9/29/2012

Der lahmende Aufstand


Zundelfrieder und der Rest der coolen Gang  in Zeiten der Globalisierung  

Der weitgehend vergessene Moralist Antoine de Rivarol betrachtete in seinem politischen Journal eines Royalisten, das die Zeit vom 5. Mai bis 5. Oktober 1789 umfasst, die revolutionären Ereignisse in Paris. Rivarol litt mächtig unter der gewalttätigen Demontage des Ancien Régime. Unerträglich ist ihm der „Pöbel“: Marktweiber, Kriminelle, Lumpengesindel. Er kann nicht begreifen, dass die ehrenwerte Leibgarde des Königs keinen Widerstand gegen dieses Pack leistet und sich lieber erschießen lässt. Wie kann man sich das Gesetz des Handelns von diesem Abschaum diktieren lassen? Der gegenwärtige Adel ist nur noch ein bleiches Abbild seines einstigen Glanzes. Der Patriotismus der Aufständischen sei nur ein ideologisch billiger Trick, die Diktatur des Pöbels zu rechtfertigen. Vor dem Hintergrund einer so paradigmatischen wie bluttriefenden Bemerkung Saint-Justs „Diejenigen, welche ich angezeigt habe, haben niemals ein Vaterland gekannt…“ wird die herrschaftsgeladene Auslegung von Blankettformeln zum Apriori des Terrors. Früher ging es bei nur einem König den Leuten gut, die „Barmherzigkeit“ funktionierte, nun gibt es unzählige Groß- und Kleintyrannen, räsoniert Rivarol. Die Menschen schreien schlimmer als je zuvor nach Brot. Der Pöbel sei indes selbst nur ein Instrument windiger Kapitalisten und verlogener Figuren wie der des doppelzüngigen Mirabeau. Der neu entdeckte Patriotismus, den Robespierre rechtschaffenen und erhabenen Menschen zurechnet, sei die billige Währung, die an den jeweiligen Wechselkurs der Macht gebunden ist. Paul Lafargue, der Schwiegersohn von Karl Marx, hatte für den „homme de lettres“ Rivarol nur Verachtung übrig. „Dieser spirituelle Parasit“ sei verantwortlich, dass „der Hass vertieft und der Kampf bis ans Äußerste getrieben“ worden sei. Folgt man dem „Neger“ (Marxens Terminus für seinen Schwiegersohn) Lafargue und den Vertretern einer „wissenschaftlichen“ Theorie des Klassenkampfs, gibt es historisch gesetzmäßige Verlaufsformen. Stellt man sich dem  in den Weg, wird nur das Blutbad vergrößert. Aber wie sollte das Rivarol in der aktuellen Situation erkennen? Und ist es überhaupt wahr? Wäre nicht ein beherztes Eingreifen der Royalisten und der königstreuen Truppen erfolgreich gewesen, so wie es Rivarol behauptet. Angst sei ein schlechter Berater. Dann wäre die glorreiche französische Revolution eine bloße Revolte geblieben. Der Pöbel wäre „niederkartätscht“ worden, so wie es Napoleon ohnehin als probates Mittel zur Behandlung von Volksaufständen ansah. Es hätte einige sozialstaatliche Verbesserungen gegeben und die Eigentumsordnung wäre weitgehend unangetastet geblieben. Histomat und Diamat hätten sich auf dem Bahnhof der Geschichte noch ein bisschen die Beine vertreten müssen. Virtuelle Geschichtsschreibung vermag aus Revolutionen Revolten zu machen und vice versa aus Revolten Revolutionen. Ob Freiheit und Gleichheit, Demokratie und Rechtsstaat der Geschichte letzter Schluss sind, ist auch heute nur für die entschieden, die das Telos der Geschichte bereits kennen, also die Verfassungstreuen nicht weniger als die Aufständischen mit der fragmentarischen Gebrauchsanweisung. „Das Warten auf die revolutionäre Situation und das unvermeidliche und verhängnisvolle Zögern, wenn sie eingetreten ist, gehören nach den Erfahrungen der Volkskriege einer vergangenen, noch unreifen Epoche der Revolutionsgeschichte an“, schrieb wie immer besserwisserisch die RAF 1971. Es sei ihnen egal, ob das „reines Abenteurertum“, „Blanquismus“, „Putschismus“ oder „Anarchismus“ genannt werde, wenn sie nur der Revolution in Deutschland einen Schritt näher kämen. Sie glaubten sich nicht nur der Revolution, sondern vor allem dem revolutionären Hexenmeister Lenin nahe, der ähnlich gegenüber seinen Kritikern aus dem eigenen Lager konstatiert hätte, derlei Vorbehalte gegen die Aktion seien „unrichtig, unhistorisch und unwissenschaftlich“. Die bornierte Ignoranz dieser historischen Rückversicherung lag ähnlich wie bei der französischen Gruppe mit dem hochsignifikanten Namen „Action Directe“ darin, die Tat vom Misstrauen gegenüber den revolutionstauglichen Verhältnissen freizusetzen. Das ist blanker Voluntarismus, so wenig der andere Glaube, nämlich jener an die Kraft der wissenschaftlichen Analyse, die Verhältnisse revolutionär zu transzendieren, schon besser wäre. Auch jenseits von Revolutionstheorien, die seit Hegel glauben, auf die Notwendigkeit der Geschichte wissenschaftlich bauen zu können, um sich des Siegs schon vor der Schlacht zu vergewissern, wollte man nicht ohne höhere Gewissheit losschlagen. 1830 malte EugèneDelacroix anlässlich der Julirevolution in Paris die berühmte Allegorie „Die Freiheit führt das Volk“. Die Spontaneität der Bewegung folgt einer Ordnung von patriotisch-bacchantischer Führerin und fast monochromer Masse. Die Allegorie mutierte zur Ineinssetzung von Freiheit und Notwendigkeit, was Hannah Arendt als das furchtbarste Paradox modernen Denkens erschien. Allerdings ist dieses Paradox eine alte Kondition,  wenn doch Menschen ihr Tun immerfort gegen die Schicksalshaftigkeit und Kontingenz versichern. In der Bewegung zwischen erregtem Aktionismus und providentiellem Heilswissen, ähnlich dem Spannungsfeld von tätiger Nächstenliebe und automatisierter Gnadenlehre, bewegt sich seit je der revolutionäre Elan. Gotteskrieger repräsentieren die Identität dieser beiden Pole, wenn gottgewolltes Tun und heiliges Schriftwissen jedes Handeln zum Gottesdienst werden lassen. Da es Gottes Ratschluss ist, gibt es keine eigene Entscheidung, keinen echten Gewissenskonflikt und auch keine wissenschaftliche Analyse. Klassische Strategen von West bis Ost, die dem „kairos“ vertrauen wollen und die Aufklärung über den Feind für das Hauptgeschäft halten, treibt diese Selbstgewissheit in den Wahnsinn. Jede Rede vom Aufstand, der kommen wird, der alles anders werden lässt, der als Superkompensationsinstanz für das Ungenügen der Wirklichkeit aufkommt, besitzt mehr als Spurenelemente messianischen Eiferertums, das zwischen Gottvertrauen und Ignoranz nicht trennscharf entscheiden will.  

Situationistische Legitimationen  

Der „kommende Aufstand“ des angeblich unsichtbaren Komitees liest sich mutatis mutandis wie das déjà-vu situationistischer Pamphlete. Hier entsteht heute wie damals der revolutionäre Mehrwert dadurch, Politik, Kunst und Alltag in ein durch zahllose Achsen verbundenes Befreiungsprojekt mit mehr oder weniger hohem Gewaltanteil zu integrieren. Diese Transgression vormals geschiedener Sphären in eine ästhetisierende und totalisierende Weltsicht beginnt vielleicht mit der Romantik, hat einen pointierten Höhepunkt im russischen Prolet-Kult (Kunst=Leben) und wird von verspielteren Varianten in Dadaismus, Surrealismus und schließlich von den Jugendkulten seit 1967 mit Macht aufgegriffen. Es sind die „ästhetischen Gegenwelten“ (Cornelia Klinger), die auch dem Kampf ein neues Motiv liefern, seitdem die transzendenten Rückversicherungen so fragil geworden sind.   

„Objektiv ist die Situation schon reif für eine neue Revolte“ schreiben im März 1980 die SDS-Historiker Tilman Fichter und Siegward Lönnendonker im leicht wehmütigen Rückblick auf die 68er, so sei doch gerade im Bildungswesen vieles im Argen. Das ist ein „running gag“ jeder Revolutionstheorie, die immer „um das nahe Bevorstehen eines neuen Beginns der Revolution“ weiß – wie es 1977 René Viénet auch den „Wütenden“ und „Situationisten“ von 1968 bescheinigte.[1] Viénet redete von einem bedrohlichen Programm, das “den Tod aller bestehenden Regime proklamiert”. Der “Schlaf aller Herren der Ware” wäre nun beendet “und nie wieder würde die spektakuläre Gesellschaft ruhig schlafen können.” Auch die unsichtbaren Manifestierer des „kommenden Aufstands“ gehen von der fetischistischen Waren- und Spektakelgesellschaft aus, also von jener altbekannten Matrix, deren Kabel wir nur aus unseren realen Körpern reißen müssen, um aufzuwachen. Der kategorische Imperativ der revolutionären Ethik lautete damals wie heute „Ich nehme meine Wünsche für die Wirklichkeit, weil ich an die Wirklichkeit meiner Wünsche glaube.“ Bei aller Liebe zur Dialektik ist das für die Vermittlung von objektiven Umständen und revolutionärer Selbstgewissheit zu wenig. Karl Marx wusste es besser: „Es genügt nicht, dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss sich selbst zum Gedanken drängen."  

Der „kommende Aufstand“ wohnt zur Untermiete bereits im Paradies. „Nicht die Revolte an sich ist edel, sondern das, was sie fordert, selbst wenn, was sie erreicht, noch gemein ist.“ Das unsichtbare Komitee schwärmt von der „Unterbrechung der Warenflüsse“, der „Aufhebung der Normalität“, die wieder Leben in ein stromloses Mietshaus brächte, als würden wir per Unterversorgung rousseauistisch in das Paradies der Brüderlichkeit geführt. Das Lied von der Selbstorganisation der Menschen, die sich endlich wieder emotional näher kommen, mag an vielen irdischen Höllenorten seine Wahrheit reklamieren. Was diese „Unsichtbaren“ wie weiland die sichtbaren Aufständischen je aus ihrem Kalkül ausblenden, das ist die Fragilität des revolutionären Subjekts, das seine Parzellierung genauso erfährt wie jene Bürger, die als Sozialautisten etc. als Zerrbilder des wahren Menschseins, als Negativfolien des nicht länger entfremdeten Menschen herhalten müssen. Auch der kommende Aufstand vermag das Solidarisierungsapriori divergenter Gruppen und die Konsistenz des Subjektbegriffs nicht plausibel zu erläutern, was jenseits von nassforschen Flugschriften die postmarxistische Theorie schon lange umtreibt. „Und ebenso unmöglich ist es, dass sich irgendwelche ernsthafte Meinungsverschiedenheit darüber geltend machen könnte, dass wir über alle Welt hinaus dem Proletariat zurufen: „Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr!´“ Karl Liebknecht formuliert hier das alte Überlastungsskript gegenüber dem Subjekt, das – wie es seinem Namen entspricht – dem emanzipatorischen Programm unterworfen wird und als revolutionäres Metasubjekt reüssieren soll. Es wird zur strukturellen Ironie des Politischen, jederzeit Identitäten, Mehrheiten und in Überblendung aller Partikularitäten immer wieder das Universelle selbst einzufordern. Wenn universal nach Alain Badiou nur das ist, „was sich in immanenter Ausnahme befindet“, werden wir Zeugen, wie diese Theorie fragile Subjekte des politischen Double-bind produziert, die revolutionär nicht zuverlässiger erscheinen als das vormalige Aufklärungssubjekt oder der kurz danach erscheinende Proletarier, dessen Reanimierbarkeit weiterhin unverdrossen behauptet wird. Das unsichtbare Komitee findet diesen hochsolidarischen Sehnsuchtsort der Menschwerdung in der Kommune, weil sie „bewirkt, dass wir „wir“ sagen, und dass dies ein Ereignis ist.“ Klar: „This is a mean old world, baby to live in by yourself.“ Die Kommunion der Deklassierten rückversichert sich über die großen Augenblicke der Pariser Kommune von 18. März 1871 bis 28. Mai 1871. Arthur Rimbaud, nach Albert Camus “der Dichter der Revolte und ihr größter”. feiert den Aufstand der Pariser Kommune, an dem er auch teilnahm, mit „L'orgie parisienne ou Paris se repeuple“[2]. Das unsichtbare Komitee ist gedanklich und topografisch auch in Paris angesiedelt, was vormals zu größter Hoffnung Anlass gab, beschied doch Antoine de Rivarol, dass hier die „Vorsehung“ stärker ist als anderswo.  

Die revolutionäre Megaerzählung ist eine transhistorische Be- wie Verschwörung, die großen Momente des Aufstands, des Kampfs, der Siege und Niederlagen zu einer notwendigen Weltrettungsmission zu verkoppeln. Der Blick über die Barrikaden markiert die Grenzen der Vergleichbarkeit bis hin zum unfreiwillig komischen Eingeständnis: „Die Pariser Kommune hatte das Problem der Datenspeicherung teilweise gelöst: Mit dem Niederbrennen des Ratshauses zerstörten die Brandstifter die Archive der Zivilverwaltung. Eine Möglichkeit elektronische Daten auf immer zu zerstören, muss erst noch gefunden werden.“ Eben. Das taktisch-strategische Vademecum, das kleine feuerrote Buch der Revolution auf allen Ebenen des Netzes müsste erst noch geschrieben werden. Die kommenden Aufständischen operieren noch sehr in handgreiflicher Direktkommunikation, ohne die neuen Fronten einer intrikaten Informationsherrschaft mehr als nur zögernd zu berühren.    

Die Praktiken von 1968 und 2005 werden sehr ähnlich beschrieben, ohne irritiert zu sein, dass seinerzeit doch offensichtlich verfehlt wurde, was nun wieder als brandheiße Revolte vorgestellt wird. „Burn, warehouse burn“ „Keiner von uns braucht mehr Tränen über das arme vietnamesische Volk bei der Frühstückszeitung zu vergießen. Ab heute geht er in die Konfektionsabteilung von KaDeWe, Hertie, Woolworth, Bilka oder Neckermann und zündet sich diskret eine Zigarette in der Ankleidekabine an.“ (Kommune I, 24.05.1967) Das heißt pyrotechnisch für das Banlieue von 2012 übersetzt bzw. entfacht: „Das Promethische dabei besteht und lässt sich zusammenfassen in einer gewissen Aneignung des Feuers“. „Gewiss“ heißt für das unsichtbare Komitee: „Alle sind sich einig. Es wird knallen“. „Als es gegen Mittag knallte, machten wir uns nicht viel daraus. Das waren wir seit mehreren Tagen gewöhnt“ schildert Ulrich Enzensberger die Reaktion der Verkäuferinnen des Brüsseler Warenhauses „L'Innovation“.[3]

Intermezzo: Im Dschungel der Städte  

Der Grafiker Frans Masereel schuf nicht nur mit „Die Stadt“ (1925) ein beeindruckendes Panorama des modernen Großstadtchaos, sondern entfaltete 1921 in dem wenig bekannten „Grotesk Film“ die moderne Unübersichtlichkeit des städtischen Lebens noch erheblich drastischer. Alle Gegensätze der Wirklichkeitskonstitution, Innen- und Außenwelt, Licht und Schatten, Reichtum und Armut, Schönheit und Hässlichkeit verflechten sich zu einem unentwirrbaren Gespinst metropolitaner Nachkriegsexistenzen, indem die vormalige Ordnung geschiedener Dinge als ideologisches Konstrukt denunziert wird. In solchen Grotesken geht es nicht nur um Synästhesien oder bloß ästhetische Vorstellungen literarischer Multiexistenzen oder gar Dandys, sondern um Wirklichkeitsbeschreibung. Das täglich durchlittene Chaos urbaner Durchdringungen ist der ideale Ort des Widerstandskämpfers, weil sich hier das Helldunkel von Bürgerlichkeit und Verbrechen auflöst. Das urbane Gelände wird zur neuen alten Kampfzone ausgeweitet, wo Pflastersteine als Projektile dienen und ganz nebenbei der Strand freigelegt wird, wo die Bewegung der Aufständischen sich nicht an den Wegen, Durchgängen oder der vorgegebenen Logik des Betretens und Verlassens von Häusern orientiert. Der Revolutionär fräst sich gleichsam durch die entfremdete Architektur, dekonstruiert sie, indem er die strategischen Prämissen für den Kampf schafft. Eine schöne Idee ist die von den Unsichtbaren formulierte Multi-Layer-Kampfzone, eine mikropolitische Überschreibungs- und Überlagerungsstruktur, die den Kampf vielleicht mit Niklas Luhmann als Steigerung der Komplexität definieren könnte. Die „gute Polizey“ findet in dieser rhizomatischen Struktur von Passanten, Bewohnern, Händlern etc. nicht mehr den Terroristen vor lauter Räumen. Die kommenden Aufständischen berufen sich auf den frühen „Stadtguerillero“ Louis-Auguste Blanqui, so wie zuvor die Situationisten von Straßenumbenennungen bis hin zur Korrektur der „Haussmannschen Perspektive der Boulevards“ schwärmten. Man möchte Nicolas Chauvin auf das patriotische Streckbett der Revolution legen: Was ist es doch für eine Lust, ein Revolutionär zu sein. „Masken“ empfiehlt uns das Komitee, das nicht nur sein strategisches Paradigma in der Unsichtbarkeit findet, sondern durch die Depersonalisierung seine erhabene Botschaft objektivieren will. Auch das ist nicht neu. Spontaneität hieß für die Situationisten die „Bewegung ohne Führer“, während Leute wie Daniel Cohn-Bendit die scheinbaren Führer seien, die „Chefs“, nach denen die Medien der Spektakelgesellschaft gierten, um ihre aufdringlichen Geschichten zu erzählen (René Viénet). Das dezentral und in unabhängigen Zellen weltweit operierende Rhizom „Anonymous“ (We are Anonymous. We are Legion. We do not forgive. We do not forget. Expect us!”) führt dieses Kollektivverständnis schon im Namen. „Anonymous“ agiert im und jenseits des Netzes gegen Machtformationen aller Art, angefangen bei Scientology bis hin zur australischen Regierung und gegenwärtig gegen Finanzunternehmen, die Wikileaks von den warmen Geldströmen „abgeknipst“ haben. Leben wir also in vorrevolutionären Zeiten?

„Wir haben sie so geliebt, die Revolution“ (Daniel Cohn-Bendit)  

Hannah Arendt unterscheidet plausibel zwischen Rebellion als Befreiung und Revolution, „wo das Pathos des Neubeginns vorherrscht und mit Freiheitsvorstellungen verknüpft ist“ die darauf gerichtet sind, einen konstitutiven Neuanfang einzuleiten. Per se wird damit Idee der Revolution in ihrem Vollzug aufgehoben. Insofern frisst die Revolution nicht nur ihre Protagonisten, sondern läuft als autokannibalischer Vorgang ab, was Leo Trotzki motiviert haben könnte, „den permanenten Charakter der Weltrevolution“ einzufordern. Denn der schlimmste Verlust für den Revolutionär ist das Ende der Revolution, was den Freiheitskampf dann in die „Despotie der Freiheit“ (Maximilien Robespierre) überführt.  

Die Präzision der Unterscheidung kann insoweit bezweifelt werden, als Aufstände, Rebellionen und Revolten sich a posteriori als Initiation einer Revolution erweisen können. Revolten welcher Qualität auch immer setzen objektive gesellschaftliche und ökonomische Umstände voraus, von denen – der längst nicht gefestigten Theorie nach - allenfalls einige bekannt sind. „Revolution ist machbar, Herr Nachbar.“ Von wegen. Für Hannah Arendt stellt sich das eher anders herum dar, dass nämlich Revolutionäre dann zur Stelle sind, wenn das System angeschlagen ist oder zusammenbricht. Dem folgt das „unsichtbare Komitee“, wenn es heißt, dass man sich auf die Zusammenbrüche vorbereiten muss. Wäre es so und wenig spricht dagegen, wäre die selbstgefällige Befreiungsideologie von Revolutionären eine Verwechslung von Ursachen und Wirkungen. Jede fehlgeschlagene Revolte – und das ist, wenn es nicht zur Revolution kommt, ihr wahrscheinliches Schicksal – wäre eine seismische Schwäche, die Verhältnisse und Energieformen der Macht nicht richtig zu spüren. Ein Mann wie Andreas Baader war deswegen als Revolutionär ein Versager, weil sich in seiner fantasmatischen Konstruktion jederzeit narzisstisch aufgeladene Wünsche über politische Wahrnehmungsmöglichkeiten hinwegsetzten. Langsam erkennen wir: Revolutionäre sind weniger Menschen der Tat, als die sie erscheinen (wollen). Die politische Wahrnehmungsintensität ist ihre hervorstechende Eigenschaft, so wenig das von einer sinnstiftenden Geschichtsklitterung sauber zu unterscheiden ist. Das stürzt Revolutionäre in ein nicht geringes Dilemma: „In der Praxis muss der Mensch die Wahrheit, i.e. die Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens -  das von der Praxis isoliert ist - ist eine rein scholastische Frage.“ Dieser in der zweiten Feuerbach-These von Karl Marx formulierte Imperativ verkoppelt Handeln und Wahrheit unverbrüchlich, was nicht nur den Revolutionär zwingt, erst im Handeln zu erkennen, ob sein Handeln richtig ist. Das ist explosive Dialektik, während das Kristallkugelwissen der Weltrevolution im Übrigen so völlig undurchsichtig bleibt. Hier liegt der wahre Freiheitsgewinn für Revolutionäre, mit den Kontingenzen ihres Handelns umzugehen. Louis Antoine Léon de Saint Just brachte es am 5. Februar 1794 vor dem Nationalkonvent auf diesen Punkt: „Die Republik aufzubauen bedeutet die völlige Zerstörung dessen, das ihr entgegensteht.“ Viel Zeit blieb ihm nicht mehr, der radikalen Dialektik dieser Revolutionslehre zu folgen. Fünf Monate später wurde er selbst als Hindernis der patriotischen Republik auf der Guillotine zerstört. Immerhin hatte der Jurist auch dafür plädiert, dass die Friedhöfe überfüllt sein sollten, was eben das faschistische Ideal mit dem psychopathischen Persönlichkeitsprofil kurzschließt.  In einer apologetischen Biografie des eiskalten St. Just heißt es später: “Robespierre wusste ihn zu würdigen und zog ihn nicht aus persönlicher Zuneigung, sondern im Interesse der ganzen Menschheit an sich. Dies Gefühl entflammte und verband sie mit einander, bis zum Tod.“ Die Revolution frisst deshalb ihre Kinder wie Saturn, weil Revolutionäre „im Interesse der ganzen Menschheit“ operieren und St. Just selbst seinem Meister die übertriebene Erregung nicht nachsah. Weder Gott noch die Menschheit haben Freude an soviel revolutionärem Gemeinsinn, der eben just jene Kälte verbreitet, die also nicht nur als das Grundmedium der bürgerlichen Gesellschaft erscheint, das Theodor W. Adorno anprangerte.  

Wie Schriften dieser Art immer leidet die Flugschrift daran, die Absorptionskraft des Systems, in der so rigiden wie naiven Diktion der RAF: „Schweinesystem“, im fröhlichen Voluntarismus und düster skizzierten Menetekel nicht weiter bemühen zu müssen. „I Am What I Am“ ist zwar ein elendiger, zu Rest kritisierter Dumpfspruch der Werbung für Reebok, der auf das System und seine Ideologie zurückfällt, aber dahinter stehen erheblich elastischere und intrikatere Strukturen gesellschaftlicher Befried(i)gung, als sie Aufständische ertragen können. Louis-Auguste Blanqui, ein Gewährsmann des unsichtbaren Komitees, schrieb in seiner nationalökonomischen Betrachtung des Luxus: „Sire Kapital ist eine Macht ohne Gegengewicht, keine Gewalt ist ihm ein Hindernis.“ Und kein Geringerer als Frantz Fanon („Die Verdammten dieser Erde“), der sich gegen den Humanismus seines Lehrmeisters Jean-Paul Sartres richtete, traf sich in seiner revolutionären Selbstbeschreibung punktgenau mit der Reebok-Werbung: „Ich bin keine Potentialität von irgendetwas, ich bin voll und ganz das, was ich bin. Ich brauche das Universelle nicht zu suchen.“ Das löst das revolutionäre Double-bind nicht auf, einerseits gemäß der Deutschen Ideologie ein „wirkliches Individuum“ zu sein, andererseits eine politische Subjektivität zu konstituieren, die notwendige Solidarisierungsressourcen bereithält, die nicht im eigenen Vorgarten enden. 

Die Prämisse der Ausweglosigkeit der Gegenwart und dass alles nur noch schlimmer werden könne, ist so abgenutzt, wie es der ewige Gebrauch dieses vorgeblichen Wissens nahe legt. Die „Verdammten dieser Erde“ stimmten dieses Leidmotiv mit mehr Plausibilität an. Die Flugschrift folgt dagegen einem fast pastörlichen „Alles wird schlechter-Dogma“, das durch das Globalisierungsparadigma dann in apokalyptische Farben getaucht werden soll. Oder wie sind solche kümmerlichen Erkenntnisse zu verstehen: „Innerhalb eines Jahrhunderts sind Freiheit, Demokratie und Zivilisation auf den Zustand von Hypothesen reduziert worden.“ Und vorher? Von welcher Freiheit, Demokratie und Zivilisation ist im Blick auf die Vorkriegsgesellschaft des ersten Weltkriegs die Rede, die nicht nur blutlüstern auf den Ernstfall hoffte, sondern auch unter den seinerzeit bestehenden Arbeits- und Produktionsbedingungen ohne größere Beweisnot als unerträglich bezeichnet werden muss. Gab es nach der Jahrhundertwende des 20.Jahrhunderts keine obrigkeitsstaatliche Schlagstockmoral? Wie waren die Partizipationschancen der arbeitenden Bevölkerung entlang der Hungergrenze beschaffen? Wie zivil war der Gaskrieg? Hier reiht sich das unsichtbare Komitee in die mit vielen Ressentiments beladene Tradition der Demokratiekritik ein, die seit Jahren ihr zweifelhaftes Comeback erlebt[4]. Ausgeblendet wird bei den Unsichtbaren wie anderen Parteigängern der Demokratiekritik, dass diese Herrschaftsform noch nie eine Vollgarantie einer immer gerechter austarierten Gesellschaft besaß. „Vielmehr stellt sie ein Prinzip dar, von dem wir immer wussten, dass es mit seinem Gegenteil verwoben ist und dass es unaufhörlich gegen dieses Gegenteil ankämpft.“ (Jacques Rancière) „Demokratische Anarchie „erinnert an die Abwesenheit eines letzen Grundes staatlicher Herrschaft“, was Jacques Rancière mit Niklas Luhmann verbindet, der wider jene idealistische Überhöhung eines umfassenden Gerechtigkeits- und Gleichheitsprinzips Demokratie in der „geteilten Spitze“ des Machtpols „Regierung/Opposition“ erkannte. „Im vergangenen Jahrhundert hat die Demokratie regelmäßig der Geburt des Faschismus vorgestanden, hat die Zivilisation nicht aufgehört die Arien Wagners oder Iron Maidens mit Vernichtung in Einklang zu bringen…“, erläutern die Unsichtbaren ihr eher schlichtes Verdikt gegen die Demokratie. Denn die heterogenen Momente der Gesellschaft werden nicht in einer prästabilierten Demokratie harmonisiert, die der Politik das Politische austreibt und „Egalität“ frei Haus liefert.     

Die Antiquiertheit der Aufständischen  

Aram Lintzel kritisierte die „Flugschrift“, weil sie die seit Jean-Jacques Rousseau überlieferten, sattsam bekannten und klischierten Unterscheidungen in das argumentative Zentrum stelle, hier die echten, nichtentfremdeten Aufständischen und dort die verlogenen Inszenierungen repräsentativer Demokratie. Zwar erscheint diese unerträglich strapazierte Formel der Selbst- und Fremdbeschreibung als revolutionäres Apriori, doch wird das von den Unsichtbaren kaum entfaltet. Den Kernvorwurf der Flugschrift bilden eher existenzielle Unerträglichkeiten, die Systemkollaps und revolutionäres Bewusstsein in dem vermeintlichen Wissen kurzschließen, dass der Preis des Systems für die Vielen zu hoch ist, um es noch länger zu ertragen. Wahrscheinlich, hoffentlich, unzweifelhaft? Gewiss, ginge es danach, hätte bereits nach dem ersten Atemzug der revoltierende Mensch der Schöpfung ein gnädiges Ende bereiten müssen. Der „Mensch in der Revolte“ (Albert Camus) ist lange vor der notwendigen Erfindungen des Klassenkampfs ein transgressives Thema, das metaphysische, fundamental gegen die Konstruktion der Wirklichkeit gerichtete, bis hin zu alltäglichen Revolten umfasst. Die metaphysische Revolte ist in jeder Revolte enthalten. Für Weisungsunterworfene gilt an der Aldi-Kasse genauso wie beim Pyramidenbau: „Wer sich nicht wehrt, der lebt verkehrt.“  

Im spekulativen Moment dieses Glaubens müssten die kommenden Aufständischen nicht nur aufgrund der historischen Vorerfahrungen unsicher werden, da die Banlieue-Aufstände von 2005 oder Griechenland 2008, nach dem Tod des Schülers Alexandros Grigoropoulos, längst nicht als Vorboten einer revolutionären Situation erscheinen, sondern als handfeste, aber temporäre Kritik an massiven Zumutungen des Systems. René Viénet bescheinigte dem Feuer des Mai 1968, dass es „nicht wieder verlöschen wird“, was zum suggestiven Standardreflex jeder Revolte gehört, wenigsten ein früher Fackelträger der großen Revolution zu sein. Denn allein die Methexis der Revolte an einer großen Revolutionsidee garantiert ihre höhere Autorität. Was diesen und anderen Revolutionären so schwer begreiflich ist, ist die Funktionsweise des Katastrophenmotors der Geschichte, der sich allen Systemen nur in dieser Weise zur Verfügung stellt. Was hier wie dort nicht „kapiert“ wird, ist die metaphysische Fehlschaltung der Freiheits-, Gerechtigkeits-, und vor allem Paradiesprospekte, die in jeder gesellschaftlichen Konstruktion mit einiger Prominenz auftauchen. Der wirkliche Feind der Revolution ist nicht der Kapitalismus oder irgendeine perfide Herrschaftsform, sondern die heimliche-unheimliche Vermutung, dass hinterher alles genauso sein wird wie bisher. Der Sehnsuchtsstoff reicht dann gerade mal für die Revolte, bis der Geruch der Kommunarden, die ewig alten Herrschaftsgelüste und alle anderen Schrecken der menschlichen Grundfassung eben die Penetranz besitzen, die Lust auf das Paradies mindestens ebenso zu verderben wie den fröhlichen Aufenthalt in der Hölle - was topologisch auf eins hinauslaufen könnte. Die also von den kommenden Aufständischen schreckenspathetisch unterbreitete Sieben-Kreis-Theorie der Hölle als Aufstiegsszenario weist dieselbe Schwäche auf wie das dantische, die Schrecken sind wie immer greifbar, das Paradies ist dagegen von blasser Blütenfarbe. Der siebte Kreis ist für die „Gewalttätigen“ reserviert, hier am Rande der inneren Hölle entscheidet sich dann vorgeblich der Kampf.  
       
Was bleibt von diesem kommenden Aufstand? Wir begegnen den Nachwehen des „Anti-Ödipus“, der „mille plateaux“ und ähnlichen ästhetisch-politischen Durchkreuzungsliteraturen, die euphorisch feiern, was die conditio humana nicht hergibt. Hier werden expressive Abgesänge auf tradierte soziale Strukturen angestimmt, als wäre die Ehe ein intaktes Sakrament, deren Solidität eben erst in Zweifel gezogen worden wäre. Die Auflösung der Geschlechterrollen, die da etwa nachgefeiert wird, ist müder Traditionsbestand der Postmoderne und alles andere als neuer revolutionärer Erregungsstoff. Hier feiert sich zugleich die Punk-Moral der achtziger Jahren: „…lernen, auf der Straße zu kämpfen, sich leere Häuser anzueignen, nicht zu arbeiten, sich wahnsinnig zu lieben und in den Geschäften zu klauen.“ Radikal ist anders. Eine wirkliche Radikalität wird sich nicht da vollziehen, wo die politische Theorie oder ihre Verfallsformen ihre alten Ansprüche im Schritt zur Sonne, zur Freiheit oder gar in wahnsinniger Liebe, die das Komitee prophezeit, einlösen wollen. „Wikileaks“ hat mehr Chaos und Aufklärung produziert, als sich Ostermarschierer, Ökobewegte oder Hausbesitzer in ihrem Aktionismus je erträumt hätten, was die WELT-online zum Ausruf veranlasst, Julian Assange sei der „Che Guevara im Internet“. Politische Bewegungen sind Netzbewegungen oder gar nicht! Das ist, wie es die „distributed denial-of-service attacks“ von „Anonymous“ belegen, reale Macht von unten. Von diesem Geist weiß der „kommende Aufstand“ wenig zu berichten. Der Informationsguerillero wird zum Protagonisten der direkten Konfrontation mit staatlicher oder gesellschaftlicher Macht, während die klassische pyrotechnische Abteilung selbst in ihrer eigenen Logik seit je das Legitimationsproblem hatte, ihr gemeingefährliches Spielzeug auf Sachen zu beschränken.    

Epilog  

Antonie de Rivarol, der schließlich selbst vor der gefräßigen Revolution fliehen musste, brachte es für alle Aufständischen, Revolutionäre und Kombattanten auf die Formel: „Die Politik erinnert an die Sphinx der Fabel: sie verschlingt alle, die ihre Rätsel nicht auflösen.“ Eines dieser Opfer war Guy Fawkes. Der König ließ ihn nach der Aufdeckung des geplanten Anschlags am 5. November 1605 foltern. Der Verschwörer gestand daraufhin die Tat und benannte seine Kumpane, die teilweise viehisch hingerichtet wurden. In der Schlussszene des Films „V for Vendetta“ gelingt dagegen endlich - nach 400 Jahren Wartezeit - der Anschlag. Das britische Parlament wird pulverisiert – kinematographisch. Gegenwärtig erscheinen die Akteure von „Anonymous“ oft mit den dem Comic „V wie Vendetta“ entlehnten Masken, die dem Gesicht des Gunpowder Plot-Konspirators Guy Fawkes nachgebildet sind. Offen bleibt, ob nun die virtuell-cineastische Variante oder der reale Rohrkrepierer die Rebellen in Zukunft bezeichnen wird. Die selbstgewählte ambivalente Kondition der Unsichtbarkeit birgt jedenfalls mehr höhere Ironie, als die Aufständischen wie alle ihre Vorfahren in ihrer jeweilig historisch notwendigen Mission für erträglich halten.      

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