5/21/2011

Zum erträglichen Elend der Philosophie

Über Michail Bachtins literarische
»Philosophie der Handlung«

Von Goedart Palm

Die neue Leichtfertigkeit des Handelns

Vielleicht hat André Gide in »Die Verliese des Vatikans« (1914) den »acte gratuit« erfunden. Eine spontane Tat, gerne gewalttätig, die das rational gesteuerte Vorgehen des aufgeklärten Zeitgenossen verhöhnt. In dem von Gide autorisierten Fall stößt Lafcadio einen Mitreisenden, den er nie zuvor gesehen hat, mit tödlichen Folgen aus dem fahrenden Zug. Die Surrealisten hatten ihre wahre Freude an diesem Motiv, passte es doch zum Traumschema assoziativ verkoppelter Handlungen und zugleich zur Wunderkiste der Bürgerschreck-Attitüden. Ein Amokläufer hat wenigsten noch ein dunkles, wenn auch schwer zu prognostizierendes Motiv seiner radikalen Handlung. Aber ein Akteur, der handelt, ohne überhaupt noch Wert auf das Motiv zu legen, warum er das tut, ist eine psychologische Konstruktion, die unheimlich bis unmöglich anmutet. Ist diese Handlungsfigur nicht selbst eine Provokation oder weitergehend eine Denkunmöglichkeit? Zumindest trifft der »acte gratuit« eine Schwäche unseres tradierten Handlungsmodells: Ständig handeln wir, ohne zu wissen, warum das geschieht. Unsere Entscheidungen sind neueren neuropsychologischen Erkenntnissen nach ohnehin schon getroffen, während wir glauben, unseren »freien Willen« in Gang setzen. Unser eigenes Handeln widerfährt uns oft genug wie das Schicksal selbst. In der Rekonstruktion des Handelns mögen post festum rationale und weniger rationale Momente aufscheinen. Doch die Sicherheit eines geplanten menschlichen Handelns, das nach vernünftiger Motivwahl und »buchhalterischer« Planung eine Handlung ausführt, hat mit den realen psychischen Abläufen wenig zu tun. Die Helden des »acte gratuit«, die gerne auch mal in »Wansthöhe« blind in die Menge schießen, wie es André Breton im zweiten surrealistischen Manifest dekretierte, sind zudem psychoanalytisch transparente Figuren nicht weniger als fiktive Charaktere im umfassendsten Sinne des Wortes. Denn Sigmund Freud hätte all den unheimlichen Figuren, angefangen mit Maldoror und den anderen Ungeheuern des fin de siècle nachgewiesen, aus welchen ödipalen Wutkellern sie entsprungen sind.

Kurz nachdem Lafcadio sich als Todesfalle für den Mitreisenden entpuppte, begann Michail M. Bachtin über die »Philosophie der Handlung« zu meditieren. Bachtin war Mitte Zwanzig und arbeitete sich am Neukantianismus Hermann Cohens, der Phänomenologie Edmund Husserls und der Lebensphilosophie ab. Zugleich begann die Zeit der großen (Ver)Führer, die geplant oder intuitiv - nach Gustave le Bons einschlägigen Rezepten - Massen agitierten und sich in ihren öffentlichen Auftritten als »Männer der Tat« inszenierten. Was beschreibt – für den Klappentext formuliert – Bachtins Handlungsphilosophie? Das ganze Leben in seiner Einzigartigkeit, Gedanken, Erlebnisse, Handlungen im engeren Sinne, formen sich zu einer komplexen Handlung. Erst die konkrete Geschichtlichkeit des je eigenen Handelns beantwortet die Frage, wie ich verantwortlich handele. Das theoretische Urteil ist für diese individuelle Tätigkeit nicht durchdringbar und daher als ethischer Grund menschlichen Handelns nicht ausreichend. Unschwer lässt sich hier das treibende Motiv der Poetiktheorie Harold Blooms wiederfinden, der jedem Dichter die Urangst attestiert, nur eine Kopie zu sein, verwechselbar mit einem Größeren zu sein. Von hier aus wird die »Kontingenz des Selbst« (Richard Rorty) für den Dichter zu einer existenziellen Angelegenheit. Das dichterische Ich reklamiert seine Besonderheit, präsentiert seine Idiosynkrasien, ja schafft sich erst in dieser Entfaltung eines Selbst, das inkommensurabel zu sein behauptet.

Betrachten wir vor diesem Hintergrund Bachtins Handlungsphilosophie in der Philosophiegeschichte begrifflicher Selbstdemontagen, so erscheint sie als zeitbedingter Versuch, das phänomenologisch unerträglich einzigartige Subjekt gegen das transzendentale Subjekt, gegen den Apriorismus in der Erkenntnistheorie, ja noch umfassender: gegen die identifikatorischen Zwänge des Allgemeinen durchzusetzen. Aber ist nicht die Philosophie der schlechteste Anwärter, über das Handeln zu reden, wenn doch gerade Philosophen verdächtig sind, handlungsarme Figuren zu sein? Wir beobachten hier einen Emanzipationsversuch des Besonderen, der in der Philosophie mit Friedrich Nietzsche und Søren Kierkegaard mächtig einsetzte, um ein dynamischeres Verhältnis zu seinem historisch allmächtigen Gegenüber, dem Allgemeinen, zu begründen.

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