. Der Sieg der Interpretationsherrschaft im Kunstgeschäft ist höchst praktisch, weil keiner das Gegenteil beweisen kann. Kunst wäre dann ernst zu nehmen, wenn es auch Nichtkunst gäbe. Wie aber etwas Nichtkunst sein kann, wenn es doch an der Wand hängt, einen Rahmen hat und manchmal sogar pfeift, vermag mir keiner zu erklären. Im Gegenteil: Kunstmuseen finden ihre antiquierte Daseinsberechtigung darin, den Unterschied zwischen Kunst und Nichtkunst aufzuheben, weil nur ihre Institution den Unterschied markiert. Das ist nicht mehr zeitgemäß, weil das gegenwärtige Stichwort „Inklusion“ heißt. Im Sinne der Gleichheit der Künstler und der Gleichgültigkeit gegenüber aller und jeder Kunst sollte es also heißen: Alle Kunst muss in die Anstalt - will sagen: in das Museum. Jene aber, die meinen, die Qualität der Kunst spiele hier doch noch eine Rolle, kommen nur so voll auf ihre Kosten bzw. die Kosten des Steuerzahlers. Denn die große Kunst müsste sich doch gerade im Vergleich mit dem künstlerischen Abfall, der nun neben ihr hängt bzw. verschimmelt, als groß erweisen. Jonathan Meese meint das ernsthaft - Zitat: „Ich leide darunter, dass mir irgendwelche Skulpturen als Kunst verkauft werden, aber in Wahrheit Design sind. Ich leide darunter, dass mir beschissene Malerei gezeigt wird, die in Wirklichkeit hochgepushte Illustration ist.“ Von eben diesem und 1001 anderen Leiden berichten nun andererseits wiederum Leute, die Meese-Ausstellungen besuchen und die vom Künstler apostrophierte "Diktatur der Kunst" für eine der bloßen Willkür halten.

Was wiederum lernen wir daraus?

Wer die "Diktatur der Kunst" verkündet, macht damit vor allem klar, wie völlig bedeutungslos Kunst - zumindest hier im Westen - geworden ist. "Pussy Riot" funktioniert als künstlerischer Aufruhr nur deshalb, weil ein autoritäres Regime noch nicht kapiert hat, dass Toleranz die beste Droge ist, um politische Kunst einzuschläfern. Würde die Kunst hierzulande die Verhältnisse diktieren, wäre sie weder auf Manifeste noch Beschwörungen oder gar den so hochoriginell provokanten Hitlergruß Meeses angewiesen. Man kann heute über jedes Kunstwerk fast alles sagen. Deswegen sage ich über die hier hängenden, liegenden und ermatteten Schönheiten gar nichts. Der Künstlerfreund Dieter Roth hat seine Sicherheit in der nicht mehr ganz neuen Unübersichtlichkeit als ein fortgeschrittenes Freiheitsmodell erkannt: "In der Unsicherheit kann man alles machen, was Du willst, schmieren, pissen, quatschen und auch Kitsch machen."

Vor ein paar Tagen las ich, dass hier in Bad Godesberg "gegenstandslose Künstler" ausstellen. Nach einer Schrecksekunde, hier würde bereits öffentlich gegen Klärwerk III polemisiert, beruhigte ich mich. Die Gegenstandslosigkeit der Kunst ist ja längst keine bloße Stilkategorie mehr, sondern beschreibt das Tun aller unserer Künstlerfreunde gleichermaßen und flächendeckend. Das hat keiner so gut erkannt wie Kardinal Meisner. Angesichts des leibhaftigen … Gerhard-Richter-Fensters im Kölner Dom stellte er fest, es sei zu abstrakt und nicht spezifisch christlich. Das bunte Glas passe eher in eine Moschee oder in ein Gebetshaus. Der Künstler konterte. Er hielt dem ungehaltenen Kardinal vor, dass er sich mit diesem Bild dem Christentum gerade nahe fühle. Die eigentliche Pointe lieferte aber lange vor dem künstlerischen Glaubensstreit der Kritiker Eduard Beaucamp. Er sagte über Richter: "Das artistische Spiel mit fast allen zeitgenössischen Modalitäten ist der einzige Sinn und Inhalt seiner Kunst.“ Ich übersetze das mal für Meisner, Richter, den Rest unserer Künstlerfreunde und alle Anwesenden so: Das, was an der Wand hängt, stört selten. Nur Menschen mit einer echten Standortbindung im mehrfachen Wortsinne wie der Kardinal nehmen Kunst noch wirklich ernst.

"Des Kaisers neue Kleider" treffen diesen fröhlichen Sachverhalt künstlerischer Selbstauflösung schon lange nicht mehr: Denn jeder darf nun für sich selbst entscheiden, ob er Kleider sieht oder nicht. Kindermund ist inzwischen so unberufen wie alle anderen Schiedsrichter auch, wenn es um die Wahrheit in der Kunst geht. Und wem das noch nicht reicht, der darf sogar behaupten, dass es zwischen textilen und nackten Oberflächen gar keinen Unterschied mehr gibt. Auch das hat Lady Gaga bereits bewiesen: Bei einer Preisverleihung trug sie jüngst ein Kleid aus Rindfleisch, das anschließend - logisch! - in das Kunstmuseum wanderte. Als das Fleisch dann dort so dunkel wie ein lange abgehangener Rembrandt wurde, hat man es angemalt, damit es wieder frischer aussieht. Künstlicher können die Verhältnisse der Kunst kaum mehr werden.

Also fundamentalästhetisch gefragt: Ist das Kunst oder kann das weg? Die Ironie des Spruchs besteht darin, dass er seine Ironie längst eingebüßt hat - wenn er sie überhaupt je hatte. Es beginnt vielleicht mit der Badewanne, die der SPD-Ortsverein Leverkusen-Alkenrath als Recycling-Spüle für Biergläser einsetzte und von der Joseph Beuys hinterher behauptete, das sei doch Kunst, echte Kunst. Also die Badewanne, nicht das Bier-Happening. Der wichtigste Beuys-Schüler Johannes Stüttgen, der vor Jahren übrigens an einer legendären Klärwerk III-Ausstellung teilnahm und somit unser aller Künstlerfreund ist, kassierte 40.000 DM für eine in der Kunstakademie Düsseldorf beschädigte Fettecke des Meisters. Ich habe die teure Ecke vor ihrer Demontage live im Beuys-Atelier gesehen und gar nichts dabei empfunden. Mir selbst erschien es bei Umzügen mehrfach praktischer, Kunstwerke lieber sofort dem städtischen Sperrmüll zu übereignen, wenn das Museum seine Pflicht versäumt. Dass zwischen Museum und Müllverbrennungsanlage die Beziehungen so zufällig wie dicht beieinander verlaufen, wissen die allermeisten Künstler. Der Meister auch dieses Wissens war Beuys, den ich mal lässig live sagen hörte: „Wenn sie wollen, kann ich Ihnen meinen Mist signieren.“ Erst wenn man dieses meisterliche Niveau der Selbstvermistung, will sagen: Selbstvermarktung, erreicht hat, kann man Kunst wieder ernst nehmen.

Klärwerk III besteht seit 30 Jahren auf unsauberen Verhältnissen. Der Futurist und spätere Minister Mussolinis, Filippo Tommaso Marinetti, forderte im Vorgriff auf diese Situation: "Leitet den Lauf der Kanäle um, um die Museen zu überschwemmen!" Gehen wir mal davon aus, dass er Abwässerkanäle meinte. Daraus lassen sich dann zwei Schlüsse ziehen: 1. Museen ohne Klärwerk-Kunst sind - wie etwa im Fall des Bonner Kunstmuseums - kunsthistorisch betrachtet ein unentschuldbarer Irrtum, geradewegs Irrläufer künstlerischer Evolution. 2. Man kann nicht wahre Kunst machen, ohne sich die Finger, Hemden, Hosen und Schuhe schmutzig zu machen. Weniger klärschlammtechnisch formuliert und - um ein viel zu oft zitiertes Wort von Adorno noch weiter zu missbrauchen: Der neue, also der saturierte Idealismus besteht darin, weder von der Kunst der anderen noch von dem eigenen Mist sich dumm machen zu lassen. Wenn nicht Klärwerk III, wer dann kann die Zuständigkeit für diese Art von Selbstreinigung reklamieren?

Wenn es Ihnen also heute hier gelingt, sich von der Kunst nichts vormachen zu lassen, haben Sie alles - missverstanden, was ich Ihnen schon immer mal sagen wollte.

Ich danke Ihnen für ihre relative Aufmerksamkeit.

Goedart Palm

10/01/2012

Selbst eine Entgleisung Sloterdijks

wäre allemal philosophisch relevanter als eine Sentenz Prechts. Wann verabschieden wir endlich diese Medien der Gleich-Gültigkeit? Goedart Palm

No reply - der Spiegel antwortet nicht

Am 28 Sep 2012 um 13:07 hat mir DER SPIEGEL geschrieben: Ich solle teilnehmen und mir ein Dankeschön sichern. Es geht um eine Meinungsanfrage, ob digitale "Inhalte immer seriös und verlässlich" seien - "oder ersetzt Quantität zunehmend Qualität?" Wenn ich bei der großen Umfrage mitmache, kann ich mir ein exklusives Dankeschön-Paket mit fast 9 % Ersparnis sichern. Außerdem gibt es ein Geschenk. Man würde sich auf die Antworten freuen, auch wenn man auf das "Dankeschön-Paket" verzichte. So mit herzlichen Grüßen Stefan Buhr. Ich mag keine Vorzugs-Abos, die als Leserbefragung einhergehen. Und schon gar mag ich ein Dankeschön, das mit einer Ersparnis verbunden ist. Ich schreibe also:
Sehr geehrter Herr Buhr, vielen Dank für Ihre Mitteilung. Solche "Leserbefragungen" sind unseriös. Denn geht es Ihnen darum oder um das Abo? Auch die Semantik des "Geschenks" passt gar nicht, sondern hier geht es um ein Vertragsangebot oder eine Einladung dazu. Sie vermischen hier Sachverhalte. Klar kann man augenzwinkernd sagen, das wissen wir doch beide, also vergessen wir es. Was aber, wenn diese Haltung letztlich auch Rückschlüsse auf ein journalistisches Ethos eröffnet? Mit freundlichen Grüßen - Dr. G. Palm -

9/30/2012

Steinbrückiana

Wie arm der deutsche Journalismus ist, manifestiert gerade wieder die nackte Gier, nun die Kandidatenkür Steinbrücks zum großen Thema zu machen. Wenn es zur Wahl geht, sehen die Karten ohnehin völlig anders aus als heute. Wer liest diese überschnell skribierte Makulatur über Chancen und Fährnisse eines Kandidaten? Das ist nicht nur unendlich langweilig, sondern demonstriert auch den wie immer abwesenden Begriff von Politik in zahllosen Medien. Wann beginnt man endlich zu begreifen, dass strukturelle Aussagen zählen und daneben Personalien, die sich als politische Erkenntnisse tarnen, bestenfalls als Marginalien gehandelt werden dürften. Goedart Palm

Bonns schönstes Klärwerk

"Rund 3,5 Millionen Euro gibt die Stadt seit 2011 jährlich aus, um die vier Bonner Klärwerke auf dem neuesten Stand zu halten", teilt uns im August 2012 der General-Anzeiger mit. Sollte die Stadt dabei ihr bestes Klärwerk, KLÄRWERK III, so völlig aus den Augen verloren haben. KLÄRWERK III würde mit einem Zehntel der genannten Summe unglaubliche Meisterwerke schaffen, die ein Alleinstellungsmerkmal für Bonns Kunst und Kultur begründeten, wenn doch Beethoven, dem Eiertanz um das Festspielhaus nach zu urteilen, in Wirklichkeit ein Bonner Emigrant ist. Goedart Palm

Warum ist die BRAVO genial?

Es dürfte keine Zeitschrift gegen, die Texte so aufbereitet, dass mit der Aufklärung zugleich die Satire geliefert wird. Das ist arglos gesprochen, denn ich habe Leser beobachtet, die sich tot lachen, ohne deswegen die Botschaft nicht ernst zu nehmen. Goedart Palm

Journalistische Erkenntnis

Spiegel Online Zitat im Ressort Gesundheit über einen 86jährigen Raucher: "Prognosen sind wie Wettervorhersagen - meistens falsch." Diese Quintessenz wäre vor Jahren im gedruckten Spiegel ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Einem der vielen "Vorleser", jenen Lektoren, die skrupulös nach Fehler suchten, wäre das aufgefallen. Die Basis-Erkenntnis lautet hier: Prognosen sind wie Prognosen - meistens falsch. Abgesehen davon, dass wir uns schon unzählige Male zu Recht auf Wetterprognosen erfolgreich verlassen haben, wäre daraus nur eine Pointe geworden, wenn Prognosetypen substantiell unterschieden worden wären. Eine astrologische Prognose wäre eine Kategorie, die etwa gegen ärztliche oder meterologische Vorhersagen auszuspielen wäre. Aber alles das ist viel zu viel Semantik in Zeiten der Verlautbarungspest wie diesen. Goedart Palm

9/29/2012

Der Reisende in Bonn

Der Reisende, der nach Bonn kommt, weiß schon bald. Drei Dinge gehören zu Bonn, ja machen Bonn aus: Beethoven, Klärwerk III und der Kurfürst. Beethoven und der Kurfürst sind tot, also was bleibt dann? Auch wenn Bonn kein Festspielhaus bekommen sollte, weil es an Mut gebricht, weil es an Visionen fehlt, weil es eine unendliche provinzielle Dösigkeit gibt, weil man in Bonn meistens müde ist, weil Bonn eben eine Bahnschrankenlandschaft ist etc., trotz all dieser Fährnisse und Untiefen, Bonn behält KLÄRWERK III. Dafür zahlt Bonn praktisch nichts, was deutlich macht, wie Kultur in Bonn definiert wird. KLÄRWERK III ist eine Überlebensform, die sich Bonner Verhältnissen angepasst hat: Wer hier hofft, hat schon verloren. Goedart Palm

Zur KINOMAGIE - Celine und Julie - Analyse Canonique

Kino-Leben


"Wie kommt es, dass die Zeit die Heiterkeit (gaieté) verloren hat? Das hat seine Ursache in der außerordentlichen Vermehrung unserer Kenntnisse. Mit der Aufklärungswut fanden wir mehr Leere als Völle - und im Grunde wissen wir, dass unendlich viele Dinge, die unsere Väter für Wahrheiten hielten, keine sind, und wir wissen sehr wenig Wahres, das unsere Väter nicht auch schon wussten. Die Leere in unserer Seele und unsere Fantasie - sie ist die wahre Ursache der blasierten Traurigkeit." (Abbé Galiani)


Von der imaginären Wirklichkeit zur Wirklichkeit der Imagination

Einige Anmerkungen zu „Celine et Julie vont en bateau“

Die Feststellung, dass Traum und Wirklichkeit verschieden sind, ist banal. Doch vielleicht nicht weniger banal ist die Erkenntnis, dass Traum und Wirklichkeit eins sind. Sollte unser Wirklichkeitsverständnis noch höchst unvollkommen sein? Das Kino ist eine Schule des Wirklichkeitsverständnisses nicht weniger als der genuine Ort der Magie, seitdem die klassische Magie in Verruf gekommen ist, eine zweifelhafte, ja vergebliche Kunst zu sein. Dass die Magie aber die Wirklichkeit verändert, ist die Lehre klassischer wie postklassischer (=kinematografischer) Magier. So wird das Kino je nach seinem magischen Programm die Wirklichkeit abbilden, eine eigene Wirklichkeit sein oder die Wirklichkeit fliehen. Die Wirklichkeit, von der wir längst nicht wissen, was wir damit meinen, bleibt der Fokus des Kinos - immer eingedenk des Wissens: „Dichter können gar nicht lügen, weil sie gar nicht vorgeben, Tatsachen mitzuteilen.“ (Béla Balázs, Der Geist des Films, Frankfurt/M. 2001 (Erstausgabe 1930, S. 163). Wenn die Kunst des Lügens (Oscar Wilde) einen so hohen poetischen Wert besitzt, müssen Dichter dann nicht immerzu lügen, um zu ihrer Wahrheit zu kommen. Freilich bereitet das Paradox erhebliche Probleme, wenn die Unterscheidungen nicht mehr auf gesicherte Referenzen der Wirklichkeit zurückzuführen sind. Für Platon und seine zwischen Idee, Schein und Widerschein geschichtete Wirklichkeit war der Dichter der genuine Lügner, verwerflich und nie mit dem Philosophen zu verwechseln, der allein den Königsweg zur Sonne der Wahrheit beschreiten sollte. Das Kino ist die Dunkelkammer, die wohl einige Ähnlichkeit mit Platons Höhle reklamieren kann. Der Projektor steht für die künstliche Sonne, die im Innern der Höhle für die Erleuchtung der dritten Art sorgt. Platons Wirklichkeitsebenen sind längst in Bewegung geraten.

„Celine et Julie vont en bateau“ ist ein Film über Magie und das demonstriert er nicht lediglich über die magischen Inhalte bzw. eine märchenhafte Erzählung, sondern durch die magisch eingesetzten Zeittechniken des Films, die dem Zauber auf der manifesten Inhaltsebene des Films zugeordnet werden.

„Celine et Julie vont en bateau“ von Jacques Rivette galt dem Filmkritiker David Thomson als: “the most innovative film since Citizen Kane…whereas Kane was the first picture to suggest that the world of the imagination was as powerful as reality, Celine and Julie is the first film in which everything is invented.” Doch jeder Film ist immer eine Erfindung gegen die Wirklichkeit, die sich nicht plan in einen Film einbinden lässt. Und eine pure Erfindung ist „Celine und Julie“ schon deshalb nicht, weil Rivette ein originäres Kunstwerk aus den Versatzstücken fremder Imaginationen macht. Imaginationen, die rekapituliert werden, um ihre jeweilige Erfindung auch gegen sich selbst zu richten. Mehr als eine bloße Erfindung ist „Celine et Julie vont en bateau“ aber ein Metadiskurs über die Erzählkunst, die einer der Königswege der Erfindung bleibt.

„Celine et Julie vont en bateau“ von Jacques Rivette ist für Gilles Deleuze „eine der ganz großen französischen Filmkomödien“ (Gilles Deleuze, Das Zeitbild – Kino 2, Frankfurt/M. 1997, S. 23). In einer Zeit, in der vielleicht mehr Komödien denn je produziert werden – jene Komödien, über die man nicht lachen kann, weil sie lächerlich sind – haben echte Komödien vermutlich nur geringe Chancen, wahrgenommen zu werden.

Der Film entstand 1974 ohne Skript bzw. Découpage. Während der Dreharbeiten waren die Schauspieler, maßgeblich die beiden Hauptdarstellerinnen Juliet Berto und Dominique Labourier, an der Entstehung des Films beteiligt. Der Film präsentiert sich im Grobschema auf zwei Handlungsebenen, die schließlich ineinander laufen und miteinander verschmelzen. Die Binnenerzählung wurde nach zwei Henry James-Erzählungen "The Other House" und "A Romance of Certain Old Clothes" konstruiert. Jacques Rivette konstatierte in einer Rezension über einen Renoir-Film: „Die Improvisation ist so nur Mittel für ein Höchstmaß an Realismus“. (Jacques Rivette, Schriften fürs Kino, S. 14). Angeblich schrieben Regisseur und Schauspieler nachts den Teil der Geschichte, die sie dann am nächsten Morgen drehten. Rivette erläuterte: „Das Sujet eines Films wird immer aus der Methode geboren, mit der man dreht.“ Diese Form-Inhalt-Dialektik ist Lichtjahre von den durch und durch komponierten Drehbüchern Hollywoods entfernt, die nichts mehr dem Zufall der Wahrnehmung oder aleatorischen Mehrwerten überlassen wollen.


Die Geschichte

Celine (Juliet Berto) and Julie (Dominique Labourier) befassen sich beide mit Magie. Celine gibt in ihrem Hoteleintrag als Beruf „Magierin“ an und Julie liest in der ersten Szene ein Buch über Magie und zieht mit den Füßen ein magisches Zeichen in den Sand. Julie praktiziert die Kartenlesekunst des Tarot als „Nebentätigkeit“ ihrer Arbeit in einer öffentlichen Bibliothek. Später wird sie mit Celine sogar nachts in diese Bibliothek einbrechen, um ein Lehrbuch der Magie zu stehlen. Die erste Begegnung der Frauen ist sonderbar und wird im Film mit dem Hinweis eingeleitet: „Meistens begann es so…“. Das macht a priori, vor jedem Bild und jeder Handlung klar, dass es eine Geschichte ist, die so oder anders, aber immer wieder stattfindet. Wir bewegen uns in einem Universum der Wiederholungen und Variationen. Julie läuft hinter Celine her und schon hier gibt es Ahnungen, Kommunikationsstörungen und –absonderlichkeiten, die der Zuschauer beim ersten Sehen nicht ergründen kann. Was stiftet eigentlich die Beziehung der Frauen? Ist es der Film, der bereits ablief und den wir extrapolieren müssen? Wieso kommen sie wie selbstverständlich zusammen, obwohl es doch nicht mehr Beziehungen gibt als einen Schal, den Celine verloren hat.

Interpunktiert werden die Szenen von dem lapidaren Hinweis: “Aber am nächsten Morgen…”, was nichts anderes besagt, dass die Erkenntnisse und Erlebnisse eines Tages nur vorüber gehend sind. David Thomson formuliert diese Grunderfahrung des Films so: „Well, this is what you're seeing this time, but realise there were a whole lot of other things going on, and there are already other things you may notice.” Es gibt nicht die Geschichte, sondern mehrere Geschichten, die miteinander in vielfältigen Beziehungen stehen und nur teilweise aufklärbar sind. Die nichterzählten Szenen mögen genauso wichtig sein, wie die präsentierten. Eine Provokation für die abgeklärte und aufgeklärte Filmerzählung, die sich logisch entfaltet und mit einer befriedigenden Auflösung sich wieder zusammenfaltet – und vergessen werden darf. Celine und Julie treffen sich und in ihren Erzählungen taucht ein verwunschenes Haus auf, in dem sich merkwürdige Dinge abspielen bzw. abgespielt haben oder abspielen werden. Die Zeitebenen sind absichtsvoll diffus, sodass nie ganz klar ist, ob die Ereignisse im Haus unter der verräterischen Adresse „7 bis rue du Nadir aux Pommes“ (bis = Wiederholung, da capo; Nadir = Tiefstpunkt, Fußpunkt) gegenwärtig oder vergangen sind. Irgendwann konstatieren die beiden Frauen, dass es immer der gleiche Tag zu sein scheint, der wie ein Fluch oder eine tiefsitzende seelische Störung immer wieder wiederholt werden muss, bis sich vielleicht der Knoten löst oder zumindest das Geheimnis aufgeklärt ist. Dieses Haus ist der Ort der Wiederholung, der Ort eines ständigen da capos. Es hat sich Schreckliches ereignet und während in den Schauergeschichten ein ruheloser Geist auf sich aufmerksam macht bis er erlöst wird, hat sich hier die Geschichte selbst - das – mit Freud gesprochen – Familiendrama - verselbständigt und muss repetiert werden, bis die Seele erlöst ist. Doch selbstverständlich gibt es keine Wiederholung, die völlig identisch mit dem Wiederholten wäre. „Nadir“ ist eine ähnliche Konstruktion wie der Kaninchenbau, in den Alice gleich zu Beginn ihrer wunderlichen Reise in das Wunderland fällt. Man fällt tief, um den Geheimnissen auf den Grund zu gehen und nur in der Wiederholung der Szenen wird es Celine und Julie mit gehöriger Anstrengung gelingen, die komplexen Verhältnisse eines Personen-Verwirrspiels aufzulösen, das bereits die Leser der Henry James-Kurzgeschichten, die teilweise Vorlage waren, mit vertrackten Rätseln konfrontiert hat. Das Geheimnis des Hauses ist die Geschichte eines Mannes, der seiner sterbenden Frau gelobt hat, sich nicht mehr zu liieren. Zwei Frauen, eine davon die Schwester der Verstorbenen, Camille (Bulle Ogier), die ihr sehr ähnelt, versuchen den Mann von diesem „grausamen Gelübde“ abzubringen. Dieser Plan wird vor allem dadurch erschwert, dass die Tochter des Mannes, Madlyn, ihn immerzu an seine verstorbene Frau erinnert. Eine der Frauen, Sophie, (Marie-France Pisier) versucht das Mädchen daher zu vergiften, indem es dem Kind vergiftete Bonbons anbietet, die es immer weiter schwächen. Doch ist Sophie wirklich die Mörderin? Können wir sicher sein, dass Sophie nicht selbst ein Werkzeug der Handlung ist. Die Filmerzählung lässt bereits offen, ob der umworbene Oliver (Barbet Schroeder) nicht heimlich weiß, dass das Kind vergiftet wird und er zum Mittäter durch Unterlassen wird. Bereits in der Kurzgeschichte von Henry James „The other house“ gibt es verschiedene Schuldzuweisungen, die letztlich darauf hinaus laufen, dass es einen Verschuldenszusammenhang gibt, der zwar Täterin und doloses Handeln nicht leugnet, aber die Tat als das Ergebnis emotionaler Verwicklungen schildert, die eine ungesunde Atmosphäre von Liebe, Eifersucht und Frustration entstehen lassen. Aber selbst über dieser psychologischen Erklärung mögen auch metaphysische Umstände eine Rolle spielen. Henry James liebte alte Häuser, weil sie nicht mehr nur Behausungen sind, sondern Datenspeicher, die den narrativen Stoff der Jahrhunderte sammeln. Hier ist das Haus selbst ein Protagonist. Es öffnet –von Geisterhand? - zur vorgesehenen Stunde die Eingangstür, um entweder Celine oder Julie wie in einem Doppelspalt-Experiment hinein zu lassen. Im „roman noir“ spielt das Eigenleben von Häusern, Gemäuern, gespenstischen Orten schon immer eine Rolle, das sich selten vollständig in den Rekonstruktionen oder den jeweiligen Katastrophen auflöst. Was wären viele Geschichten von E.A.Poe oder H.P.Lovecraft ohne die unheimlichen Häuser? Ist das „Unheimliche“ ohne Häuser überhaupt denkbar? Kennen Nomaden das Unheimliche? Nur im „Heim“, dem Ort der Sicherheit, kann das Vertrauen auf den sicheren Umraum enttäuscht werden. Das Unheimliche ist eine zivilisatorische Befindlichkeit. Der Natur gegenüber ist jedes Vertrauen riskant. Es ist ein alter Animismus, der an die Objekte ihre Erzählungen klebt, als wären sie Erinnerungsspeicher des Schreckens. Im Roman „Die Besessenen“ von Witold Gombrowicz ist es das Schloß „Myslocz“, ein mysteriöser Ort, der wie bei „Celine und Julie“ die Geschichte einer Rettung respektive Befreiung schildert. Erst als die Bewohner und Besucher nicht länger im Bann des Unheimlichen stehen, fügen sich die unerklärlichen Vorgänge in ein Muster und schlüssigere Erklärungen als der undurchdringliche Schrecken bieten sich an. So gibt es auch in Rivettes Erzählung einen detektivisch-psychologischen Motivkomplex, der mit allen Mitteln des Suspense-Kinos immer stärker auf die verschlungenen, sich langsam enthüllenden Absichten der Akteure hinweist.

Oliver erklärt Sophie, sie solle dem Mädchen keine Bonbons geben, denn die würden ihr schaden. Redet er von Karies oder von Mord? Sophie wiederum reagiert so, dass sie selbst eines der Bonbons nimmt, was Oliver entsetzt registriert und einen Versuch unternimmt, das zu verhindern. Zumindest seine vordergründig seriöse Erscheinung und das von ihm zur Schau getragene schwere Schicksal werden zudem dadurch konterkariert, dass er den Avancen der rivalisierenden Frauen gegenüber nicht spröde reagiert und schließlich selbst mit dem Kindermädchen anzubandeln versucht. Sophie erklärt Camille, dass sie darüber wachen werde, dass das Gelübde nicht gebrochen wird. Aber wie meint sie das? Denn beide Frauen sind sich darüber im Klaren, dass das Gelübde nur solange gilt, solange das Mädchen lebt. Will Sophie das Kind töten, weil sie selbst die Geliebte des Mannes werden will oder weil sie weiß, dass das Gelübde schließlich doch nicht gehalten wird und sie der Sterbenden gegenüber versprochen hat, alles zu tun, das zu verhindern? Gilt hier die paradoxe Logik, dass sie lieber das Kind tötet, als das Gelübde zu gefährden. Kann man der Toten nur dadurch entsprechen, dass man auch ihr Kind tötet, denn die Toten sollen keine Herrschaft über die Lebenden haben. Insofern sind die Motive der Handelnden ähnlich undurchschaubar wie das Geschehen überhaupt? Es sind Motivfetzen, die wie bildliche Versatzstücke eher Varianten von Geschichten skizzieren, als sich auf eine Geschichte und ihre Lesart einzulassen. Oder sollte die Tote selbst eingegriffen haben? Denn plötzlich heißt es, dass etwas Schreckliches passiert sei und auf dem Mädchen liegt ein Kissen mit einem blutigen Händeabdruck. Dafür könnte auch Camille verantwortlich sein, die sich an einem zersplitternden Glas die Hand verletzt hat. Doch der blutige Händeabdruck trifft auch die beiden Heldinnen, was letztlich paradox ist, da sie das Kind der Toten retten wollen. In der Szene mit dem Kissen könnte das Mädchen tot sein, denn sie liegt unter dem Kissen völlig leblos mit verdrehten Gliedern. Oder ist Angèle, das immer missmutige Kindermädchen, die Täterin? Erzählt sie die Geschichte so wie Geschichten von David Lynch erzählt werden, besonders raffiniert in „Mulholland Drive“, der uns die Perspektive einer Frau erzählt und sich als pure Wirklichkeit einleitet, um schließlich völlig demontiert und umgekehrt zu werden. War die Frau zunächst in ihrer Selbsterzählung stark, so ist sie am Ende schwach und das vormalige Opfer, dem sie geholfen hat, ist die wirklich Starke.

Bei „Celine und Julie“ ist es eine offene Frage ähnlich wie in Kurosawas „Rashomon“, wo selbst der Ermordete keine Auskunft über den Täter geben kann. Niemand kann wirklich über die Tat aufklären, allein die Rettung des Mädchens wäre eine Antwort auf die Frage nach dem Täter. Denn wenn das Mädchen gerettet wird, stellt sich die Frage nicht mehr und vor dieser Paradoxie schreckt der Film nicht zurück.
Die Bonbons, die dem Mädchen verabreicht werden, schwächen, die Bonbons, die Celine und Julie zu sich nehmen, bringen dagegen sukzessive die Erinnerung respektive die Aufklärung über den wahren Plan der Mörderin Sophie. Alles Wissen erschien Platon als Erinnerung. Aber längst wissen wir, wie fragil Erinnerungen sind, wie täuschungsanfällig und –bereit menschliche Gehirne sind. Gerade der Film scheint dagegen das Medium einer unbestechlichen Wirklichkeitssicht. Denn objektiviert er nicht die Abläufe, dokumentiert nicht ein für alle mal, was sich wirklich zugetragen hat. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit heißt in diesem Film aber, sich nicht auf dieses Medium zu verlassen oder nur den Versuch zu unternehmen, die flüchtige Zeit zu rekonstruieren, sondern überhaupt erst herzustellen. Der Film schöpft Wirklichkeit. Erinnerung und Zukunft treffen sich auf einer virtuellen Ebene, auf der es möglich wird, zukünftig in die Vergangenheit einzugreifen. Es gibt keine unbeteiligte Beobachtung, sondern der Beobachter wird zum Handelnden, der den Verlauf der Geschichte maßgeblich beeinflusst, so wie der Beobachter des Quantenkosmos immer auf seine eigene Beobachtung zurückgestoßen wird.
Die Fröhlichkeit der beiden Heldinnen, ihre Disposition zu Spiel und Albernheit wird grundiert von der düsteren Atmosphäre dieses Hauses, das selbst wie ein eingestaubtes Wachsfigurenkabinett erscheint, bevor tatsächlich seine Bewohner mit wächsernen Gesichtern Toten ähnlicher sind als den Lebenden. Bei Henry James heißt das nach der schrecklichen Tat von Rose Armiger (=Sophie): „Rose´s mask was the mask of Medusa.“


Aber längst ist klar, dass es verschiedene Erzählstränge, verschiedene narrative Universen gibt, in denen sich andere, glücklichere Verläufe dieser Geschichte vollziehen könnten. Der Film ist eine Schicksalsbeherrschungskunst. Wie anders wären die unzähligen Happy-Ends zu erklären, die der Zuschauer nicht satt wird zu sehen. Die von Nietzsche gefeierte griechische Tragödie hat keine Chance mehr, weil der „elan vital“ längst nicht mehr so zuverlässig erscheint wie es antikisierender Betrachtung angelegen ist. Der Film ist die Kunst, aus einer Tragödie eine Komödie zu machen und Rivette demonstriert diese Magie in der Erzählung selbst, was eben deutlich macht, warum Hollywood kaum je eine wirkliche Traumfabrik war, sondern eine entzauberte Welt mit fragilen Illusionen. Ein Kino, das nur den Traum zeigt und nicht seine Genese, seine Wandlungen, beraubt den Film seiner vorzüglichsten Eigenschaften.


Vom Beobachter zum Akteur – kein Rollenwechsel

Celine und Julie sind die Beobachter dieser Geschichte in der Geschichte und wandeln sich zu Akteuren, die aktiv und – rettend – in die Geschichte eingreifen. So wie Rousseau erklärte: Um Zuschauer zu werden, wurde ich Schauspieler.

Beide Heldinnen sind biografisch mit dieser Geschichte längst verbunden. Julie wohnte als Kind eine Zeit lang gegenüber dem merkwürdigen Haus und erinnert sich mit dem Kindermädchen daran, dass die Bewohner auszogen und seitdem die Fensterläden geschlossen sind. Oder ist sie selbst Madlyn, die den vormaligen Schrecken verdrängt und über den Schrecken nur in der dritten Person reden kann? Was nun dort passiert ist, weiß sie nicht. Celine berichtet an einer anderen Stelle Julie, dass sie in dem Haus als Kindermädchen gearbeitet habe und Pässe ohne Fotos gefunden haben. Doch auch das könnte konfabuliert sein, um das Verdrängte nicht zulassen zu müssen. Irgendetwas Schreckliches ist also passiert, aber weder ist das leicht zu entdecken noch wird klar, in welcher Weise die Heldinnen biografisch dieser Geschichte längst verbunden sind. Celine behauptet auf der Flucht vor den unheimlichen Besuchern zu sein und hat sich dabei verletzt. Die Hölle ist aus den Fugen geraten. Die Anderen treten bereits vor ihre Pforten, um ihr Geheimnis aktiv zu schützen. Julie betreut Celine, sie ist ausgebildete Krankenschwester. Später trägt Julie auch das Zeichen einer blutigen Hand auf ihrem Rücken. Das ist der Beweis, dass hier nicht nur ein Traum verhandelt wird. Zugleich aber ist der Einbruch des Unheimlichen aus der halluzinogenen Sphäre in das Realdasein. Just das ist auch die Pointe der Kurzgeschichte von Henry James „The ‚romance of certain old clothes“. Als sich Rosalind wider dem Wunsch ihrer verstorbenen Schwester Perdita an deren Kleidern und Preziosen vergreift, tritt der Schrecken und „mehr als der Tod“ in das Dasein: „and on her blanched brow und cheeks there glowed the marks of ten hideous wounds form two vengeful ghostly hands.“ Diese blutige Hand trifft auch das Kind. Auch Julie hat das blutige Mal auf der nackten Haut und stellt sich unter die Dusche, um es abzuwaschen – das Thema einer versöhnenden Variation über die blutigste Dusche der Filmgeschichte in Hitchcocks „Psycho“. Später werden Celine und Julie der Schwester der Toten, Camille, zur Hilfe eilen, nachdem sie sich verletzt hat und blutet. „Die Blutsbande müssen neu geknüpft werden“, sagt Angele das Kindermädchen mehrfach in ernstem Ton. Ist das ein Todesurteil? „Muss ich bis zum bitteren Ende gehen“, fragt Sophie. Nur, was meint sie? Die Vergiftung des Mädchens? Oliver erklärt regungslos: „Was Sie begonnen haben, müssen Sie zu Ende führen.“ Ist also Oliver der Mittäter?

In der Folge versuchen die Frauen mit allen Mitteln, das Geheimnis des Hauses und seiner Bewohner aufzuklären und verstricken sich selbst immer tiefer in die Geschichte. Sie greifen zu Zaubermitteln, Bonbons und magischen Getränken, um die Geschichte aufzuklären. Sie stehlen sogar eigens ein Zauberbuch in der Bibliothek. Dabei sind sie als Einbrecherinnen „verkleidet“, tragen einen schwarzen Overall – nachgebildet einem Comic-Helden aus der Serie „Blanche Épiphanie“ der seit 1967 von Georges Pichard gezeichnet wurde. Das Motiv dieser sehr erfolgreichen Serie entspricht dem Rettungsmotiv im Film Rivettes: Der Comic-Held hilft permanent einer Heldin, deren Abenteuer nicht allzu weit von de Sades Opferheroine „Justine“ angelegt sind, immer im allerletzten Moment aus der allfälligen Krise. Dieser Held ist so grotesk wie Celine und Julie, die auf Rollschuhen fahren. Dabei wird diese Pseudodynamik comic-artig gebrochen, als die beiden Frauen völlig fertig die Kapuzen entfernen, die sie zur Tarnung tragen. Zugleich kann man sich schwerlich auffälliger durch eine Stadt bewegen als mit diesem Kostüm.

Sie spielen zunächst alternierend und dann zusammen das Kindermädchen, das als Krankenschwester auftritt. Fortwährend wechseln Celine und Julie in der Rolle des Kindermädchens, je nachdem wer gerade den Zugang zu der Geschichte hat, diese Rolle, die indes zunächst immer gleich bleibt. Die Akteure im Haus führen ihre Geschichte immer wieder neu auf. Der magische Zugang von Celine und Julie ist der einer Zeitmaschine. Doch selbst der Schauplatz des Geschehens ist ungesichert. Denn die Straße ist in Paris, Julie lässt sich mit dem Taxi hinbringen und abholen. Jedoch Camille sagt zu Oliver, er wäre eine der besten Partien von Neuengland. Sind Celine und Julie in die Erzählung von Henry James geraten und klären sie jetzt mit den Mitteln des Films auf? Dann wäre der Film zugleich eine Medienkritik an der relativen Starrheit der Erzählung. Wo also sind wir überhaupt? Der Beobachter (=Zuschauer) ist irritiert und hat Schwierigkeiten zu entscheiden, ob tatsächlich immer dieselbe Geschichte erzählt wird oder Variationen, unmerkliche Verschiebungen, quantenmechanische Veränderungen in die Geschichte einziehen. Julie beginnt sich zu langweilen, weil sich die Geschichte immer zu wiederholen scheint, ohne dass die Pointe, das Ende, die Auflösung in Sicht wäre. Aber Celine, die „katzenartiger“ in die Geschichte eindringt, lässt sich davon nicht beirren, sie weiß, dass dieser Zustand nicht anhalten wird, sondern die Krisis vorbereitet.

Mit dem Wechsel von den Bonbons zu dem magischen Getränk, dem „Gedächtniselixier“, das die „Alten `Herba-Wein` nannten“ und das offensichtlich höher dosiert ist, gelingt es den Darstellerinnen nunmehr sich der Pointe der Geschichte zu nähern, selbst handlungsstärker zu werden und sich dem Zwang der Wiederholung zu entziehen. Denn das Hause und seine mysteriösen Bewohner wollen die Wahrheit nicht zulassen – so wenig wie die Protagonisten in „The other house“ die Aufklärung der Tat zu lassen. Es ist zugleich eine Drogengeschichte, eine Geschichte der Stoffe, eine buchstäbliche Chemie der Gefühle – aber im buchstäblichen Sinne des Wortes. Die Figuren der Geschichte riechen nach Naphtalin (verwendet in Mottenkugeln), stellen Celine und Julie fest. Die Kleider der Toten werden in Kampfer, dem man übrigens eine psychoaktive Wirkung nachsagt und das als Konservierungsmittel eingesetzt wird, und Rosenblättern verwahrt. Sophie fällt in Ohnmacht, wenn sie Blumen nur sieht. Als Camille das Kleid der Toten mit einer Rosenapplikation trägt, kann Sophie den Anblick nicht ertragen. Doch vielleicht ist ihre Unpässlichkeit auch nur darauf zurückzuführen, dass sie in der Rivalität mit Camille um die Liebe von Oliver ihre Chancen schwinden sieht, denn Camille sieht wie die Tote aus. Denn Madlyn begrüßt sie in diesem Kleid als Mutter. Bereits der Name „Blume“ darf gegenüber Sophie nicht erwähnt werden und als ihr Madlyn ein Blumenbild zeigt, fällt sie in Ohnmacht. Ein intermedialer Witz, da Sophie bei Henry James „Rose“ heißt, sodass die Blumenallergie nichts anderes als eine unbewusste Anamnese ist, eine Erinnerung, dass sie in einem früheren (Film/Text)Leben die Täterin ist. Die Akteure der Geschichte selbst agieren schließlich wie Zombies, wie Wiedergänger aus der Totengruft, während Celine und Julie zwischen dem Schrecken über den Mordversuch am Kind und der Albernheit der Handelnden hin und her gerissen sind. Sie machen sich über die Geschichte und ihre entlarvten Helden lustig und nehmen den Anschlag auf das Kind zugleich sehr ernst. Sie wissen nicht, ob sie nun noch die Rolle des Kindermädchens spielen müssen oder bereits eine besondere Handlungsmacht gewinnen, die sie von den Vorgaben der Erzählung löst. Zunächst versuchen sie das Kind mit Handzeichen darauf aufmerksam zu machen, keine Bonbons mehr zu essen. Sie selbst allerdings müssen ständig Drogen konsumieren, um das Band zu der Geschichte nicht zu verlieren. Selbst in den Szenen der Binnenerzählung trinken sie permanent aus einem „Flachmann“, um nicht den Faden der Geschichte zu verlieren und wieder zurück an den Ausgangspunkt zu gelangen. Die Varianten überschlagen sich, Celine und Julie wechseln in den Repetitionen der Szenen immer schneller die Rollen. Ein Schnitt, eine andere Kameraeinstellung und schon wird aus Celine Julie und umgekehrt. Dieses Vexierspiel, wer wer ist, leitet sich bereits früh ein. Julie spricht von einer Zwillingsschwester im Haus. Julie tritt auch im Variete auf und versucht - allerdings ziemlich unvollkommen - Celine zu vertreten. Celine tritt dort sehr erfolgreich als Zauberer(in) „Mandrakore“ (=Mandragore=Mandrake=Alraune) auf (Filmmusik der Bühnenszene: Play Piano Play-No. 4. Allegro Ma Non Troppo von Friedrich Gulda, Uraufführung 1971) und soll sogar eine Welttournee machen. Allerdings sind die Vorschläge des Managers bizarr. Sollte hier der Wunsch von Celine der Vater des Gedankens sein? „Mandrake“, der Magier war eine von Lee Falk in den 30er Jahren erfundene Comic-Figur – ein klassischer Magier mit einem schwarzen Umhang. Mandrake tritt als Illusionist auf, der mit seiner Hypnose-Technik seine Zuschauer und Gegner verblüfft. Celine führt so wie die Comic-Figur die üblichen Zaubertricks vor. Während Celines Vorstellung stört ein Zuschauer mit dem Zwischenruf „Alles Betrug“. Das ist natürlich als Kritik an einer Zauberveranstaltung nachgerade grotesk. Doch der wahre "Mandrake gestikuliert hypnotisch", sodass sich eine Katze in einen Tiger verwandeln kann, während Celine auf der Bühne des Varietes nur bunte Tücher in Tauben verwandelt. Nebenher kämpft Mandrake auch auf einer anderen Ebene. Im wirklichen Leben jagt er Verbrecher. Hier verwandelt er etwa Pistolen zu Schlangen. Während Celine auftritt, werden Szenen der späteren Ereignisse im mysteriösen Haus eingeblendet, die kaum einem Wahrnehmenden zuzuordnen sind. Obwohl also die Variete-Veranstaltung wie eine kleine Binnenerzählung oder nur ein Versatzstück erscheint, wird in dieser Montage behauptet, dass die Kunst des Zauberns nicht danach zu unterscheiden ist, was dem Spiel und was der Wirklichkeit, der echten Magie, zugehörig ist. Celine und Julie benutzen auch einen Talisman, um sich den Aufdringlichkeiten des Hauses und seiner Bewohner zu entziehen. Als zum Ende der Rettung hin Celine diesen Ring für einen Moment lang verliert, wird sie wieder in den Bann des Hauses geschlagen und kann sich für Sekunden nicht bewegen.

Anspielend auf die eigenen Erfahrungen sagt Celine nach ihrem Auftritt beiläufig zu einer anderen Mitarbeiterin des Varietes, sie solle mit ihrem kleinen Assistenten in das Kino gehen, dann käme er auf „andere Gedanken.“ Das nimmt dieser Film wörtlich, denn immer wieder gibt es „Interferenzen“ der Parallelwelten, zwischen denen die Frauen wechseln. Führt der Film nicht das vor, was ohnehin den Zuschauer bedrängt? Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Ist nicht immer der Zwangszusammenhang der Welt der Schrecken, dem nur höchst unvollkommen mit Analyse und Rekonstruktion beizukommen ist. Die Frauen suchen andere Bilder, konkretere Wahrnehmungen, sodass sich der Schrecken, den sie zugleich fürchten, nicht mehr entziehen kann. Der Film kommt auf „andere Gedanken“ und trägt so seinen eigenen Entstehungsprozess in das Werk hinein. Das ist das übergreifende „mise en scène“, das mehr als ein arrangiertes, durchkomponiertes Bild ist. Es ist die Genese der Szenen, es sind die Assoziationen, die sich nicht eins zu eins mit der Handlungslogik verrechnen lassen und die in dem Brennpunkt einer Szene diese transzendieren. Es gibt einen Mehrwert der Bilder, der erst die Qualität eines Films bestimmt.

Sind Celine und Julie eine Art cineastisches Doppelspalt-Experiment, deren Interferenzen sie auch dann zusammenführen, wenn sie weit voneinander entfernt agieren? Celine erklärt beiläufig nach einer aufschneiderischen Erzählung über ihre Erlebnisse in Afrika, sie habe auch so rote Haare wie Julie gehabt. Später präsentiert sich Celine gegenüber einem alten Freund respektive Liebhaber von Julie als diese höchstselbst. Sie trägt eine rote Perücke und nach überschwänglicher Begegnung desavouiert sie ihn und kündigt die Beziehung, die nicht ihre ist, auf. Oder ist es doch ihre Beziehung? Ist sie eifersüchtig oder will sie sich nur einen Spaß machen. Celine und Julie sind vielleicht auch nur eine Person, die sich im Verlauf der Erzählung, deren Anfang wir nicht kennen, in zwei Personen aufgespaltet hat. Ihre Identitäten werden jedenfalls im Lauf der Geschichte, die im Haus geschildert wird, immer schwerer ununterscheidbar. Allein die beobachtende Kamera und die Montage entscheiden, ob Celine oder Julie auftauchen. Schließlich bewegen sich beide im Haus und sind wieder vereint. Jetzt können sie sehr konkret eingreifen. Sie organisieren mit Madlyn eine Flucht aus dem Haus, die nicht durch die Tür, sondern aus dem Fenster mit Hilfe einer Leiter führt. Ihr Rettungsversuch ist aber nicht nur in dieser, sondern auch in jener Wirklichkeit erfolgreich. Denn als sie wie auf Knopfdruck wieder in Julies Wohnung sind und aus dem Traum„aufwachen“, zweifeln sie zunächst, ob sie das Kind gerettet haben. Das Kind ist jedoch im Nebenzimmer. Alle Wirklichkeiten scheinen für einen glücklichen Moment versöhnt. Sie fahren mit dem Mädchen in einem Boot, haben es in ihre Wirklichkeit hinüber gerettet, während die Akteure des Hauses blutleer an ihnen vorbeitreiben. Das ist nebenbei bemerkt nicht nur die Quintessenz des Films, die Rettung des Lebens vor dem Tod respektive der Versteinerung, die im Leben wie im Film droht. Stattdessen beeinflussen die Beobachter nicht nur die Geschichte, sondern werden als die maßgeblichen Handlungsträger so einbezogen, dass sie die Geschichte neu schreiben, während die vormaligen Akteure schließlich zu immer lebloseren Skulpturen regredieren. Celine und Julie tanzen einen Tango zwischen den vormals Furcht erregenden Figuren und lachen sich tot über deren Erstarrung.

Das genau ist auch die Differenz zwischen dem klassischen und dem neuen Schauspielertypus, der mit der „nouvelle vague“ thematisch wurde – in den Worten von Juliet Berto: "Jacques zeigte uns, wie man sich aus der Situation eines Roboter-Schauspielers befreien kann." Das wird aus einer kleinen Episode klar, die J. Rivette in einem Interview mit Frédéric Bonnaud über die Rezeption von Joseph L. Mankiewicz erzählt: „I knew his name would come up sooner or later. So, I'm going to speak my peace at the risk of shocking a lot of people I respect, and maybe even pissing a lot of them off for good. His great films, like All About Eve (1950) or The Barefoot Contessa (1954), were very striking within the parameters of contemporary American cinema at the time they were made, but now I have no desire whatsoever to see them again. I was astonished when Juliet Berto and I saw ´All About Eve´ again 25 years ago at the Cinémathèque. I wanted her to see it for a project we were going to do together before Céline and Julie Go Boating (1974). Except for Marilyn Monroe, she hated every minute of it, and I had to admit that she was right: every intention was underlined in red, and it struck me as a film without a director! Mankiewicz was a great producer, a good scenarist and a masterful writer of dialogue, but for me he was never a director. His films are cut together any which way, the actors are always pushed towards caricature and they resist with only varying degrees of success. Here's a good definition of mise en scène - it's what's lacking in the films of Joseph L. Mankiewicz.” D.h. der Eigenwert der Schauspieler wird dem Skript geopfert, während Rivette seine Heldinnen auch noch agieren lässt, wenn die Geschichte außer Reichweite gerät und die Bilder zu Belegen einer Beziehung wird, die sich nicht narrativ auflösen lässt.

Folgt man David Thomson in einer aktuellen Nach-Betrachtung des Films (2004) sind es gerade dieses absichtlosen, nicht komponierten, nicht auf den Zuschauer einhämmernden Bilder, die diesen Film auszeichnen. Es sind Atmosphären ohne Geschichte, was auch zu einer provokanten Zweiteilung des Films führte. Die erste Hälfte ist nach klassischen Zuschauererwartungen langweilig, während dann die Spannung geradewegs zu einem Genre-Wechsel hin zum Kriminalfilm führt. Jacques Rivette charakterisierte diese eigenartige Kinospannung so: „Das Kino ist eine dramatische Kunst; die Welt organisiert sich hier Kräften gemäß, die in Konfrontationen stehen; alles hier ist Duell und Konflikt; aber ohne jeden Zweifel findet es seine Erfüllung in seiner Negation: in der Kontemplation“ (Jacques Rivette, Schriften fürs Kino, München 1990, 2. Auflage, S. 29). Dass das Kino ein „Duell“ sei, hat Rivette in dem gleichnamigen Film (auch als Unsterbliches Duell bzw. „Duelle“ in Deutschland gezeigt) demonstriert. Dabei liegt eine besondere Spannung in den Lichtverhältnissen, die Sonne und Mond repräsentieren.


Mobile Features

Die Eigenwerte der Schauspieler, die Bandbreiten ihrer Kunst werden dadurch in einer Weise möglich, die dem präskriptiven Film fehlt. Das ist ein alter Diskurs der Filmtheorie, ja man könnte geradezu sagen, dass mit dem Aufkommen des Films auch und gerade der nicht ausgebildete Schauspieler eingesetzt wird. Warum? Béla Balázs erläutert das 1930 bereits so: „Es soll und braucht ja nichts mehr `gespielt` zu werden. Es soll nicht etwas erst `dargestellt` werden, was die Kamera, gleichsam aus zweiter Hand, reproduziert, sondern sie soll etwas entdecken und direkt zeigen, was von Natur aus da ist.“ (Béla Balázs, Der Geist des Films, Frankfurt/M. 2001 (Erstausgabe 1930, S. 23).

Gilles Deleuze spricht von der Notwendigkeit, „professionelle Laien“ zu finden: „Schauspieler, die wie ´Medien` eher zu sehen und sichtbar zu machen wissen als zu agieren und die gelegentlich auch stumm bleiben oder eine endlose, beliebige Unterhaltung führen können, statt zu antworten und einem Dialog zu folgen.“ (Gilles Deleuze, S. 34). Gilles Deleuze nennt Bulle Ogier, die sowohl in „Celine und Julie“ als auch in „Duelle“ als Gegenspielerin der Mondgöttin (Juliet Berto) mitspielt und Jean-Pierre Léaud. Mindestens ebenso gilt das aber für Juliet Berto, “Screen symbol of the spirit of soixante-huit” (The Times 17 Januar 1990), die „zufällig“ anlässlich einer Begegnung mit Jean-Luc Godard 1963 Schauspielerin geworden war. Juliet Berto spielt in „Celine und Julie“ mimisch sehr ausdrucksstark und wechselt bruchlos zwischen kindlichen und erwachsenen Zügen. Sie lässt misanthropisch die Mundwinkel hängen, was fast als Markenzeichen der Berto gelten kann, und schon im nächsten Moment ist sie albern, aufschneiderisch und mutiert dann wieder als professionelle Magierin zur „femme fatale“. Dominique Labourier verkörpert dagegen das kontrastierende Realitätsprinzip: Sie studiert Magie, braut den Zaubertrank und entwickelt den „Schlachtplan“ zur Rettung des Kindes. Ihr Apartment ist die „Bodenstation“, zu der die Frauen nach ihren virtuell-magischen und realen Expeditionen zurückkehren. Die Spielweise beider ist sehr stark durch das von Gilles Deleuze genannte Schauspieler-Prinzip der Medialisierung geprägt. Ihre Dialoge verlassen Handlungsnotwendigkeiten, erscheinen oftmals absichtslos frei schwebend und gerade dadurch entsteht eine offene Sphäre, in der das Motiv des Films, mehr oder minder offene Handlungsalternativen vorzustellen, plausibel wird. Auch ihre Beziehung zueinander wird nicht wirklich endgültig definiert, weil es in dieser Erzählstruktur nichts End-Gültiges gibt. Man mag – wie es Kritiker getan haben – über eine lesbische Beziehung mutmaßen, mag darin eine zeittypische Emanzipationserzählung einer starken Frauen-Beziehung sehen, letztlich wechselt Rivette immer wieder die Rollen der beiden, sodass auch die Zuordnung von Stärke oder Schwäche nicht zu einer konstitutiven Beschreibung der Figuren führt. So ist das emotionale Spektrum der Celine unmöglich einer Person zuzuordnen, sondern einer Rolle, die sich je nach dem Handlungsverlauf ändert. D.h. sie wird auch durch die Geschichte zu Verhaltensweisen motiviert, die nicht einem Beobachter-Ich entsprechen, das „Ich“ wird in diverse Personen aufgespalten. Ein Modus, der übrigens in dem kurz darauf gedrehten Rivette-Film „Duelle“ fortgeführt wird: “Miss Berto has mobile features and the wooliness of her part results in our not being quite sure, for a long way into the film, whether she is one or several characters.” (Richard Eder, Film: Jacques Rivette's 'Duelle': Rivalry of Gorgons Remains Obscure to the Audience, NY Times, October 13, 1976).

Was allerdings vordergründig als spielerische Improvisation und Multiplizierung der Persönlichkeiten erscheint, fügt sich schließlich in ein komplexes Puzzle, das alle diese scheinbar absichtslosen, unverbundenen Wirklichkeitspartikel eng führt, d.h. der Film ist deshalb gelungen, weil sich die Flüchtigkeit und Zufälligkeit der Erscheinungen in einer rekonstruktiv pointierten Erzähllogik treffen, ohne von ihr aufgesogen zu werden. So gibt es eine im Sinne klassischer Erzähllogik „viel zu lange“ Eingangssequenz, die in der ersten Hälfte des Films spannungsdramaturgisch gemächlich gesteigert wird, um schließlich eine Spannung zu produzieren, die sich klassischen Mustern nähert, aber mit ihnen dadurch spielt, dass Beobachtungs- und Handlungsebenen keine diskrete Trennung mehr kennen. Rezeptionsgewohnheiten des auf ein anderthalb Stunden Schema konditionierten Zuschauers werden permanent gestört.

Diese Spielweise bedingt, dass es keine rein handlungsorientierten Erzählstränge gibt, in denen sich alle Momente des Spiels notwendig und unausweichlich miteinander verknüpfen. Hitchcocks oder Kubricks Kino wäre dieses Kontrastprogramm zu Rivettes Cinema, weil auch der Zufall als Konstruktion erscheint.
Doch die Geschichte beginnt wieder von neuem: Sie muss endlos wiederholt werden. Doch gerade nicht die Wiederkehr des Immergleichen, die Nietzsche als der schwerste Stein erschien, sondern die Wiederholung und Variation zugleich. Die Heldinnen können den Film immer wieder ablaufen lassen. Ihre magische Kinomacht ist identisch mit der weniger magischen Fähigkeit des Zuschauers seit der Geburt des Video, Filme zu wiederholen und damit ein analytischeres Sehen zu ermöglichen. Der Schock der Bilder, die Überraschung weichen einer strukturellen Sicht der Dinge. Der Zuschauer nicht weniger als die Darsteller(=Zuschauer) des Binnenfilms entdecken die schwarzen Löcher der Erzählung. Gilles Deleuze hat auf Fellini verwiesen: „Was wir geworden sind, sind wir im Gedächtnis, wir sind gleichzeitig Kindheit, Jugend, Alter und Reife.“ Deleuze hat diese komplexe Bewegung in „Gedächtnisräumen“ - und darum handelt es sich bei „The other house“ - als paradoxale Eigenschaft einer achronologischen Zeit beschrieben, in der es zur Koexistenz aller Vergangenheitsschichten, einer Konzentration der Zeiten in einem Gegenwartsbewusstsein kommt (S. 133 f.). Es gibt also keine reine Erinnerung, sondern die Zeiten laufen in der Erinnerung zu einem vielschichtig sich überlagernden Bild zusammen. Das Gedächtnis ist eine virtuelle Zeitmaschine: „Zwei Personen lernen sich kennen, kennen sich aber schon und kennen sich noch nicht.“ (S. 135) Das könnte eine Beschreibung des Aufeinandertreffens von Celine und Julie sein, nicht weniger als eine Beschreibung der Begegnungen im Haus. Das deja-vu ist keine Bewusstseinsstörung, sondern die gewöhnlichste Kondition der (filmischen) Wahrnehmung.

Die Aussage lautet: Jeder Film kann in ein Leben so inkorporiert werden, dass er Teil dieses Lebens wird. Insofern erfüllt Rivette hier das so prahlerische wie aussichtslose Versprechen der nouvelle vague, dass das Kino Leben ist. Jean-Luc Godard wurde nie müde zu behaupten: „I see no difference between the movies and life. They are the same.” (Zitiert nach Gene Youngblood, 'Jean-Luc Godard: No Difference between Life and Cinema', in Jean-Luc Godard: Interviews. Ed. David Sterritt. (Jackson: University Press of Mississippi, 1998), S. 13). Jedoch ist dieses stärkste Motiv, Filme zu machen und der Wirklichkeit die Quittung zu präsentieren oder sie gar kinematografisch zu revolutionieren, nicht nur bei Jean-Luc Godard gescheitert. „Kino ist Leben“ ist eine Formel, die spätestens mit den siebziger Jahren zu Ende ging, ihre Anhänger verlor, weil die 24 Wahrheiten pro Sekunde ihre Plausibilität verloren hatten. Das Kino ist nicht der Ort der Wahrheit, weil es immer Montage bleibt. Die Montage ist eben nicht nur das Prinzip, Wahrheit herzustellen, sondern zugleich das Prinzip, die Wahrheit zu transzendieren. In der „Außenseiterbande“ konnte Godard die Kamera über die Leuchtreklame „Nouvelle Vague“ fahren lassen, die jene innige Verschränkung zwischen cineastischem Programm und Wirklichkeit zu garantieren schien. Insofern ist Celine und Julie zugleich einer der letzten Filme dieser Zeit, in der das kinematografische Apriori diese (selbst)bewusste Täuschung über eine unüberwindbare Differenz noch bei jedem Kinobesuch bescherte.

Welche Welt ist die wahre?

Sie gibt das Leitmotiv vor. Sie ist oder sie ist nicht und schließlich wird klar: Sie ist und sie ist nicht. Ein cineastischer Versuch über quantenmechanische Parallelwelten, in denen sich alle Varianten einer Geschichte zu einem narrativen Multiversum auffächern, in dem die Schauspieler nicht weniger herumirren wie die Zuschauer. Ständig wird die Frage nach dem Handlungsort und der –zeit und den Absichten der Akteure irritiert. Man kann sich nicht mehr auf eine Wirklichkeit verlassen, die auf einer statisch einsinnig verlaufenden Zeitachse hin zu einer Auflösung eilt.

Allein der Aufenthalt in diesem oder jenem Universum der Geschichte entscheidet darüber. Als Julie in der Küche eine „Bloody Mary“ zubereitet, sagt Celine plötzlich aus dem Nebenzimmer: „Ich hätte Lust auf eine Bloody Mary.“ Julie ist so verstört über diese Koinzidenz, dass ihr ein Glas hinfällt. Es ist dieses unbewusste Wissen aus der Vor-Geschichte, das im Film zu Ahnungen, Vermutungen und Hypothesen über den Verlauf der Geschichte führt. Ohnehin ist Blut ein Leitmotiv des Films. Später wird Camille sich an zerbrochenem Glas die Hand verletzen und bluten. Auch in der Binnenerzählung nach Henry James werden die Blutsbande immer wieder betont. Das Blut steht für die Verquickungen der Akteure.

So kann der Film kein wirkliches Ende haben, denn die Geschichte wird immer wieder neu ablaufen, in dieser oder jener Variante. Zum Ende des Films hastet Julie vorbei, die nun die Rolle von Celine hat, Verfolgte und Verfolgerin wechseln. Alice und das Kaninchen sind Teile eines Vexierspiels und beiden tauchen wechselseitig in ihre Geschichte ein. Eine Geschichte, die keinem gehört, so wie der Hutmacher Alice erklärt, dass es sinnlos ist, von seiner Zeit zu reden.

Es gibt eine komplexe Verschachtelung der Beobachtungsebenen, die den Zuschauer mit den Akteurinnen zusammenführt: Der Zuschauer (Filmkamera) beobachtet Celine und Julie, wie sie sich langsam dem Geheimnis nähern. Diese beobachten „televisionär“ die Akteure im Haus, während sie im Appartement von Julie Drogen zu sich nehmen. Aber zugleich beobachten sie sich selbst als Handelnde im Haus. Schließlich beobachten sie als Handelnde im Haus die Figuren der Geschichte und versuchen einzugreifen. Julie nennt sie „versteinerte Bilder von Hampelmännern“. Während sich Celine allein aufmacht, um das Haus real aufzusuchen, werden Bilder von Spielpuppen eingeblendet. Sollte das alles nur noch ein Puppenspiel sein, leblose Figuren, Marionetten, die sich eine Zeit an Fäden hängend, drehen und dann wieder dem Tod anheim gegeben werden. „Ist es ein Traum oder eine Gedächtnislücke?“ fragt Julie. Celine hatte eine Puppe auf einer Bank liegen gelassen, die Julie findet. Celine findet später mehrere Puppen in einer Spielzeugkiste bei Julie. Sind die abstrakten Beziehungen der Puppen das Gesetz, nach dem sich auch die Menschen bewegen. Geht es um Voodoo? Julie hängt unter einem magischen Quadrat Puppen auf, eine kopfunter, und erinnert an den Gehängten (pendu) aus dem Tarot-Spiel, mit dem sie zuvor noch in der Bibliothek die Zukunft weissagte. Aber hält sich die Zukunft an ihre Beschwörungen?

Die Geschichten überlagern sich, tauschen Motive aus. Vorahnungen, Deja-vus, dunkles Wissen verraten uns die Verbindungen zwischen den Universen. "Viele-Welten-Interpretation", die der US-Physiker Hugh Everett im Jahr 1957 formulierte: Ihr zufolge verwirklicht das Elektron alle möglichen denkbaren Zustände - jedoch in verschiedenen Universen. Bei jeder Beobachtung spaltet sich das Universum in diverse Wirklichkeiten, in denen alle nach der Quantenphysik denkbaren Zustände auch existieren. Der Begriff des „Universums“ selbst ist falsch, weil er eine Geschlossenheit suggeriert. Übrigens spalten sich nach der Theorie auch die Beobachter, die sich in jedem Universum mit ihren jeweiligen Beobachtungen fortsetzen. In der Geschichte von Celine und Julie entsteht fortwährend die Frage, in welchem Grad die beiden Beobachterinnen in welchem narrativen Strang eingebunden sind.

Nach Gilles Deleuze strebt diese Geschichte einem Punkt zu, „wo Reales und Imaginäres ununterscheidbar werden“ (Gilles Deleuze, aaO., S. 25). Diese Nichtunterscheidbarkeit von Realem und Imaginären, das allein retrospektiv aufklärbar ist, nie aber im Moment der Beobachtung, ist ein Kriterium für den Unterschied von guten und schlechten Filmen. Wir kennen diese Traumsequenzen, die den Traum entwerten, wenn sie ihn mit Weichzeichner einleiten oder gar durchführen, als wäre es nichts als Schall und Rauch. Luis Bunuel hat in „Belle de Jour“ diese Unterschiedslosigkeit interferierender Wirklichkeiten demonstriert: Die Heldin tagträumt ihre sexuellen Fantasien, ohne diese Träume anzuzeigen. Wirklichkeit dieser und jener Ebene gehen nahtlos ineinander über, was sich insbesondere in der pointierten Auflösung des Konflikts demonstriert. Ihr von ihren ausgelebten Träumen betrogener Mann sitzt halbtot in seinem Rollstuhl, nachdem er von einem frustrierten Liebhaber schwer angeschossen wurde. Ein Freund erscheint, der das Doppelleben der Ehefrau kennt und erklärt ihr, ihrem Mann nun alles zu erzählen, damit der sich nicht schuldig fühlen müsse. Danach betritt die Frau voll Scham das Zimmer. Plötzlich steht der Mann auf, er ist völlig unverletzt und offensichtlich hat ihm auch niemand die kompromittierende Geschichte erzählt. Nichts ist passiert. Nur der Zuschauer hat gelernt, dass dem Kino nicht zu trauen ist und dass die Traumwirklichkeit so „penetrant“ im wahrsten Sinne des Wortes sein kann, dass die wirkliche Wirklichkeit keinen höheren Wirklichkeitsgrad besitzt.
„Universum und Blick, beide eine einzige und selbe Realität; die nur existiert durch den Blick, den man von ihr aufnimmt, und dieser wiederum hat nur Sinn in Bezug auf sie; - unteilbare Realität, wo Erscheinung und Erscheinen sich vermischen, wo die Vision die Materie zu erschaffen den Anschein erwecken kann (Kamerafahrten bei Renoir), wie auch die Materie die Vision zu beinhalten; ohne Vergangenheit, ohne Kausalitätsbezug. Eine einzige und selbe Realität mit zwei Gesichtern, vermischt und eins im erschaffenen Werk.“ (Jacques Rivette, Schriften, S. 11). Abgesehen von dem Bezug auf Berkeley geht es hier um die Faktur einer Wirklichkeit mit zwei Gesichtern. Die Vision erschafft die Materie, zumindest scheint es so und gerade im Kino liegt zwischen Schöpfung und Schein allenfalls eine virtuelle Sekunde. Ist nicht vielleicht die Geschichte von Celine und Julie einem Kinderbuch entsprungen? Die beiden Heldinnen spielen mit Puppen und immer wieder tauchen wichtige Bücher auf, die mehr sein könnten als lediglich Lektüre. Julie ist Bibliothekarin und Celine besucht sie in der Bibliothek und blättert in Kinderbüchern. Als sie geht, hinterlässt sie in dem Kinderbuch „Der kleine Tom“ eine Art Frauendoppel-Portrait, das Julie herausreißt und in dem die Beziehung der beiden kürzelhaft festgehalten wird. Tom ist - wie das Mädchen - Bewohner eines Gartens, den er verlässt, um die Welt kennen zu lernen und wieder dorthin zurückkehrt, als er erkennt, dass der Garten die wirkliche, seine Welt ist und jene Welt dort draußen ihren Ruf nicht verdient.

Der Film erzählt en passant in einer Variante, dass das Kind (wahrscheinlich) gestorben ist. Gilles Deleuze formuliert das kinematografisch gelöste Paradox so, dass das Mädchen „seinem unausweichlichen Schicksal“ entrissen wird (Gilles Deleuze, aaO., S. 23). Wir erleben eine Heilsgeschichte, die nur das manipulierbare Medium spendiert, hier gilt sie nicht, die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, die Irreversibilität eines Lebens. Das ist Kino-Magie, die eigentliche Magie, die selbst dem Schicksal ein Schnippchen schlägt: „Es gibt kein lustigeres Feenspiel“ (Gilles Deleuze, aaO.). Aber diesen Spaß bricht Rivette in einer Atmosphäre, die teilweise beklemmend ist. In einem Interview sagt er auf die Frage, ob „Celine und Julie“ ein lustiger Film ist: „Yes, but there is also a certain terror. Not in the tradition of Frankenstein films but more in the line of Jacques Tourneur. I Walked with a Zombie (1943), Cat People (1942), etc, are films that are intelligent and also stunningly crafted.” Die untergründige Beziehung zu „Cat People“ drängt sich auf. „I found that Berto is just like a cat“, erläuterte Rivette in einem Interview mit John Hughes. In den Worten von Andreas Kilb: …“und dass es im alten Europa noch immer keinen besseren Frauenregisseur gibt als Jacques Rivette…“ (FAZ 24.08.2004).


Und verrät uns das Intro des Films, dass sich Celine just aus der Katze in ein “Menschen-Kaninchen” verwandelt hat? In der Tat bewegt sich Juliet Berto in zahlreichen Szenen wie eine Katze, die spielt und schnurrt und in ihren Gesten unberechenbar ist. Der Film beginnt und endet mit den Bildern einer Katze, die keine andere als Schrödingers Katze ist. „Ihr habt mich aufgeweckt – und dabei hatte ich einen so schönen Traum! Und du warst mit dabei, Mieze, im ganzen Spiegelland. Hast du das denn auch gewusst?“ (Lewis Carroll, Alice hinter den Spiegeln, S. 142 f., Frankfurt/M, 1963). In der Folge wird es komplex. Alice fragt danach, wer sich in wen verwandelt hat und wer wen geträumt hat. Und schließlich ist es wahr, dass sie vom Schwarzen König geträumt wurde so wie der Schwarze König von ihr. D.h. es gibt keine vorgängige Wirklichkeit, sondern unsere Wirklichkeit ist der Traum der Anderen – wie umgekehrt. Die Anderen sind also Himmel und Hölle gleichermaßen.


Epilog

Warum heißt der Film eigentlich „Celine und Julie fahren Boot“? Nach der erfolgreichen Rettung des Mädchens machen alle drei eine sonnige Bootspartie. Was hier als pastoral versöhnliches Bild präsentiert wird, ist nur im Blick auf die Kurzgeschichte „The other house“ von Henry James verständlich. Dort wird das kleine Mädchen von Rose ertränkt. Die Umstände der Tat, ja selbst ihre Urheberschaft bleiben indes recht mysteriös, auch wenn zuletzt kein Zweifel ist, dass Rose, im Film heißt sie „Sophie“, die Täterin ist. Sie wird in der Kurzgeschichte vom Bootshaus aus beobachtet, allerdings bleibt unklar, ob der Beobachter auch die eigentliche Tat gesehen hat und nun schweigt oder es tatsächlich keine unmittelbaren Tatzeugen gibt. Der Film bringt indes en passant das intermediale Zauberkunststück fertig, „Effie“ (=Madlyn), das ertränkte Mädchen in der Kurzgeschichte James´ zu retten. Das Kind wird also zwei Mal gerettet, zunächst durch Flucht aus dem Haus in die bessere Wirklichkeit respektive Imagination und dann in der sonnigen Kahnpartie, die schließlich den Blick frei gibt auf die erstarrten Täter. Das vermag der Film, er bietet sich nicht nur als das Leben an, sondern zugleich als Korrektiv von Wirklichkeit(en) und Fiktion(en). Rivette und seine Protagonistinnen schreiben die Geschichte um, Literaturkritik wird cineastische Heilsgeschichte – und das ist ein ironischer Gestus gegenüber der Unabänderlichkeit des Schicksals, das so seines traurigen Ernstes beraubt wird, um in der höheren Wirklichkeit des Films seine Schulden abzutragen.

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