6/19/2010

Zum Tod von José Saramago - ein Beitrag aus dem Archiv

José Saramago, Das Evangelium nach Jesus Christus (Rowohlt Verlag, Hamburg 1995, 19,90 DM ISBN 3-499-22306-6).

Das Neue Testament ist die einflussreichste Erzählung Europas. Unendlich oft reflektiert, myriadenfach abgebildet, Gegenstand religiöser Auseinandersetzungen, hat das neue Testament eine einzigartige Rezeptionsgeschichte. Der Nobelpreisträger Saramago entfaltet das biblische Panaroma neu, mit dem scheinbar halbernsten Anspruch, wirklich authentisch zu sein, d.h. aus der Perspektive des Menschensohns zu erzählen, wie die Menschen erlöst werden. In Saramagos Geschichte wird Jesus aber selbst als Suchender dargestellt, der seine göttliche Herkunft und Bestimmung erst im Laufe der Geschichte erfährt. Jesus ist Mensch, auch ihn verfolgen alltägliche Probleme. Familie, Beruf und Berufung werden zu breit angelegten Gegenständen der Erzählung. Ein menschlicher Jesus, wie wir ihn immer hinter den Evangelien vermutet haben, wird etwa in der Beziehung zu der Hure Maria von Magdala, besser bekannt als Maria Magdalena, gezeichnet. Die "high-lights" der evangelistischen Geschichten, mit denen wir imprägniert sind, drängen sich nicht nach vorne. Auch der Menschensohn handelt fehlsam, er hadert mit sich, mit seinem Schicksal, mit Gott. So läßt er etwa die Dämonen aus dem Besessenen in die Schweine fahren, einen Feigenbaum verdorren und den anschließenden Wiederbelebungsversuch des toten Baumes scheitern. Wunder gibt es immer wieder, aber diese Wunder finden nicht das Gefallen des Erzählers, der mit vorsichtiger Ironie des Heilands Erdenwallen begleitet. Dieser Jesus ist nicht weniger Mensch als Gottes Sohn und das erklärt die kirchlichen Proteste gegen Saramagos Werk, obwohl der bekannteste portugiesische Autor nach Pessoa nichts anderes macht, als die Identität von Mensch und Gott im Erlöser ernst zu nehmen. Saramagos authentische Apokryphe kann den Kanonikern, die den Mensch gegenüber dem Gott zurückdrängten, nur als Provokation erscheinen, aber der Autor gefällt sich nicht in leichtfertigen Blasphemien. Wären die vier Evangelien die offizielle Hofberichterstattung, so verlässt sich - in der Sprache der Journalisten - Saramago auf "wohl unterrichtete Kreise". Der Autor berichtet nicht aus der historischen Erzählerperspektive, wie der Titel vermuten lässt, sondern immer wieder wird aktualisiert, was ein historischer Evangelist nicht wissen kann - selbst tiefenpsychologische Bezüge eröffnet das "Evangelium nach Jesus Christus", weil die Wahrheit eben keine einfache Sache ist und sich erst in der Zeit entfaltet. Allein Gott ist die Zeit, er kennt Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen, ja mehr, für Gott sind alle Zeiten gleichzeitig. Der Evangelist Saramagos überführt seine Reportage der neutestamentarischen Geschehnisse nicht in die geglättete Welt der Heiligen und ihrer harmonischen Lebensgeschichten. Der Hl. Josef etwa ist alles andere als ein harmloser Statist des Krippenspiels, von dem wir eben nur wussten, dass er nicht Christus´ Vater ist. Er lädt Sünde auf sich, weil er früh vermutet, dass sein Erstgeborener ein Bankert sein könnte und Träume, ihn zu töten, verfolgen ihn. Josefs erfolgreicher Versuch, den Sohn vor der Exekution von Herodes´ Dekret zu retten, endet im Wissen um die Schuld, andere Unschuldige nicht gewarnt zu haben, egoistisch nur aus Sorge um den eigenen Sohn gehandelt zu haben. Schließlich kreuzigen ihn die Römer, ein Abgang, der einem dummen Zufall zu verdanken ist, weil sie in ihm einen Freischärler vermuten, er aber nur einen verletzten Nachbarn in Sicherheit bringen wollte. Auch Heilige können sich also nicht dem irrwitzigen Lauf der Welt entziehen. Selbst Gott kann in die Geschicke der Menschen nur bedingt eingreifen. Seine metaphysische Oberhoheit endet spätestens an den Einflussbereichen anderer Götter und Jesus ist sein Protagonist, der eine Gemeinde um sich scharen soll. Saramago spielt mit dem Verhältnis von göttlicher Vorhersehung und menschlichem Handeln, er läßt offen, wie weit menschliches Verständnis reicht, den Weltenlauf zu verstehen. Sein literarisches Verdienst ist es, eine Geschichte, die wir schon nicht mehr hörten, weil wir sie zu oft gehört hatten, wieder nachvollziehbarer zu machen. Jederzeit lässt er dabei seinen Gegenstand sprachlich funkeln, seine Sprache ist reich und präzise, lange parataktische Sentenzen fließen zu plastischen Szenen zusammen. Vielleicht ist ja das vorliegende Evangelium der Wahrheit näher als die kanonischen Texte, weil sich nicht in Harmonie auflöst, was immer offene Fragen bleiben. Jesus letzte Äußerung am Kreuz jedenfalls gibt Saramago anders wieder, als wir sie kannten. Auf Gott bezogen ruft Jesus aus: "Menschen, vergebt ihm, denn er weiß nicht, was er getan hat." - eine harsche Vaterkritik des Sohnes, der die unzähligen Märtyrer, Opfer der Kreuzzüge, Inquisitionen und anderer Katastrophen auf dem Siegeszug des Christentums nicht für legitimierbar hält. Sollte Christus doch der Rebell wider den Vater sein? Gibt es auch ein Schisma in der heiligen Dreifaltigkeit? Fazit ist, dass das neue Testament in Saramagos Überlieferung wirklich neu ist, eine alte Geschichte von ihrer historischen Patina befreit wird und wir uns fragen können: "Wie hältst du´s mit der Religion?"

Goedart Palm

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