10/05/2012

Zur moralischen Kunst der inszenierten Politik



Ein Text aus dem Archiv: In der »Kunst des Möglichen«, gilt es nach einem wohl von Augustinus eingeleiteten und bis heute unabgeschlossenem Diskurs als unmöglich, moralisch gut und zugleich praktisch erfolgreich zu handeln. Das scheint eine fragile Kunst zu sein, die doch das Mögliche möglich machen soll, aber gerade darin scheitert, das Moralische wirklich werden zu lassen. Aber leidet nicht auch die Möglichkeitskunst jenseits des Moralischen bereits an Zuständigkeitsschwund, wenn nicht gar ihre Daseinsberechtigung vollends in Abrede gestellt wird. Im Kontext von rechtlichen, ökonomischen, sozialen und wissenschaftlichen Zwängen reduzieren sich die »Möglichkeiten« freier politischer Gestaltung jenseits anderer gesellschaftlicher Agenturen.


Wird Politik nicht zunehmend auf das Reservat beschieden, das entscheiden zu müssen, was eben nicht zu entscheiden ist? Politik wäre danach »die Kunst des Unmöglichen«, da zu handeln, wo alle Hoffnung auf kognitive oder sonst rationalisierbare Entscheidungskriterien vergeblich sind. Wenn Risikofolgenabschätzungen und wissenschaftliche Politikberatung, Bioethikkommissionen oder ökologische Prognostik versagen, muss gleichwohl eine Entscheidung her, die auch der Zufall treffen könnte, wenn nicht die Legalität des politischen Verfahrens ungleich mehr Vertrauen bei Wählern auslösen würde.

Politiker wissen aus dieser Entscheidungsnot wie -armut eine Tugend zu machen und entdecken, wie Murray Edelmann sagt, die symbolischen Möglichkeiten ihres Metiers. Symbolische Politik inszeniert sich vor allem als Instrument des Machbaren und wer will schon entscheiden, was noch gesellschaftliche Gestaltung und was lediglich Glasur von fremddynamischen Kräften ist. Ob Kriegserklärungen, BSE, Wiedervereinigung, therapeutisches Klonen - das Verhältnis von politischer Tatkraft und aufgedrängtem Vollzug ist diffus. Politiker verwandeln ihre Einflussverluste in moralische Repräsentationsfunktionen, die nicht nur das Entscheidungsdilemma unsichtbar machen, sondern ihrer Selbstverwaltung und -erhaltung förderlich sind. Bei jeder politischen Entscheidung läuft das Problem des Machterhalts mit und es dürfte im Sinne dieser vitalen Funktion besser sein, die eigene relative Ohnmacht zu verbergen.
Nun wird die moralische Verortung von Politik zusätzlich dadurch erschwert, dass sich politisches Handeln nicht an die - etwa von der Systemtheorie verordnete - Aufteilung gesellschaftlicher Funktionsbereiche zu halten scheint. Ein vormals brisanter politischer Diskurs befand schlicht jedes individuelle Verhalten als politisch und verband mühelos das Private mit dem idiosynkratischen Weltgewissen. Zwischen Ozonloch und Spraydose, T-Shirt-Importen und Kinderarbeit, das moralisch konnektierte Weltgewissen akzeptiert keine moralfreien Ermessensspielräume, in die sich eine Kunst des Möglichen noch flüchten könnte.
Dieses fluktuierende Moment des Politischen ist indes nicht allein der weltbetroffenen Hypermoral vorbehalten, sondern Politik wird in fragilen Zeiten ihrer professionellen Handhabung auch von anderen Funktionsbereichen unterwandert. Die Anfeindungen gegenüber dem Bundesverfassungsgericht, das sich zu fast allen politischen Fundamentalentscheidungen erklären musste, belegen die Paradoxie, das politische Abstinenzgebot der Verfassungsjuridiktion zu wahren, wenn doch gerade politische Fundamentalentscheidungen erwartet werden. Hier hat das Grundgesetz selbst aus den Erfahrungen der Weimarer Republik eine Differenz verwischt, die permanenten Zuständigkeitsstreit über so hochmoralische Fragen wie Abtreibung, Kruzifixe in Schulen oder Parteiverbote garantiert.

Aber selbst Sachzwänge oder wissenschaftliche Kognitionen, die politisches Handeln verdrängen, existieren nicht a priori, sondern sind selbst Beobachtungen, die auch abgewiesen oder relativiert, mithin politisiert werden können. Das leisten etwa Technikfolgenkommissionen, die keine simple Schnittstelle von Wissenschaft, Forschung, Ethik und Politik sind, sondern schon politisch vorentscheiden müssen, welche Risiken oder Forschungsvorhaben überhaupt untersucht werden.

Mit dieser Art von politischer Diffundierung und Aufgabendispersion wachsen die Begründungszwänge gegenüber einer professionellen Politik, die sich längst nicht mehr auf die »Kunst des Möglichen« zurückziehen kann, wenn sie noch akzeptiert werden will. Die Rede von der »Kunst des Möglichen« löst überdies längst moralische Beklemmungen aus, weil historisch zu oft Handlungsräume entstanden, deren fatale Folgen später mit hohen Folgekosten repariert werden mussten. Inzwischen sind es weniger die moralischen Wüsten, die wachsen, als die technologisch und medial dynamisierten Probleme, die sich anarchisch gegenüber jeder ethischen Reflexion gebärden.

Moraldiskurse werden zum Alarmzeichen, wenn die Äquilibristik gesellschaftlicher Machtverteilung versagt oder gesellschafliche Risikopotenziale nicht mehr nachvollziehbar rationalisiert werden können. Die (Re)Moralisierung des politischen Feldes ist irritierend, weil das Verhältnis von Politik und Moral die Geschichte einer Entzweiung ist. Politik ist kein Moralvollzug und Moral reicht nicht aus, politische Entscheidungen zu begründen. Schon gar nicht gibt es einen Rekurs auf eine universalistische Moral, die Politikern das Geschäft erleichtern würde, eine Letztinstanz anzurufen, die das Wahre, Gute und Machbare versöhnt. Machiavelli steht für die Spannung zwischen einer Staatsräson, die sich von moralischen Prinzipien freizeichnet und einer moralischen Prätention, die wiederum den höheren Zielen der Staatsräson - etwa der Wahrung von Gemeinwohlinteressen gegen Individualinteressen - dient. Aber eine »amoralische Moral« oder wie Niklas Luhmann sagt, eine »höhere Amoralität«, passen zum wenigstens zu den Einsinnigkeitsprofilen, die der Bürger glaubt, der Politik abverlangen zu dürfen.
Die »Unterworfenen« mühen sich zumeist vergeblich, aber nachhaltig ab, hinter den symbolischen Inszenierungen die Moral von Politikern zu ermitteln, wenn es schon so schwer bis unmöglich erscheint, das moralische Potential der Politik selbst anzugeben. Wenn Politiker zum skrupulösen Untersuchungsgegenstand einer moralisierenden Öffentlichkeit werden, dann gilt: Trau, schau, niemand! Zugleich konterkarieren aber Medien diese Ermittlungen, weil Aufmerksamkeitsgewinne wichtiger sind als moralische Abschlussverfügungen. So mutierte etwa die Barschel-Affäre im Laufe der Untersuchungen schließlich zu einer Engholm-Affäre, was zwar die moralischen Verstrickungen nicht auflöste, aber je nach Tatsachenbewertung die moralischen Optionen offen hielt. Der mediale Untersuchungsmodus nimmt die Form des Skandals an, was Politikkontrollen vordergründig erheblich einfacher macht, als etwa nach den strukturellen Wirkungen politischer Entscheidungen zu forschen. Wird der Politiker auf die moralische Schaubühne seiner televisonären Inszenierung gezwungen, leidet darunter seine strukturelle bzw. institutionelle Macht, die ihn zuvor vor der Einswerdung mit dem Wähler relativ schützte.

Medien kennen keine Bannmeilen, sondern geben sich erst zufrieden, wenn ihnen die porentiefe Introspektion politischer Physiognomien gelingt. Längst mutieren auch klassische Institutionen wie Parlamente, Parteien oder Ausschüsse unter dem medialen Druck zu moralischen Lehranstalten, die populistische Inszenierungen vor ihre politische Arbeit stellen. Würde man nach einer Unmoral der Medien fahnden, wäre nicht das Ergebnis, dass Medien - wie Kreter - einfach die Unwahrheit sagen, sondern gesellschaftliche Wert- und Prioritätenkataloge, Verfassungen oder politische Ethiken in dem Schema »Aufmerksamkeit/Nichtaufmerksamkeit« beobachten. So wird etwa die Frage, ob ein Außenminister, der früher Polizisten geprügelt hat, noch tragbar ist, wichtiger als die Frage, welche Außenpolitik dieses Gemeinwesen verfolgt. Eine Talkschlacht zwischen Obama und Romney entscheidet über die Wahl, obwohl der Wähler längst weiß, dass er hier in diesem charismatischen Feld nur manipuliert werden kann und soll. 

Diese mediale Verarbeitung von Informationen avanciert gegenüber dem politischen Gestaltungswillen zum Supercode, dem sich Politiker beugen oder - untergehen.
Strukturelle Ermittlungen, die Medien regelmäßig schon deshalb nur bedingt leisten können, weil die Aufmerksamkeitsverluste regelmäßig prekär sind, bergen zudem die Gefahr, dass die Effekte politischen Handelns unabhängig von Intentionen, Motivationen oder gar der Moral der Akteure beobachtet werden können. Moraldiskurse könnten als sinnlos erkannt werden, weil sie zur Aufklärung über die »wahren Verhältnisse« nichts beitragen. Verfehlungen im Privatleben wie in der Amtsübung eröffnen dagegen wenigstens die gesinnungsethische Möglichkeit zu entscheiden, ob diese Art der Politik moralischen Maßstäben hinreichend genügt. Der Amtsträger fällt oder fällt nicht, aber die Politik kann unbeobachtet passieren - im Guten wie im Schlechten.
Wird dagegen die Moralisierung von Politik sowie die Politisierung von Moral auf der Ebene struktureller Herrschaft und ihrer Institutionen betrachtet, ist es weitgehend unerheblich, ob Politiker fehlsame Menschen sind, sie Eigennutz vor Fremdnützigkeit stellen oder politisch unkorrekt handeln. In ihren rechtlichen, institutionellen und zweckrationalen Bindungen wirken sich persönliche Verhaltensweisen marginal aus, weil die Moral der Entscheidung längst nicht mehr Akteuren überlassen wird. Das schließt zwar keinen Machtmissbrauch aus, aber augenscheinlich verkraften Gesellschaften die moralischen und ökonomischen Folgekosten korrupter Politiker, wenn das Rechtssystem politische Handlungsspielräume in seinem Legitimitätscode begrenzt. »Political Correctness« - wie die von George W. Bush eingeforderte Ethik seiner Regierungsmitglieder - gerät dagegen in den Verdacht, wieder nur den in heißen Wahlkämpfen verinnerlichten Glauben an eine medial inszenierte Politik zu predigen. Vielleicht könnte man das in seiner eigenen Logik unmoralisch nennen, wenn sich nicht auch hier außermoralische Institutionen durchsetzen würden, die zwar nicht vollkommen sind, aber sich zumindest nicht auf das fragile Moralbewusstsein von Menschen verlassen. 

Goedart Palm 
 

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