2/19/2009

Suhrkamp zieht nach Berlin. Na und?

Vor dreißig, vierzig Jahren gab es nur Suhrkamp. Theorie hieß Suhrkamp. Benjamin, Adorno, Foucault, Derrida et alii. Wer auf „stw“ zugriff, hatte a priori Recht. Habermas und Luhmann präsentieren 1971 als inszenierten Diskurs „Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung?“ Viele Chefdenker bildeten die Suhrkamp-Kultur als eine hochstimulierte, diskursberauschte, aber nicht minder autoritäre Gelehrtenrepublik. Und Literaten vom Range Brechts oder Becketts waren in diesem Theorie-Universum „anschlussfähig“. Adornos „Ästhetische Theorie“ wäre ohne diese Autoren im „eigentlichen“ Sinne des Jargons nicht denkbar gewesen. Emphatische Theorie hieß, die Welt zu beherrschen. Dieser Gestus war eine ungeheuerliche Prätention, die nicht nur auf die Bescheidwisser oder uns Leser-Komplizen zurückzuführen gewesen wären. Es schien so, als wäre die Theorie nur auf die Spitze zu treiben und die Welt wäre nach ihrem metaphysischen Sturz und dem „perennierenden Grauen“ zwar nicht gerettet, aber doch in das einzige Verhältnis gebracht, das noch den Anspruch erheben konnte, das Ganze zu fassen. Suhrkamp vermittelte die Haltegurte für den katastrophischen Weltaufenthalt. Hier wurden die Fundamente geschaffen, eine intellektuelle Existenz mit einigem Anspruch auf Bedeutung zu führen, gleichsam eine Programmgarantie der eigenen Existenz. Suhrkamp war die Deckungsmasse für jeden Überlegenheitsanspruch. Das war die „Substanz“, von der Siegfried Unseld sprach. Seit 68 waren die intellektuellen Antagonismen zuvörderst eine Lektüre-Angelegenheit. Ein Autor wie Sloterdijk erschien selbst wie eine Funktion dieser Verlagskultur. Suhrkamp hieß hier wie in anderen, weniger gelungenen Fällen, sich einer zweiten, intellektuellen Sozialisation zu unterziehen. Was war schon Schulbildung oder eine klassische Universität, wenn das wahre intellektuelle Leben zwischen dunkelblauem Karton existierte und versprach, alles mit sich zu reißen, was uns nicht mehr lieb und teuer war. Hier wurden die mächtigsten Parolen und Stichwörter geliefert, die für eine Lebenszeit und mehr reichen sollten. Dieser Glaube ist dahin. Ist die Demontage dieser großformatigen, genialisch kapriziösen Kultur der Verlagspolitik der viel gescholtenen Witwe Unseld-Berkéwicz zu verdanken? Ist es ein weiterer Abgesang, dass das Verlagshaus nun von Frankfurt nach Berlin zieht? Für den Spiegel ist es jedenfalls der „verlegerische PR-Coup des Jahres“, von der Misere abzulenken und nunmehr über den Verlust für Frankfurt zu reden. Der Spiegel weiß, dass Frankfurt gar nicht schwach sei, erinnert gar an Hegel und andere Großartigkeiten der Stadt. Papperlapapp. Suhrkamps Schicksal ist das Schicksal der Theorie selbst. Theorie hat ihren Status als Zaubermittel der Welterschließung verloren. Witzige Köpfe wie Peter Sloterdijk werden zwar gelesen, sind aber längst von der Heiligsprechung entfernt, die seinerzeit aus Autoren Demiurgen machte. Adolf Muschg läuft gerade zu C.H. Beck nach München über. Nichts gegen Muschg, aber von der alten Garde, die das Theorieleben in Europa beherrschte, ist dessen Literatur weit entfernt. „Wir verlegen keine Bücher, wir verlegen Autoren.“ Welche Verlegenheitslösung nun immer gelten mag: Berlin oder Frankfurt, das ist nicht die Frage, sondern allein: Theorie oder Nichttheorie. Die Welt ist nicht mehr so theorieverliebt wie in den alten wilden Suhrkamp-Tagen. Die kleinen und großen Theorieherrscher erlebten ihre Enttäuschungen, als die hermetischen Mauern gegen die Zumutungen der Welt weniger solide waren als ihr Anspruch. Die Zeit der großen Theorie ist vergangen, ob nun in Frankfurt oder in Berlin. Deswegen ist es so müßig wie falsch, den Suhrkamp Verlag zu kritisieren, nur weil die Theorie als Weltbewältigungsweise so fragil geworden ist. Jene Großautoren, die immer mehr als Sprücheklopfer sein wollten, sind ohne Nachfolger geblieben. Was Suhrkamp heute an neuen Namen aufbietet, ist weit entfernt von dieser Geltung. Daran kann Suhrkamp wenig ändern, so selbstverständlich zuvor dieser Verlag das intellektuelle Leben der Republik zu bestimmen schien.

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